„WAS DENKEN DIE HERRSCHENDEN EIGENTLICH?“

Die Töpfchen, der Krieg, die Kunst – wie Westzeitungen über den Osten debattieren
aus telegraph 2/1999
von Ulrike Steglich

Ein Sommerabend vor meinem Stammcafé. Zwei Frauen und ein Mann meines Alters setzen sich neben mich und unterhalten sich. Was macht man mit dem angebrochenen Abend? „In der Brotfabrik gibt’s diesen abgefahrenen Film, den ein Amerikaner über die Ostler zu DDR-Zeiten gedreht hat.“ Es folgt die ausgiebige Erörterung, wo im unbekannten, aufregenden Osten sich die Brotfabrik befindet.

Ein abgefahrener Film, wo man Ostler in ihren grauesten Zeiten beobachten kann. Ich, der Ostler, höre diesen gleichaltrigen, neugierigen, entdeckungsfreudigen Westlern zu und schweige. Es nervt. Ich stelle mir vor, daß sie sich diesen Film ansehen werden wie einen Film über die 70er, der zwanzig Jahre später einfach lächerlich wirken muß. Der Unterschied ist, daß man bei letzterem über sich selbst lacht. Es lacht sich eben mit dem „wir“ anders als über „die“. Und ich überlege, ob ich mir gern einen Film über die blöden Banalitäten westdeutschen Alltags ansehen würde. Ich glaube nicht. Oder gibt es Ostler, die etwa die aus Bonn importierte Kneipe „Ständige Vertretung“ am Schiffbauerdamm aufsuchen würden mit dem Vorsatz „Komm, wir gehen Wessis gucken“?

Eine andere Episode: Der Besuch aus dem Westen war da. Genauer: aus dem Südwesten, aus Mainz. Onkel und Tante meines Freundes hatten einen kurzen Berlinbesuch gemacht. Wir trafen uns in einem Café am Kudamm. Dann fuhren wir in Richtung Ostteil der Stadt. Der Onkel, ein gut berenteter hessischer Bankdirektor, steuerte den Benz auf das Brandenburger Tor zu, als sich die Tante langsam vortastete: Ich sei doch aus dem Osten? Wie das denn nun sei, mit der PDS? Ich sah zu meinem Freund. Er starrte angestrengt nach vorne auf das Tor. Als wäre er auf sicherem Boden, wenn wir die magische Grenze passiert hätten. Ich erzählte irgendwas von Kommunalpolitik, die sowieso anders funktioniere. Pragmatischer eben. Die Tante guckte skeptisch. In meiner mir soeben zugewiesenen Rolle als Ost- und damit PDS-Expertin war ich offenbar nicht überzeugend. Warum auch. Schließlich war es mein Freund, ihr Neffe, gebürtiger Mainzer, der gerade euphorisch in die PDS eingetreten war, nachdem er einer Rede von Gysi gelauscht und ein Bier getrunken hatte. Ich sah nochmal zu meinem Freund. Hinter seiner Stirn morste es sichtbar: Lieber nicht. Ich verkniff mir, ihn zu outen. Das Brandenburger Tor war für die Durchfahrt gesperrt. Der Onkel umkurvte es und ärgerte sich ein bißchen über die Versagung dieses symbolischen, gesamtdeutschen, demokratischen Akts. Es war die beste Gelegenheit, das Thema zu wechseln.

Ich nahm es der Tante nicht übel. Immerhin hatte sie noch gefragt, nicht behauptet. Das ist schon ziemlich viel in Zeiten, wo mir im SPIEGEL, in der ZEIT oder in der taz West-Reporter erklären, wie ich, der Ostler, so bin und warum ich so bin. Der SPIEGEL-Reporter Matthias Matussek beispielsweise hatte bei seiner Zehn-Jahre-Einheitjubiläumsfahrt im Osten lauter Exemplare des häßlichen Deutschen ausfindig gemacht. Und um des Kontrastes willen auch einige Aufrechte: Wer in Bautzen gesessen hat, kann schließlich kein Schwein sein.

Vom Thema des grauen, duckmäuserischen und irgendwie uncoolen Ostlers möchten die Medien West nicht lassen. An gleich drei Debatten der letzten Zeit konnte man exemplarisch studieren, wie der Osten in den Medien reflektiert wird und welche Grundmuster sich dabei immer wiederholen. Da wäre zum ersten die

Debatte I: Die Kacktöpfe

Der Hannoveraner Kriminologe Christian Pfeiffer kam im Frühjahr diesen Jahres mit seinen Thesen zur Kindererziehung gerade recht, um den Blick einmal mehr auf – bah – „den Osten“ zu richten: Es folgte eine großangelegte Debatte über „Erziehung im Osten“.

Zeitgleich warteten SPIEGEL und taz mit Pfeiffer auf, der sich bemühte nachzuweisen, daß in DDR-Kinderkrippen und -gärten die Kinder kollektiv auf den Topf gezwungen wurden und deshalb in Brandenburg nun Glatzen auf Ausländer einprügeln. Im Berliner „Tagesspiegel“ erschien wenig später auf der prominenten Seite Drei ein langer Artikel von der Boulevard- und Feinkostexpertin des Tagesspiegels, Elisabeth Binder, über Westmütter, die nach Brandenburg gezogen waren. Sie sorgten sich um ihre Kinder, denn es gäbe in Brandenburg keine privaten Montessori- oder Waldorf-Alternativen zu den kommunalen Kitas und Schulen. Im Osten würden die Kinder „viel härter“ erzogen. Sollte es etwa als Besänftigung gemeint sein, daß Tage später auf der „Vermischtes“-Seite des Tagesspiegel eine Meldung zu einer Studie über Erziehungsmethoden in Osten und Westen erschien, die besagte, daß „Ost-Mütter strenger, aber liebevoller“ mit dem Nachwuchs umgingen, indem sie ihm „klarere Grenzen“ signalisierten? Und wie mißt man sowas wohl? Kategorien wie „Härte“ oder „Liebe“?

Die taz hatte unterdessen einen Artikel des ostdeutschen Psychothrapeuten Hans-Joachim Maaz bestellt. Maaz galt wohl als Identifikationsfigur, der die aufgebrachten Ostler beschwichtigen sollte. Prompt schämte er sich gegenüber Pfeiffer über die „peinlichen“ empörten Reaktionen seiner östlichen Mitbürger auf dessen Thesen. Es half ihm nichts: Matussek hatte Maaz ja schon im SPIEGEL als einen der häßlichen (Ost)Deutschen enttarnt.

Debatte II: Der Krieg

Der Kacktopfbrunnen begann langsam zu versiegen, da begann der Krieg gegen Serbien. Und prompt ging es in der taz wieder um „den Osten“. Eine Reporterin befragte einen Psychologen, warum denn eine starke Mehrheit der Ostler – anders als im Westen – gegen die Bomben auf Belgrad sei. Der Psychologe versuchte zu erklären. Die Reporterin hörte nicht zu. Sie insistierte, daß doch eigentlich das Gegenteil der Fall sein müsse. Wo die Ostler doch so militärisch erzogen worden seien. Man kennt das ja: Fahnenappelle, Wehrerziehung, GST. Auch die Pfeiffer-These sprach schließlich irgendwie dagegen: Nach Pfeiffer hätten die Ostler eben besonders kriegslüstern sein müssen. Als sich der Psychologe gegen Schluß des Interviews immer noch nicht gefügig zeigte, machte die Reporterin kurzen Prozeß: Der Osten pflege eben immer noch sein altes NATO-Feindbild aus der DDR. Basta.

Der 29jährige taz-Berufsschöngeistige Volker Weidermann zog aus, um zu erkunden, wie in der (ost- und west-)deutschen Provinz so über den Krieg geredet wird. Das Ergebnis, eine Serie, ließ vermuten, daß er sich die seiner Meinung nach unbedarftesten Kandidaten, die überhaupt zu greifen waren, ausgesucht hat. Die von vornherein feststehende Botschaft: Die Masse ist blöd. Darin steckte eine mehrfache Arroganz: Die Arroganz eines Menschen, der den Höhepunkt des Journalismus darin sieht, die Realitäten dem eigenen Weltbild entsprechend auszusortieren; die Arroganz des Hauptstadt-Urbaniten gegenüber „der Provinz“, aber auch die Arroganz des offenbar mit der Gnade des richtigen Geburtsortes Gesegneten: Die unbedarftesten Kommentare sind, glaubt man Weidermann, immer noch im Osten zu finden.

Die Krönung – zumindest für einen weniger hartgesottenen Freund – war dann die Berichterstattung über die Anti-Kriegs-Demonstration auf dem Gendarmenmarkt am 8. Mai, bei der immerhin über zehntausend Menschen im strömenden Regen ausgeharrt hatten. Die aus Frankfurt/Main nach Berlin importierte taz-Redakteurin Heide Platen schrieb auf der Titelseite einen Kommentar. Darin wurden dem Demonstrationszug aus dem Westen immerhin noch Differenzierungen und Argumente zugestanden, die es zu bedenken gäbe. Dem Zug aus dem Osten dagegen: Nichts. Nur Dumpfheit, ein diffuses
NATO-Feindbild und alte, graue Betonköpfe. An der Spitze der Demonstration, so die Reporterin, ein „durchnäßter Dackel“. Abfälliger dürfte die alternative taz wohl nie über eine Antikriegsbewegung berichtet haben.

Im Westen zumindest bedenkenswürdige Argumente, im Osten lediglich indiskutable Dumpfbeutel – das war die Botschaft nicht nur dieses Kommentars. Mein Freund warf ein paar Tage später zwei Kündigungssschreiben in den Briefkasten. Das erste richtete sich an die Grünen, deren Mitglied er bis zu diesem Zeitpunkt gewesen war. Es war die Reaktion auf ihren Sonderparteitag. Das zweite richtete sich an die Abo-Verwaltung der taz. Nicht wegen der Berichterstattung über den Krieg, sondern wegen der über den Osten. Es sei einfach unsinnig, so der Freund, sich ständig beschimpfen zu lassen und dafür auch noch Geld zu bezahlen. Rechnen Zeitungen eigentlich nicht mal damit, daß die Ostler sich in diesem Punkt ganz pragmatisch marktwirtschaftlich verhalten könnten – und es auch tun, wie die Abo-Kündigungen der „Berliner Zeitung“ zeigen?

Verstörend ist – auch bei den Debatten über den Krieg – auch ein seltsames Deja-vu-Gefühl. Ein Beispiel: Drei Ost-Frauen sitzen mit drei (durchaus intelligenten) West-Männern am Biertisch. Die Ost-Frauen sind gegen die Bombardements auf Belgrad, die West-Männer wiegen die Köpfe. Man wolle doch wohl nicht Milosevics Treiben im Kosovo gutheißen?

Bist du nicht für die Bomben auf Belgrad, bist du gegen die Kosovo-Albaner: Solche simplen Muster kenne ich vor allem aus DDR-Zeiten. Aus dem Wehrkundeunterricht, wo man Pazifisten mit dem berühmten Spruch „Zwei Männer springen aus dem Busch und wollen Ihre Freundin vergewaltigen. Was tun Sie?“ zur Räson bringen wollte. Wäre demnach die Antwort der NATO zu übersetzen mit: „Ich massakriere zunächst deren Omas“?

DebatteIII: DDR-Kunst in Weimar

Es waren wieder die Zeitungen, in denen jetzt ein weiterer Ost-West-Konflikt hochkochte: Der um die Ausstellung „Aufstieg und Fall der Moderne“ in Weimar, bei der in einer „Mehrzweck-Halle“ auch DDR-Kunst gezeigt wurde: Wahllos gehängt, dicht an dicht, vor einer grauen Plasteplane. Künstler forderten ihre Bilder zurück, und selbst FAZ und ZEIT kamen nicht umhin, den miesen Stil der Präsentation zu rügen. Nun entspann sich ein klassischer Ost-West-Wortwechsel. Ein Auszug: „Wir liegen ohnehin am Boden, und dann kommt einer und trampelt noch auf uns herum. Wann hört in diesem Land das Denunzieren auf?“, so der Ostberliner Maler Hans Vent. Der verantwortliche Kurator Achim Preiß (West): „Die Arbeiten sind nun einmal der Öffentlichkeit preisgegeben worden. … Es liegt, finde ich, gar nicht im Interesse der Künstler, ihnen Zensurmaßnahmen zu erlau
ben.“ Der Wuppertaler Kunstprofessor Bazon Brock: „Was denken sich die Herrschaften eigentlich? Sie kommen in den Westen, sie schließen sich an, sie wandern zur D-Mark, um hinterher zu behaupten, jetzt gelten aber andere Spielregeln, nämlich die der guten alten DDR.“

Man kann davon ausgehen, daß Brock damit einer nicht unbeträchtlichen Anzahl von Altbundesbürgern aus der Seele gesprochen hat. Möglicherweise läßt sich die Motivation für die Ost-Kampagnen schon auf diese beiden offenherzigen Sätze reduzieren. Widerrede? Offenbar zwecklos.

Welche Gründe hatdiese geballte veröffentlichte Ladung von Ressentiments?

Woher kommt es, daß selbst der Krieg ein neuerlicher Anlaß war, West-Publizisten „die Ostler“ über sich selbst belehren zu lassen? Woher diese – in Krisenzeiten offenbar wachsende – Sucht, „das Andere“ zu analysieren, zu interpretieren, ihnen ohne genauere Nachfragen einfach etwas zu unterstellen und anschließend „die Anderen“ mit diesen fundamentalen vorurteilsgetränkten „Erkenntnissen“ zu beglücken? Welche Gründe hat diese geballte veröffentlichte Ladung von Ressentiments? Die erste Rechtfertigung heißt üblicherweise, man wolle „Debatten anregen“. Aber glaubt ernsthaft jemand, mit dem notorischen Niedermachen des Gegenübers diesen zur Diskussion, zur Reflexion anregen zu können? Sind zivilisierte Menschen tatsächlich überzeugt, mit dem Eröffnungssatz „Du bist unreif, undemokratisch und ein potentieller Totschläger“ jemanden zum „Dialog“ zu animieren? Ist nicht von vornherein klar, daß damit bestenfalls ein schwarzpädagogischer Monolog inszeniert werden kann? Irgendwie muß das Christian Pfeiffer auch gedämmert haben – nur, daß er die Konsequenz dieser Ahnung nicht ziehen konnte oder wollte. Pfeiffer zeigte sich auf seiner Töpfchen-Tournee befremdet über die „massive emotionale Ablehnung“ seiner Thesen im Osten. „Der breite Diskurs“, so Pfeiffer, „der zu diesem Thema seit Jahren im Westen geführt wird, ist offenbar an der Bevölkerung der neuen Länder fast spurlos vorübergegangen – als hätten westdeutsche Anthropologen über ein fremdes Volk geforscht und darüber dann intern diskutiert.“ Nicht „hätten“, Pfeiffer – sie haben.

Aufschlußreich ist an diesen Debatten immer wieder der Gebrauch des Wortes „Kollektiv“, das im Westen offenbar durchweg als Schimpfwort gebraucht wird: Kollektiv = Gleichmacherei = Uniformzwang. Deshalb ist der Ostler grau und duckmäuserisch – im Gegensatz zum Primat des „freien Individuums“ im Westen. Dieses unbedingte Primat in seiner realen Existenz und als höchsten Wert auch nur in Zweifel zu ziehen, muß für den Westen die Provokation überhaupt sein – weshalb er flugs zur medialen Keule greift. Sollte jemals ein Psychoanalytiker „den Westen“ kollektiv auf der Couch plazieren, käme womöglich heraus, daß die Übersetzung des Wortes „Kollektiv“ zum Beispiel mit „Gemeinschaft“ einen Westler zu sehr an die schmerzhafte Seite des individuellen Überlebens- und Behauptungskampfes erinnern könnte – sozusagen den Verlust konkurrenzunbelasteter Gemeinschaft als persönlicher Kollateralschaden -, weshalb er eine solche Übersetzung meidet.

Aufschlußreich ist weiterhin der autoritäre Ton, in dem viele der Beiträge ihre Vermutungen vortragen: Dem Ostler wird die DDR vorgehalten wie einem ungezogenen Kind die zerbrochene Vase. Kann man das ernst nehmen? In der Sache nicht. In der Folge muß man es – leider. Es verdeutlicht die unter
schiedlichen Einstufungen, die vorgenommen werden: Hier der gereifte, demokratisierte, zivilisierte Westen. Dort der unmündige Osten, der noch eine ganze Menge mehr nachzuholen habe als nur Demokratieverständnis (laut Jutta Limbach).

Unsicherheit alsm ögliche Erklärung

Ein anderer Freund, taz-Redakteur (und Westler), versuchte, die Ost-Berichterstattung der taz-Westler mit dem Begriff „Unsicherheit“ zu erklären. Er meinte die Unsicherheit vieler taz-Autoren gegenüber der eigenen Rolle. Unsicherheit könnte durchaus eine Erklärung sein: Die Debatte würde dann einer Selbstvergewisserung dienen, auf der moralisch unangreifbaren, erwachsenen, lehrerhaften, eben der „richtigen“ Seite zu sein – dies würde auch den autoritären Gestus erklären. Es wäre die Unsicherheit besonders einer grünen Mittelschicht über ihre veränderte Rolle, den Wechsel von der einstigen Oppositions- zur Regierungsbank, der stille und uneingestandene Abschied von früheren Idealen und Prinzipien. Muß es nicht verstören, nun, in Kriegszeiten, andere, ausgerechnet „Ostler“ oder „die PDS“ plötzlich auf solchen Prinzipien beharren zu sehen und sich damit unangenehm an die eigene Vergangenheit erinnert zu fühlen, wo man den Abschied davon gerade so elegant geschafft hatte?

Das wäre eine noch einfühlsame Interpretation – wenn nicht immerfort die Zweideutigkeit der Begriffe so ins Auge stechen würde. Versuche einmal ein Ostler, statt in den Töpfchen in der „Verunsicherung“ der Ostler einen Grund zu suchen für die Aggressivität zum Beispiel auf dem Land. Verunsicherung und unterschwellige Angst durch die fast vollständige Auswechselung von Gesetzen, Lebensbedingungen, Zeichen, Werten. Auch des eigenen Wertes. Kaum einer der West-Publizisten würde dies jemals gelten lassen: Die Töpfchen, das wenigstens räumen sie nach diversen Argumenten ein, können bestenfalls nur ein Prozent von hundert zu berücksichtigenden Faktoren darstellen. Aber es sei ja immerhin – eins zu hundert – bedenkenswert. Die Unsicherheit hingegen, so erfährt der Ostler, ist gar keine untersuchenswerte mögliche Ursache, sondern nur der billige Versuch einer „Entschuldigung“.

Rassismus?

Auch (noch wissenschaftlich zu untersuchende) Vermutungen sind also klassifiziert. Die Ursachenvermutung „Töpfchen“ ist demzufolge legitim, die Ursachenvermutung „Verunsicherung“ nicht, denn die zählt gleich unter illegitimer „Entschuldigung“ – man wolle wohl Brandenburger Totschläger damit zu Opfern stilisieren, lautet das nächste Totschlagargument. Nein, will „man“ nicht. Es ginge um notwendige Ursachenforschung – aber die ist offenbar soeben an Pfeiffer privatisiert worden.

„Verunsicherung“ gilt für Ostler nicht. Nicht als mögliche Erklärung für deren Rassismus. Für Westler aber sehr wohl, und zwar als Entschuldigung für deren Rassismus. Denn was anderes ist Rassismus, als nur noch nach Herkunft zu unterscheiden und ansonsten nicht mehr differenzieren zu wollen? Warum ist ständig von „dem Osten“ oder gerne auch von „den Serben“ die Rede? Würde sich der westdeutsche Autor XY etwa nicht dagegen wehren, ständig mit sämtlichen Dummköpfen und dem kriminellen Prozentsatz aller alten Bundesländer in einen Topf geworfen zu werden?

Rassismus gegenüber „dem Osten“: Ein starkes Stück. Ist das politisch korrekt? Muß man
nicht unterscheiden zwischen Ressentiment und Rassismus? Immerhin werden keine Ostler dafür erschlagen, daß sie Ostler sind. Fängt Rassismus da an, wo man andere umbringt? Gerade die taz hat mich eines anderen belehrt: Rassismus fängt klein an und drückt sich auch verbal aus. Wie soll man zum Beispiel die Äußerung eines Halbwüchsigen verstehen, der angesichts einer Auseinandersetzung eines Mannes mit zwei Security-Beamten sagt: „Das ist bestimmt ein Ossi“?

Die Alibi-Ostler

Es ist nicht so, daß ausschließlich Westler debattieren. Aber profunde, kluge und prominent plazierte Beiträge wie beispielsweise die der ostdeutschen Philosophin Kerstin Decker im „Tagesspiegel“ bleiben leider immer noch die Ausnahme – was nicht an einem Mangel an klugen Autoren liegen dürfte. Häufiger fällt dafür ein Häppchen-Journalismus auf, der hier und da – siehe die Meldung von der Studie über Ost- und Westmütter – Fairness signalisieren soll.

Dieses bröckchenhafte, geflissentliche Wir-wollen-doch-auch-mal-gerecht-sein-Gehabe macht aber erst recht deutlich, wie jämmerlich es um die mediale Gleichberechtigung bestellt ist. Seit Pfeiffer bot beispielsweise die ZEIT – vermutlich im Bemühen, nach journalistischem Ethos mal eben „auch die andere Seite“ zu hören – einen Ost-Autoren nach dem anderen auf, die erklären durften, wie es in ihrer Kindergartenzeit so war. Das muß man sich mal vorstellen: Erwachsene Menschen rechtfertigen in der ZEIT, wie sie im Osten als Kleinkind geschissen haben. Vermutlich glauben sie, damit etwas zur Ehrenrettung ihrer Biographie zu tun. Wäre je eine Zeitung auf die Idee gekommen, auch Westler zur analen Erinnerung zu rufen? Gern bedient man sich auch mancher Ost-Autoren (siehe Maaz), um damit die eigenen Thesen zu legitimieren. In der „Berliner Zeitung“ gipfelte das im Text eines ehemaligen DDR-Oppositionellen, der meinte, ein unterdrückter Nationalismus in der Ex-DDR sei schuld. Mit anderen Worten: Weil in der DDR der Nationalismus unterdrückt wurde, schlagen „die Ostler“ jetzt Ausländer tot und sind außerdem noch gegen den Krieg. Die These ist idiotisch – aber sie steht nun als ein Statement eben eines ganz „authentischen Ostlers“ und wird jedem Westler als Erklärung gereichen. Untersuchenswert wäre in diesem Zusammenhang übrigens auch die Form der Publikation – oder täuscht der Eindruck, daß die Beiträge der angestellten West-Autoren häufiger auf „normalen“ Zeitungsseiten stehen, während die Texte von Ostlern eher als (Gast)Beiträge auf den „Meinungs“- bzw. Debattenseiten landen?

Der Beitrag beispielsweise von Wolfgang Engler in der taz konnte dort offenbar nur ertragen werden, indem er auf der (taz)-Debattenseite erschien – und umgehend von zwei konträren Beiträgen kommentiert wurde.

Bemerkenswert ist auch, daß sich die Beiträge der Ostler dabei vor allem mit einem Thema beschäftigen: Mit dem Osten. Was auf den ersten Blick logisch erscheint, wird spätestens beim Versuch des Umkehrprinzips fragwürdig. Denn wenn Westler über den Osten schreiben – warum verhandeln dann nicht auch mal Ostler den Westen? Liegt es daran, daß das autoritär geprägte Verhältnis das gar nicht zuläßt?

Was ist die Folge?

Es sind weniger die unschmeichelhaften Attribute, die an all dem stören. Vielleicht soll man sich ja sogar geschmeichelt fühlen, wenn man so umpirscht wird wie vermintes Gelände. Was nervt, ist das Gefühl, wie ein exotisches Insekt an die Wand genagelt zu werden.

Wie kann ich mich ernsthaft auf eine Diskussion einlassen, deren Ergebnisse von vornherein festzustehen scheinen? Auf eine Diskussion mit Leuten, die über mein Leben diskutieren, ohne mich jemals nach meinen persönlichen Erfahrungen oder Sichten gefragt zu haben? Wie kann man überhaupt Totschlagsargumenten begegnen?

So kommt es, daß sich Ostler – vielleicht gerade Intellektuelle – zurückziehen, die Sinnlosigkeit ihrer Widerrede erkennen und sich diesem Monolog verweigern.

Immer wieder wird das belächelte Kollektiv Ost der individualisierten West-Gesellschaft gegenübergestellt. Und so ist es fast ein Einheits-Witz, daß ausgerechnet die Umstellung des Ostlers auf West-Bedingungen wiederum eine kollektive Ost-Erfahrung darstellt: Gerade die massiven medialen Attacken haben zur Folge, daß selbst die „Weltbürger der DDR“, die im engen Osten durchaus nach bzw. das Weite suchten, sich nun in erster Linie wieder als Ostler verteidigen müssen – und sich deshalb als Ostler fühlen.

Ulrike Steglich ist Freie Journalistin; sie war in der Vergangenheit u.a. bei der Berliner Stadtzeitung „Scheinschlag“ tätig. Lebt in Berlin.

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