aus telegraph 2/1999
von Matthias Bernt
1993 lernte ich in Riga einen Holländer kennen. Wir verbrachten einen feuchtfröhlichen Abend miteinander, der für meinen holländischen Trinkkumpan in einer großen Überraschung endete: Er stellte fest, daß ich aus der DDR stamme. Das war ihm eine Überraschung, die er „nie, niemals“ erwartet hätte. Denn so sähe ich ja gar nicht aus. Auf die Frage, wie er sich denn dann Ostler vorstelle, antwortete er unumwunden: „poor, uneducated and ugly fashioned“. Damals wunderte mich das nicht sehr. Ich wußte ja, von wem mein Holländer seine Meinung hatte und glaubte, daß sich solche Vorurteile mit der Zeit schon verflüchtigen würden.
Das Gegenteil ist eingetreten. Westdeutsche Stereotypen über Ostler kann man heute alle zwei Schritte lang treffen. Die gängigen Klischees haben sich dabei in den letzten Jahren nicht nur verfestigt, sondern sie treten auch offener und ungeschminkter auf:
Ostler sind demnach autoritär, gleichmacherisch, gemeinschaftsfixiert, ungebildet, herzlich und menschlich. Sie tragen Kordhütchen, Blauhemd oder Bomberjacke. Sagen ihre Meinung nicht und hatten kein 68. Ostler sind unkreative, arbeitslose Disziplinkrüppel, die in ihrer Freizeit Ausländer jagen. Ansonsten essen sie Bockwurst oder Eisbein und trinken Bier und Korn.
Gemeinsamer Nenner der westdeutschen Vorurteile scheint die Vorstellung eines „Modernitätsdefizites“ der Ostdeutschen zu sein – also die Auffassung, daß die ostdeutsche Bevölkerung bestimmte Entwicklungsstufen moderner Gesellschaften mental noch nicht durchlaufen habe. Jahrzehntelange kommunistische Indoktrination habe zu einer zurückgebliebenen geistigen Prägung geführt, die nach dem Fall der Mauer zum Hindernis für eine Angleichung an die Zivilität der Bundesrepublik wird und jetzt den sozialen Umbau bremst. Daß es im Osten so schlimm aussieht, ist in dieser Sichtweise zum Großteil die Schuld der Ostler selbst, die einfach noch „die Mauer in den Köpfen“ haben. 1
Hinter diesen Vorwürfen steckt die Vorstellung eines dominanten, linearen Modernisierungsmodells, das zwangsläufig ein Set von Wertorientierungen und -strukturen, die für das Leben in modernen Gesellschaften notwendig sind, mit sich bringt. Gesellschaftliche Modernisierung hat nach dieser Ansicht ihr Pendant in den Köpfen und äußert sich in einem Fortschrittsdenken, einem Wachstum an individuellen Optionen und von Freiheit im Sinn der Lösung von traditionellen Bindungen. Dieses Denken soll wiederum Charakterstrukturen bedingen, die eher auf hedonistische Selbstentfaltung (Leben genießen, seine Bedürfnisse durchdrücken) setzen und konventionelle Werte, wie Ordnung, Fleiß und Disziplin hintenan stellen.
I.
Gab es in der DDR einen dem Westen vergleichbaren Modernisierungsprozeß?
Eindeutig ja. Wie in allen fortgeschrittenen Industrieländern ist der Anteil der Beschäftigten im Agrarsektor auch in der DDR ständig gesunken, der Anteil der Beschäftigten im Industrie- und Dienstleistungssektor ist gestiegen. Damit einher ging ein rapider Prozeß der Urbanisierung. Auch das Bildungsniveau der Bevölkerung, der Altersdurchschnitt und die Frauenerwerbstätigkeit sind deutlich gestiegen. In allen Basisindikatoren ist nachzulesen, daß die Gesellschaft der DDR in den 40 Jahren ihrer Existenz einen Modernisierungsprozeß durchlaufen hat, der nahezu deckungsgleich mit dem westlicher Industrieländer ist. Selbst die Ausstattung mit Fernsehern und die Scheidungsquoten haben sich erstaunlich
parallel zu denen der BRD entwickelt.
Der Sozialismus hat also, gerade in den eher zurückgebliebenen östlichen Provinzen Deutschlands, einen Modernisierungsschub bewirkt. Die Verstädterung löste mit wachsendem Tempo Bevölkerungsmassen aus der Enge der ländlichen und kleinstädtischen Milieus heraus. Sozialstaatliche Absicherung, Ausbau des Gesundheitswesens und auf die Gleichberechtigung der Frau zielende Reformen (kein §218) machten Menschen sehr weitgehend unabhängig von sozialen und natürlichen Unglücksfällen und entlasteten sie von den sogenannten „Standardrisiken“ des Lebens. Die Bildungs- und Medienrevolution erweiterte den Horizont und verschaffte den Menschen einen weiteren Blick nach draußen. Befreit von diesen Zwängen begannen die Menschen auch ihre gesellschaftlichen Beziehungen freier zu gestalten (vgl. auch Interview mit Engler in dieser Nummer).
Die Vorstellung der gesellschaftlichen Zurückgebliebenheit Ostdeutschlands läßt sich also schnell widerlegen. Wachstum individueller Optionen, mehr persönliche Freiheit, Lösung von traditionellen Bindungen -das ist im Osten Deutschlands auch Resultat von 40 Jahren DDR.
II.
Was macht nun den Unterschied im Modernisierungsprozeß zwischen Ost- und Westdeutschland aus?
Im Osten führte die planwirtschaftlich-zentralistische Organisation der Gesellschaft dazu, daß die Schnittstelle zwischen Individuum und Gesellschaft anders gestaltet war.
In einer von Konkurrenzbeziehungen geprägten Marktwirtschaft und Parlamentsdemokratie ist eine individuelle Selbstentfaltung nahezu zwangsläufig, um im „freien Spiel der Kräfte“ überhaupt wahrnehmbar zu sein. Konkurrenz und Wettbewerb verlangen und fördern hier „Verschiedenheit“. In einer zynischen Weise ist darum in Westdeutschland in der Tat jeder seines Glückes Schmied, zumindest kann er niemanden für sein Unglück verantwortlich machen. Wer keinen Job hat, hat sich eben nicht richtig beworben. Oder er hat seine „Stärken“ nicht richtig herausgestellt oder seine „Chancen“ nicht richtig erkannt.
In der DDR war das offensichtlich nicht so. Staat, Wirtschaft und Gesellschaft wurden als Gesamtkörper betrachtet, der von einer Zentrale geleitet und gelenkt wurde. Die persönliche Nutzenmaximierung war damit in weiten Bereichen abhängig von den klugen oder dummen, aber auf jeden Fall kaum zu beeinflussenden, Entscheidungen dieser Zentrale. Da Verbesserungen und Verschlechterungen nur vom Staat zu erwarten waren, haben DDR-Bürger einen stark auf den Staat fixierten
Attributionsstil entwickelt. Der paradoxe Kern dieses Stils besteht in der widersprüchlichen Einheit von geringerem öffentlichen Engagement der Bürger und gleichzeitigen höheren Erwartungen an den Staat.
Das ist das mentale Ergebnis des historischen Kompromisses, den SED-Führung und DDR-Bevölkerung Anfang der 70er Jahre stillschweigend vereinbarten. Mit der Formulierung der „Hauptaufgabe“ und der „Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik“ verpflichtete sich damals die Partei zu einer ständigen Erhöhung des Lebensniveaus. Die Gegenleistung der Bevölkerung bestand im Ruhigbleiben, im Verzicht, individuelle Bedürfnisse in offener Konfrontation zu formulieren. Das Ergebnis war eine Kultur des „so tun, als ob“. Den Appellen der Obrigkeit wurde genügt, sie hatten als legitim zu gelten, solange sie nicht mehr als formale Einwilligung verlangen. Und umgekehrt verzichtete der Staat darauf, die Bürger in ihren Nischen zu behelligen und nahm die Formalität als Inhalt, solange seinen Plänen kein Schaden zugefügt wurde.
Veränderungen, sowohl von oben als auch von unten, konnten in dieser Kultur nur schrittweise bewirkt werden, indem sie langsam durch den Gesellschaftskörper filterten. Dementsprechend erwiesen sich Verhaltensweisen als vorteilhaft, die auf Gemeinschaftlichkeit, Beharrungsvermögen, Anpassungsfähigkeit an wechselnde Direktiven (aber gerade deswegen auch auf Ambivalenz) setzten. Offene und schrille Individualität jedoch war in einem solchen gesellschaftlichen Klima fehl am Platz.
Die Artikulation individueller Interessen und deren Ausfechten wurde damit in die Nischen subkultureller Milieus verlagert. Hier aber konnte jedes Engagement unter den Bedingungen eines repressiven Systems den Charakter von Systemopposition annehmen. Öffentlichkeitsscheu und geringe Partizipation, tief verankerte Dissidenz und hohe Ansprüche gegenüber dem Staat waren darum im Osten zwei Seiten derselben Medaille. Man hatte hohe Erwartungen an den Staat, ohne von ihm etwas zu halten. Ostler sind darum oft gleichzeitig autoritär und anarchistisch.
III.
Erstaunlicherweise hat der Anschluß der DDR diese Verhaltensweisen sogar noch verstärkt. Für das Transformationsprogramm der westdeutschen Eliten war die staatsfixierte Mentalität der Ostdeutschen ein Glücksfall. Denn 1990, als es darauf ankam, konnte sich die Mehrheit der ostdeutschen Bevölkerung gar nichts anderes vorstellen, als daß der neue Staat für die Behebung der Misere verantwortlich sei. Deshalb setzte sie seinem Zugriff auf die ostdeutsche Gesellschaft auch keinen Widerstand entgegen. Das gesellschaftliche Programm des Kapitalismus wurde dabei weder begrüßt, noch abgelehnt, sondern eher hingenommen. 2
Nach zehn Jahren ist dieser Legitimationskern im Schwinden begriffen. Die Erwartungen auf mehr Glück und Freiheit, die der neue Staat bringen sollte, wurden vielfach enttäuscht. Der Zuwachs an Wohlstand hat sich als geringer herausgestellt, als erwartet und die Kostenseite der neuen „Freiheit“ wird immer deutlicher. In einer Art Enttäuschungsspirale werden die Grundpfeiler der gesellschaftlichen Ordnung der Bundesrepublik heute von der Mehrzahl der Ostdeutschen zunehmend kritisch beäugt (ohne daß diese sich darum in die DDR zurückwünschen).3
Gleichzeitig befinden sich die Ostdeutschen heute vielfach wieder in einer paternalistischen Abhängigkeit, die der von früher in vielen Punkten ähnelt. Nachdem die ostdeutsche Gesellschaft im Herbst 1989 einen Ausbruch von individuellem, aber auf Veränderung der Gesellschaft gerichteten, Engagement erlebt hat, sind die Möglichkeiten dazu heute wieder auf ein Minimum zusammengeschrumpft. Die wirtschaftliche Abhängigkeit vom Westen, die Eigentumsstruktur, die Dominanz westdeutscher Eliten, die einseitig auf westdeutsche Meinungen ausgerichtete Öffentlichkeit etc.pp. lassen Ostlern kaum Raum zu aktiveren Einstellungen. Da „die Wessis sowieso machen, was sie wollen“, scheint es auch wenig Sinn zu machen, dagegen ankämpfen zu wollen. Die koloniale Situation führt wieder zu einem lähmenden Gefühl der Ohnmacht, das passiv forderndes Verhalten begünstigt.
Wie in den Spätzeiten der DDR verfestigt sich der Glaube, daß zwar alle Bescheid wissen, man aber sowieso nichts machen kann. Typische ostdeutsche Formeln dafür sind die Beschreibung als „Fremder im eigenen Land“ oder als „Bürger zweiter Klasse“. Man geht wieder in Distanz zum System, ohne es gleichzeitig aus seiner Verantwortung zu entlassen.
Wie in DDR-Zeiten delegieren Ostdeutsche ihre Ansprüche auf ein glückliches Leben an einen Staat, von dem sie nur wenig halten. Ihr Glaube, durch individuelles Engagement Wesentliches verändern zu können, ist wieder auf das Niveau der 70er Jahre geschrumpft. Auf eine paradoxe Weise lebt damit der Honecker-Kompromiß in den Ansprüchen der ostdeutschen Gesellschaft und in ihrer Perzeption von Zuständigkeiten von Staat und Individuum fort.
IV.
Mit ihren Ansprüchen treffen die Ostdeutschen aber auf eine Republik, die seit Beginn der 90er Jahre dabei ist, sich mit Volldampf von dem Modell eines fordistischen Wohlfahrtsstaates zu verabschieden.
Der Kapitalismus der alten BRD war schließlich davon getragen, daß er Produktivitätszuwächse in Zuwächse an Massenkaufkraft umsetzte und auf diese Weise auch die Arbeiterklasse an den Früchten der Akkumulation beteiligte. Hohe Produktivitätsfortschritte
machten andauernde Steigerung der Lohneinkommen und Massenwohlstand nicht nur mit der Rentabilität der Wirtschaft vereinbar, sondern wachsender Konsum bildete sogar ihre Grundlage. Der Konsum der Lohnabhängigen schuf permanent neue Absatzmärkte und Kapitalanlagemöglichkeiten und wurde zur Voraussetzung für die Reproduktion des Kapitals. In diesem Sinne war die BRD auch für den größten Teil der westdeutschen Bevölkerung das Traumland der „immerwährenden Prosperität“, indem die individuellen Existenzrisiken beträchtlich gesunken sind und der individuelle Wohlstand beträchtlich gestiegen ist. Im Westen „ließ es sich leben“.
Dieser „fordistische Klassenkompromiß“ ist seit den späten 70ern offen in die Krise geraten, spätestens seit der Wiedervereinigung ist der Abschied davon Regierungsprogramm. Neue, flexible Produktionssysteme, internationalisierte Finanzmärkte, aber auch die „konservative Revolution“ der 80 Jahre und der Zusammenbruch des Ostblocks haben die enge Verbindung zwischen Akkumulation, Massenkonsum und Sozialstaat gesprengt.4 Die Sozialstandards der „goldenen Jahre“ stehen wieder zur Disposition.
V.
Der Untergang dieser „rheinischen“, wohlfahrtsstaatlichen Idylle ruft auch im Westen tiefe Verunsicherung hervor. Die flexible Organisation des neuen, globalisierten Kapitalismus zwingt zu dauernder Infragestellung und macht Instabilität und Risiko normal. Das Abschmelzen der Sozialfonds tut sein Übriges, um die damit einher gehende Bedrohung materiell zu untermauern. Der Kapitalismus der 90er Jahre „desorientiert jedes Handeln, löst die Bindungen von Vertrauen und Verpflichtung und untergräbt die Selbstachtung“, wie R. Sennett in seinem Essay „Der flexible Mensch“ 5 zu Recht schreibt.
Die Bundesrepublik ist unübersichtlich geworden und zwingt ihre Bürger zur Hinnahme von Verunsicherung, zu neuen Risiken und Fragmentierungen. Diese neuen Anforderungen haben auch im Westen die Menschen tief verunsichert und rufen Verteidigungsreflexe hervor. Da Westdeutsche aber in stärkerem Maße zu individualistischen Orientierungen erzogen worden sind, ist es für sie schwer, das System, die Gesellschaft oder den Staat für ihr Glück verantwortlich zu machen. Aus diesem Grund können sie ihr Leiden nur entweder internalisieren (wer keinen Job hat, hat sich nicht richtig beworben oder seine Chancen nicht wahrgenommen) oder als Abreaktion nach draußen abwenden. Die westdeutsche individuelle Freiheit hat hier ihren Preis.
VI.
Dabei wäre schon die unerwartete Begegnung mit den Ostdeutschen selbst eine ungeheure Belastungsprobe für die westdeutschen Gesellschaft. Denn bis 1989 waren Neuankömmlinge – vorwiegend ausländische Arbeitsmigranten – in der BRD nur individuell der westdeutschen Gesellschaft beigetreten. Entweder paßten sie sich dabei im Zuge des sozialen Aufstiegs den Werten und Mentalitäten der Mehrheitsgesellschaft an oder sie bildeten kleine ethnische Inseln, in denen sie möglichst weitgehend ihre Herkunftsgesellschaften kopierten. Da die Möglichkeiten des sozialen Aufstiegs für die türkischen Dönerverkäufer und polnischen Putzfrauen auf jeden Fall begrenzt blieben, stellte auch die erfolgte massenhafte Migration das Selbstverständnis der westdeutschen Mehrheitsgesellschaft nie umfassend in Frage.
Die Integration der Ostdeutschen ist für die westdeutsche Gesellschaft eine unvergleichlich höhere Bürde. Denn der Beitritt von 16
Millionen Ostdeutschen erfolgte nicht nur auf einen Schlag, sondern die Ostdeutschen brachten noch dazu ihre Gesellschaft, ihre Kommunikationsstrukturen und Wertesysteme mit. Sie waren nicht mehr Einzelne, die ihr Herkunftsland für ein Mehr an individuellem Glück verlassen hatten, sondern sie hatten ihr Herkunftsland aufgelöst, sich kollektiv ihrem Nachbarn an den Hals gewählt und gleichzeitig ein Großteil ihrer Gesellschaft und ihrer Ansprüche beibehalten.
Damit wird die DDR posthum für die BRD zum „Integrationsbrocken“, der die Assimilationskapazitäten der westdeutschen Dominanzgesellschaft zu überfordern droht.
VII.
Das zeitliche Zusammenfallen des Untergangs des westdeutschen „Sozialstaats“ und des ostdeutschen Integrationsproblems legen es nahe, die Ursache für den Untergang der alten Bundesrepublik in den Ostdeutschen selbst zu suchen.
In dieser Verkopplung liegt die Grundlage für westdeutsche Ethnisierungsdiskurse gegenüber Ostdeutschen. Weil die Ursachen für die gesellschaftlichen Umwälzungen des neuen Kapitalismus naturalisiert werden, werden die Ostdeutschen in zunehmendem Maße für die Monströsität der neuen Bundesrepublik verantwortlich gemacht. Als ob es keine Abschiebeknäste gäbe, werden so z.B. ostdeutsche, glatzköpfige Jugendliche zum Synonym für den wachsenden Rassismus. Das ostdeutsche „Anspruchsdenken“ wird in der Öffentlichkeit zum Grund für das Schwinden der Sozialfonds. Ostdeutsche Wähler sind wechselweise schuld an Kohl, an Rot/Grün oder an der PDS. Und ostdeutsche Mieter sind für die „Notwendigkeit“ von Mieterhöhungen verantwortlich zu machen, weil sie ja ihre Häuser so haben verkommen lassen.
Indem die Schuld für den Zustand der Bundesrepublik zunehmend auf das Konto der Ostdeutschen übertragen wird, stilisieren sich Westdeutsche zunehmend zu Opfern der Entwicklung. Das erzeugt Aggressionen, die dazu einladen, ihr Objekt als prinzipiell andersartig zu definieren. Anders als 1990 sind auch Westdeutsche deshalb heute kaum noch der Meinung, daß die Ostdeutschen ihre „Brüder und Schwestern“ seien. In soziologischen Umfragen sprechen sie sich in wachsendem Maße die Eigenschaften zu, die sie den Ostdeutschen absprechen: Flexibilität, Selbstbewußtsein, Entschlossenheit.
Dabei werden die vorfindlichen Mentalitätsunterschiede zu Stereotypen verdichtet. Statt eine Auseinandersetzung mit den gesellschaftlichen Bedingungen für solche Werthaltungen zu suchen, werden sie immer weiter in das Erbe der DDR verschoben. Die Bilder vom Ostdeutschen wandeln sich dabei: von Ostdeutschen als Beleg für individuellen Mut und individuelle Schuld (Stasi vs. Bürgerrechtler) hin zu phänotypischen Merkmalen, die dem Ostler „an sich“ zugesprochen werden.
Die von einem Hannoveraner Kriminologen angezettelte und von der Journaille begeistert aufgegriffene „Kacktopfdebatte“ ist das beste Beispiel für diesen Ethnisierungsdiskurs: Wenn in der DDR alle Kinder kollektiv getopft wurden und wenn im kollektive nTopfen der Grund für die weitverbreitete Ausländerfeindlichkeit liegt, dann steckt in jedem Ostler ein potentieller Rassist. Damit sind Ostler – aufgrund ihrer frühkindlichen kollektiven Prägung – prinzipiell andersartig als Westdeutsche und gerade diese Andersartigkeit macht sie gefährlich. Da dieses Defizit auf Honeckers und Ulbrichts Zeiten zurückgeht, ist außerdem dem Westen jede Verantwortung für ostdeutsche Zustände abzusprechen. Aus diesem Grund sind die Ostler wieder allein verantwortlich, daß sie solche Zustände über
haupt zugelassen haben – womit die Argumentationskette von vorne beginnt.
Die Attraktivität solcher Argumentationsschemata ist es, daß sie so einfach funktionieren, wie eine Rolle Klopapier. Man zieht an einem Ende, die Argumentationskette rollt ab und im Ergebnis der Operation ist man wieder sauber.
VIII.
Damit sind westdeutsche Ethnisierungsdiskurse gegenüber Ostdeutschen aber nicht nur einfach ein Mißverständnis, das auf einem Mangel an Erfahrung beruht (der durch ein besseres Kennenlernen zu beheben wäre). Sie haben vielmehr für ihre Träger eine soziale Nützlichkeit. Denn sie ermöglichen es Westdeutschen, ihre neue Unsicherheit auch ohne die notwendig schmerzhafte Infragestellung ihrer Gesellschaft und der in ihr eingeübten Mentalitäten und Verhaltensweisen zu bewältigen.
Der eigentliche Knackpunkt liegt darum in der Tatsache begründet, daß die westdeutsche Gesellschaft nie ein ´89 hatte, in dem sie zu einer radikalen Selbst-Infragestellung gezwungen gewesen wäre – und daß sie sich deshalb nur als Opfer einer von außen aufgezwungenen Entwicklung begreifen kann. In dem nach-außen-Wenden westdeutscher Probleme liegt aber eine Dynamik begründet, die die Andersartigkeit des Ostdeutschen immer vom neuem bestätigen muß, um dem Grundargument neues Futter zu geben. Die Kluft zwischen Ost und West wird darum weiter wachsen und die Versuche, die eigene Misere in einem Ethnisierungsdiskurs nach außen zu projizieren, werden auf beiden Seiten zunehmen. Was wir jetzt erleben, ist erst der Anfang.
1 Mitunter, so. z.B. von Biedenkopf und Stolpe wird diese Vorstellung auch positiv gewendet, wenn Ostlern das „Bewahren alter Tugenden“, wie Disziplin und Gemeinschaftssinn bescheinigt wird.
2 Das zeigen Umfrageergebnisse immer wieder.
3 Dabei darf man sich nicht vom Wahlsieg der „Allianz für Deutschland“ täuschen lassen. Die Losungen mit denen damals die Wahl gewonnen wurde – „Ja, besser leben“ – haben
mehr mit dem Honecker-Kompromiß der „ständigen Steigerung des materiellen und kulturellen Lebensniveaus“, als mit „kapitalistischen“ Werten von individueller Freiheit, Wettbewerb und Unternehmertum zu tun.
4 Zur Krise des Fordismus s.a. Joachim Hirsch: Der nationale Wettbewerbsstaat, Berlin/ Amsterdam 1995
5 Richard Sennet: Der flexible Mensch. Die Kultur des neuen Kapitalismus, Berlin 1998
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