Ein Gespräch mit dem polnischen Syndikalisten Karol Golinski. Das Gespräch führte der Russe Igor Mangasejew am 12.09.95 in Warschau.
Nachdruck aus dem anarchosyndikalistischen Osteuropa-Blatt „A.-S.-Info“ ,
aus telegraph 2/3 1996
?: Karol, wir wissen wenig über den polnischen Anarchosyndikalismus.
K.G.: Die anarchistische Bewegung in Polen erlebt seit 1992 einen Rückgang. Vor allem wegen Finanzproblemen. Damals gaben wir eine große Zeitung (Nr. 7 von „Syndykalista“) heraus und vertrieben sie über die Kioske, bekamen den Erlös davon aber nicht zurück, so daß wir die Zeitung nicht weiter machen konnten. Die Zeitung hatte viel gebracht, sie hat einen ersten Impuls gegeben. 1990 entstand eine starke Bewegung gegen die Bourgeoisie, gegen Balcerowicz (Autor der polnischen „Schocktherapie“), gegen die polnische Form des Kapitalismus, der von außen durch westliche Gönner erzwungen wurde. Die polnischen Regierungen, die angeblich aus „Solidarnosc“ hervorgingen, begannen dem internationalen Kapital und der katholischen Kirche zu dienen. Dabei spielte die Kirche eine sehr negative Rolle, weil sie von Anfang an die Balcerowicz-Reformen unterstützte.
Syndikalistische Ideen populär
?: Wie ist der Stand der syndikalistischen Bewegung heute?
K.G.: Im diesem Jahr hat sich die ArbeiterInnenbewegung aktiviert. Die Leute zogen den Schluß, daß man der fortschreitender Verarmung, den Fabrikschließungen und dem Ausverkauf polnischer Reichtümer an Wucherer aus dem Westen ein Ende setzen muß. Die Leute gingen auf die Straße. Eine wichtige Rolle in Polen heute spielen die AktivistInnen der Gewerkschaftsvereinigung „Solidarnosc-80“ (eine Abspaltung von „Solidarnosc“). Sie sagenb zwar nicht, daß sie SyndikalistInnen sind, aber ihre Forderungen sind denen der AnarchosyndikalistInnen identisch. Unser syndikalistisches Programm „Solidarnosc-80“ ist praktisch das der anarchistischen Internationale. Dieses anarchosyndikalistische Programm hat ein Volkswirt ausgearbeitet, der „Solidarnosc-80“ berät. Der Vorsitzende des Verbandes ist Marian Jurczyk, der seinerzeit (1980) ein Abkommen im Namen der streikenden ArbeiterInnen in Szczecin unterschrieb. Man kann auch sagen, daß unsere Ideen von den „Freien Gewerkschaften“ übernommen worden sind.
Hauptsache auf die Straße gehen!
?: Sind das die Gewerkschaften, die nicht offiziell registriert sind?
K.G.: Nein, das ist eine Vereinigung von Leuten wie Anna Walentynowicz und Andrzej Gwiazda („Solidarnosc“-AktivistInnen der 1980-81 Streiks). Sie arbeiten in Gdansk, Gdynia und Sopot, wo sie enge Kontakte mit den AnarchistInnen haben*.
?: Habt Ihr internationale Kontakte? Irgendwelche Publikationen? Habt Ihr Beziehungen mit den AnarchistInnen aus Krakow um Marek Kurzyniec?
K.G.: Wir haben keine Publikationen. Ich gebe nichts heraus. In Krakow sind das eher TrotzkistInnen als AnarchistInnen. Und unsere internationalen Kontakte sind unregelmäßig.
Heute ist wichtig, daß die Leute kein Interesse mehr für die offizielle Politik aufbringen, daß sie an ihr nicht mehr teilnehmen. Die Politik ist eine Sache für die expansive Mittelschicht, für sie ist die Politik wie Wasser für den Fisch. Die ArbeiterInnen insgesamt vertrauen keinen politischen Führern mehr. All diese FührerInnen sind VertreterInnen der Nationalbourgeoisie und der Mittelschicht, die in Polen auf Kosten der ArbeiterInnenklasse geschaffen wird.
?: Was wollt Ihr tun?
K.G.: Am 5. November finden Präsidentschaftswahlen statt. Wichtig ist, daß die Leute nicht noch einmal nachgeben, sondern konsequent streiken, und zwar permanent, ununterbrochen. Hauptsache ist aber, daß die Leute auf die Straße gehen, schon in diesem Jahr. Mit ökonomischen und ähnlichen Streiks allein ist das Problem nicht zu lösen. Es ist unbedingt notwendig, daß die Leute auf die Straße gehen, wie es in diesem Jahr war. Leider versuchen die korrupten Führer von „Solidarnosc“ diese Laufburschen der Kirche das mit Hilfe der Kirche zu verhindern. Die (ex-„kommunistischen“) Behörden und „Solidarnosc“ trafen diese Abmachung unter Vermittlung der Kirche.
Basisgewerkschaft kampfkräftiger
Außer dieser Aufgabe der Organisation der Straßenproteste hat die Gewerkschaft die Aufgabe der internen Demokratisierung, um ihre Arbeit effektiv zu machen. Weder kann noch darf ein einziger Vorsitzender alles machen, und die Menschen nichts! Man muß „Solidarnosc“ dezentralisieren, denn sonst gelingt es den Menschen trotz aller Verzweifelung nicht, die Sache bis zum Ende zu führen und diesen Straßenkampf zu gewinnen. Das zeigten die Erfahrungen diesen Jahres. In diesem Jahr war die ArbeiterInnenrevolution nahe. (1995 fanden Massenmanifestationen der ArbeiterInnen statt. Als Anlaß diente eine erneute Steigerung der Energiepreise ohne Kompensation für die ArbeiterInnen und RentnerInnen.)
Es gelang uns, die besten Betriebe des Landes vor der Schließung zu retten. Vor allem die, die für den Export produzieren. Diese Betriebe sind weltbekannt. Wirtschaftlich überlebt das Land nur noch dank diesen Betrieben wie „Ursus“ (Traktorenfabrik) und „Diora“ (Audio- und Videotechnik).
Die Dezentralisierung der Gewerkschaften muß durch eine Kontrolle ihrer Führer, Leiter und Vorsitzenden stattfinden. Die Demokratie muß von unten beginnen. Oben gibt es keine Demokratie, dort wirken nur die dunklen „Schatteninteressen“. Der, der oben steht, trifft Abmachungen mit den Machthabern; so wird jede Protestbewegung beerdigt.
?: Wie alt bist Du, Karol? Wo arbeitest Du?
K.G.: Ich bin 22 Jahre alt. Ich bin Arbeiter. Früher arbeitete ich in der „Warynski“-Fabrik, das war ein großes Kombinat. Heute ist es in die „Spulki“ (GmbH) zerteilt. Unsere Filiale geriet unter die Leitung der „Spulki“.
?: Ist es so eine Art Genossenschaft?
K.G.: Nein, die „Spulki“ wurden gegründet, um jede ArbeiterInnenbewegung in unserer Fabrik zu vernichten. Damit die Leute kein Sagen haben, damit mehr Bürokratie entsteht. Meine Fabrikfiliale ging pleite, weil jeder Arbeiter drei Bürokraten unterhalten mußte. Jetzt befinden sich die Leute in einer schweren Lage; sie müssen illegal arbeiten, um ihre Familien zu ernähren. Ich arbeite jetzt als Schweißer, privat. Ich bin verheiratet, mein Kind ist 6 Monate alt.
?: Was ist Deinem Gesicht passiert?
K.G.: Nichts. Die Nase hat einfach ein bißchen was abgekriegt während der Zusammenstöße mit den Bullen.
?: Warst Du bei der Armee? Oder bist Du aus Prinzip nicht hingegangen?
K.G.: Ich habe mir so eine medizinische Befreiung von der Armee arrangiert. Ich wollte natürlich nicht zum Militär.
?: Na klar, bei uns in Rußland machen viele so? Karol, willst Du Beziehungen zur Internationalen ArbeiterInnen-Assoziation herstellen?
K.G.: Ein Erfahrungsaustausch wäre für uns nützlich.
Die Adresse von Karol Golinski und Gruppe ist über die Redaktion erhältlich.
* von „engen“ Kontakten war im September 1994 keine Spur: Zwei Mitglieder der FAU-IAA wollten sich mit dem besagten Andrzej Gwiazda in Gdansk treffen. Bereits am Vortag hatten wir einen Termin mit ihm vereinbart, aber er wimmelte uns auf dämlichste ab, indem er so tat, als wäre er nicht zu Hause, obwohl das Telefon ständig besetzt war. Tatsächlich hat Gwiazda eine Weile mit den AnarchistInnen zusammengearbeitet, entschied sich aber später, aufs Karussell der großen Politik zu steigen. So nahm er an den Präsidentschaftswahlen (1994?) teil und scheiterte kläglich. Gdansker Anarchos meinten, er hätte den Termin mit uns platzen lassen, weil er Schiß hätte, ein Treffen mit ausländischen AnarchosyndikalistInnen könnte benutzt werden, um ihn zu „diskreditieren“.
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