„Wir haben gemerkt, wieviele wir sind“

Der Castor fuhr. Dennoch: Die Aktionswochen haben den Umweltfreunden an der Küste Mut gemacht. Nachdruck aus der Umwelt- Zeitschrift des Kirchlichen Forschungsheim Wittenberg ”BRIEFE”*

aus telegraph 2/3 1996
von Thomas Jeutner

 

„Osteuropa – Müllkippe des Westens“ – so stand es am 20. Februar auf einem Transparent slowakischer Umweltschützer. Sie hatten in Schutzanzügen und Gasmasken an der Bahnstation Nove Zamky gegen einen Atomtransport protestiert, der in Deutschland seit Wochen Schlagzeilen machte. Es gehört zu den Schattenseiten der Medienöffentlichkeit, daß die slowakischen und ungarischen Proteste nicht einmal wahrgenommen wurden.

Es war der Tag des Castortransportes, der von Lubmin am Greifswalder Bodden über Eberswalde, Frankfurt, Cottbus, Dresden und Bratislava nach Paks führte, 100 Kilometer südlich von Budapest. Dieser Transit von 235 radioaktiven Brennelementen (Verkaufswert: eine symbolische Mark) spart dem Atomkraftwerk Paks den Neukauf von Uran, der ihm umgerechnet 30 – 40 Millionen Mark kosten würde. Den gleichen Betrag spart die Energiewerke Nord GmbH in Lubmin für die Entsorgung vor Ort. Die ganze Geschichte – offiziell als „europäische Bruderhilfe“ propagiert – reduziert sich auf einen Deal der beteiligten Firmen (auch die Tschechische Staatsbahn kassierte: 53.000 Mark Transitgebühr).

Daß einige Umweltgruppen den Transit zwar nicht verhindern konnten, dennoch aber kritisiert und blockiert haben, hat die Atombetreiber bitter gekränkt. Bis heute stehen die Anfragen unbeantwortet im Raum, sagte Dr. Helmut Hirsch, GREENPEACE- Atomexperte und Koordinator der drei Lubminer Blockaden, Ende Februar im Gespräch mit den BRIEFEN in Hamburg. Die geplante Entsorgung des Lubminer Urans (es hat in den Paks-Reaktoren drei Jahre Brennzeit) in der russischen Anlage RT-1 in Majak/Ural wurde nicht widerlegt. Majak ist Teil eines Militärkomplexes zur Plutoniumgewinnung. Seine Umgebung ist eine der am schwersten radioaktiv verseuchten Regionen der Welt.

Am auffälligsten sei jedoch, so Hirsch, daß nicht einmal den von GREENPEACE veröffentlichten Sicherheitsmängeln widersprochen wurde, die sich auf Paks selbst beziehen: Ende 1994 hat das ungarische Kernforschungszentrum (HSKI) eine Risikostudie vorgelegt, die der Anlage in Paks eine „hohe Unfallwahrscheinlichkeit“ zuspricht.

Die Studie verlange ein Trainingszentrum, um die Belegschaft besser auszubilden, die auf Unfallszenarien vorbereitet sein muß. Dringend hätte nachgerüstet werden müssen, entsprechende EU- Gelder seien jedoch nicht angekommen. Probleme bei der Reaktorkontrolle eines der vier Paks-Blöcke konnten seit November 1995 immer noch nicht behoben werden. Einmütig wird auch von deutschen Atomfirmen bezeugt, daß Paks in Deutschland aus Sicherheitsgründen vom Netz gehen müßte – wie die baugleichen Meiler von Lubmin.

Dies alles bekam Hirsch erst am 15. Februar von Laszlo Moroty bestätigt – einem Vorstandsmitglied der Paks- Betreibergesellschaft. Das Gespräch Hirsch-Moroty hatte das ungarische Fernsehen arrangiert und live gesendet. Drei Tage später rollte der Castor. Dennoch: Als größten Erfolg bezeichnet Hirsch im BRIEFE-Gespräch die Reaktion der ungarischen Öffentlichkeit: Erstmals habe die Bevölkerung erfahren, daß es offenbar Probleme gebe, von denen die Atombetreiber nie etwas gesagt haben.

Für die Greifswalder Anti-Atom- und Umweltgruppen ist nach vielen Wochen voller Aktionen (vor dem Atomkraftwerk, ringsum auf den Dörfern und in Greifswald) der „Alltag“ wiedergekehrt. Viele bereiten Veranstaltungen vor zum Gedenken an den Reaktorunfall von Tschernobyl – er jährt sich am 26. April zum 10. Mal.

Die 1989 entstandene Bürgerinitiative Kernenergie (BI) hat kurz vor Weihnachten in wenigen Wochen rund 15 000 Unterschriften für eine öffentliche Anhörung gesammelt. Diese befaßt sich mit dem fast fertiggestellten „Zwischenlager Nord für atomare Abfälle“ (ZLN), das sechzehnmal größer als Gorleben ist. Die Anhörung, die für April geplant ist, muß gut vorbereitet werden, wenn sie Erfolg haben soll.

Mitglieder der Initiative und Anwohner des Kraftwerkes haben zudem seit eineinhalb Jahren Klage gegen mehrere Detailgenehmigungen des ZLN eingereicht. Der Grund: atomrechtliche Genehmigungen fehlen bislang ebenso wie eine Umweltverträglichkeitsprüfung. Es bestehen zudem begründete Befürchtungen, daß hier nicht nur Atommüll aus Rheinsberg und Lubmin eingelagert wird, sondern auch aus anderen Atomanlagen Europas.

Im Februar verlangte die Klägergemeinschaft schließlich Baustopp vor Gericht. Dennoch wird weitergebaut. Wie der Prozeß ausgeht, ist ungewiß. Inzwischen müssen jedoch die Anwaltskosten überwiesen werden – bisher mehrere tausend Mark. Das Geld immer wieder zu beschaffen, ist nicht leicht für die Initiative, die nur aus einem Dutzend Engagierter besteht.

Eine zweite Anti-Atom-Initiative, die 1995 gegründete Bürgergruppe „Maikäfer flieg“, hat sich vor allem die Aufklärung der Bevölkerung über das Strahlenrisiko in der Region Vorpommern zum Ziel gesetzt. Die Auswertung des jetzt als Buch erschienenen DDR-Krebsregisters wird ebenso versucht wie Befragungen in den Dörfern, etwa nach Leukämiefällen.

Reinhold Garbe, Superintendent des Kirchenkreises Greifswald-Land, versucht seit Jahren mit den Menschen in seinem und den anderen Dörfern um Lubmin in persönlichen Gesprächen über die Gefahren des nahen Atomkraftwerks zu reden. Er zeigte Videos in seinem Pfarrhaus – die Resonanz jedoch war gering. Die meisten Leute seien über Risiken der Kernenergie nicht sehr informiert, und sie wollten es auch nicht sein, bedauert Garbe. Viele haben noch Arbeit im Kraftwerk, das 1990 abgeschaltet wurde.

In seinem 26jährigen Pfarrdienst in Wusterhusen habe er mehrere Menschen beerdigt, die an Leukämie gestorben waren, erzählt Garbe. Besonders der Tod zweier mißgebildeter Neugeborener habe in ihm Zweifel an der Ungefährlichkeit radioaktiver Strahlung aufkommen lassen. Auch wenn Erfolg bislang weitgehend ausbleibe – sein Engagement gegen die Kernenergie werde er im bevorstehenden Ruhestand nicht aufgeben, bekräftigt er. Wahrhaftig vom Evangelium zu reden heiße für ihn in der Region um Lubmin, das Wissen über Strahlenrisiken nicht länger zu verschweigen.

Eine dritte Gruppe von Atom-Gegnern stellen die jungen Leute der Greifswalder Umwelt-Szene dar, zu der – wenn das Semester läuft – auch Studenten der Ernst-Moritz-Arndt-Universität gehören.

Die zurückliegenden sechs Aktionswochen, die vor dem Hintergrund des Paks-Transportes auf das globale Problem der Kernenergie aufmerksam machen sollten, haben den Umweltfreunden an der Küste nichts desto trotz Mut gemacht: Sie haben gemerkt, wieviele sie sind. Wochenlang, Sonntag für Sonntag, standen sie vereint auf dem Anschlußgleis vor dem Tor 19 des Lubminer Kraftwerks. In eisiger Kälte, von Polizei und Werkskameras gut bewacht führten sie ihre „Anti-Atom-Picknicks“ durch. Bei Tee, Grog, Schmalzbrötchen und Kuchen sangen sie stundenlang ihren Protest in den rauhen Wind.

Daß sich das Atommüllager so klein wie möglich halten läßt und daß der vorgesehene Abriß der 20 Jahre lang verstrahlten Reaktoren mit der geringstmöglichen Gefahr für Arbeiter und Bevölkerung verbunden ist – dafür setzen sie sich weiter ein. Außerdem haben sie eine Hoffnung, die alle Öffentlichkeitsarbeit und Aktionen bestimmt: daß es einen grundsätzlichen Ausstieg aus der Atomkraft geben wird.

Kontakt: BI Kernenergie e.V. zur Förderung alternativer Energiekonzepte; c/o Dr. Rosmarie Poldrack, Fleischerstraße 22, 17489 Greifswald; Tel/Fax 03834-89 21 50.

Spendenkonto für Klagen: Kto-Nr. 528 999 8; BLZ 120 96 597, bei der Sparda Bank Berlin e.G.

* Red: Die vom Kirchlichen Forschungsheim Wittenberg vierteljährig herausgegeben „Briefe“ erscheinen seit 1979 und sind für eine eigenständige DDR-Umweltbewegung ein wichtiger Ausgangspunkt gewesen.

Presserklärung vom 26.2.96 der Geschäftsführung der Energiewerke Nord GmbH, der Eigentümern des Kernkraftwerkes Lubmin bei Greifswald

Bilanz nach Abtransport unverbrauchter Brennelemente aus der Energiewerke Nord GmbH nach Ungarn

Die EWN GmbH ist erleichtert, daß der Transport von 235 teilabgebrannten Brennelementen aus dem stillgelegten Kernkraftwerk Greifswald nach Paks in Ungarn gewaltfrei und planmäßig abgeschlossen werden konnte. Wie mehrfach betont wurde, handelte es sich dabei um eine Lieferung, die sowohl ökonomisch als auch ökologisch sinnvoll war.

Die EWN GmbH erfüllt mit der Bereitstellung der weniger als 5 Prozent verbrauchten Brennelemente für eine weitere Verwendung ihre gesetzliche Verpflichtung zur ökonomischen Verwertung von Rohstoffen. Durch den Abtransport erspart sie dem Steuerzahler Deutschlands Aufwendungen von mehr als 30 Millionen Mark.

Die Ungarn sparen durch diese Lieferung die Kosten für die Beschaffung neuer Brennelemente in Rußland. Durch den Einsatz unserer Brennelemente in den modernen Druckwasserreaktoren des Kernkraftwerkes Paks (Typ WWER 440/213) können ca. 40 Millionen Mark erwirtschaftet und zur Erhöhung des Sicherheitsstandards in diesen Anlagen werden (So steht es wirklich da – t. jeut.).

Die EWN GmbH hat entsprechend den gesetzlichen Bestimmungen alle mit der Lieferung zusammenhängenden Aufgaben in Zusammenarbeit mit den dafür zuständigen Behörden erfüllt. Die Öffentlichkeit wurde von Anfang an durch die Geschäftsführung informiert. Für die EWN GmbH ist der Vorgang abgeschlossen. Der Rücktransport der entleerten Behälter soll bereits im Monat März erfolgen.

gez. Dr. Manfred Meurer (Abteilung Öffentlichkeitsarbeit Energiewerke Nord GmbH.)

Pommersche Landeskirche will zum Tschernobyl-Gedenktag die Glocken läuten lassen

Greifswald (epd). In der pommerschen Kirche soll mit Glockenläuten und Gedenkandachten am 26. April an die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl vor zehn Jahren erinnert werden. Die Frage nach dem Umgang mit der Schöpfung sei seit dem Unfall nicht zur Ruhe gekommen, heißt es in einem am 27. Februar in Greifswald veröffentlichten Aufruf kirchlicher Mitarbeiter, den die Kirchenleitung auf ihrer jüngsten Sitzung zustimmend zur Kenntnis genommen hat.

So bleibe die Bewahrung der Schöpfung an der Schwelle zum nächsten Jahrtausend eine wichtige Herausforderung für die Kirche, heißt es darin. Die Katastrophe habe bei vielen Menschen zu einem neuen Nachdenken über die behutsame Entwicklung von Wissenschaft, Technik und Wirtschaft geführt.

Als der vierte Reaktorblock des sowjetischen Atomkraftwerkes zerbarst, seien radioaktive Wolken von der Ukraine bis weit nach Weißrußland gezogen, heißt es in dem Aufruf. Sie hätten Menschen, Tiere und Landschaften verstrahlt. Am stärksten seien die Arbeiter im Atomkraftwerk, die 90.000 Bewohner umliegender Ortschaften, die 200.000 Katastrophenhelfer und die Kinder betroffen gewesen. Die strahlenden Wolken seien sechsmal um die Erde gezogen und hätten jeden Kontinent gestreift.

Bei „Liquidatoren“ von Tschernobyl hohe Selbstmordrate registriert

Pflugbeil: Das Wissen um die Folgen der Reaktor-Katastrophe ist zur Ware geworden

Berlin (epd). Eine ungewöhnlich hohe Selbstmordrate haben Fachleute unter den sogenannten Liquidatoren von Tschernobyl verzeichnet. Rund 30.000 der insgesamt etwa 180.000 Menschen, die nach der Reaktor-Katastrophe in dem belorussischen Kernkraftwerk im April 1986 an den Aufräumarbeiten beteiligt waren, hätten sich seither das Leben genommen, berichtete der Berliner Physiker Sebastian Pflugbeil am 20. Februar in einem epd-Gespräch in der Bundeshauptstadt.

Zur Begründung verwies Pflugbeil darauf, daß Liquidatoren „wie Aussätzige“ behandelt würden und meist keine Arbeit bekämen. Für viele seien zudem die Familien zerbrochen. Das Kiewer Gesundheitsministerium gebe insgesamt 156.000 Tote aus dem Kreis der Liquidatoren an. Genaue Register über die Todesfälle würden jedoch unter Verschluß gehalten, betonte der Physiker, der zu DDR- Zeiten zu den besonders aktiven Mitgliedern des Vereins „Kinder von Tschernobyl“ gehörte und dieser Tage von einer Reise in die betroffene Region zurückgekehrt ist.

Wie Pflugbeil betonte, fordere die Bevölkerung Belorußlands von der russischen Regierung in Moskau Entschädigungszahlungen für die Folgen der Reaktor-Katastrophe von Tschernobyl. Dazu müsse sie von der belorussischen Regierung in Minsk gezwungen werden. Diese habe es allerdings bisher unterlassen, entsprechende Schritte beim Internationalen Gerichtshof in Den Haag einzuleiten, erläuterte er. Nach dem Wiener Protokoll zum internationalen Abkommen über Atomkraftwerksunfälle muß das Ministerium für Atom und mittleren Maschinenbau in Moskau als Betreiber der Anlage in Tschernobyl für die Folgen aufkommen. Die Frist zur Anmeldung der Ansprüche von zehn Jahren laufe jedoch im April ab.

Das Wissen um die Folgen von Tschernobyl sei zur Ware geworden, beklagte Pflugbeil, der 1990 als Umweltminister in der einzigen freigewählten DDR-Regierung die Abschaltung des Kernkraftwerkes Nord bei Greifswald durchsetzte. Diejenigen, die über Zahlenmaterial, Wissen und Beweise verfügen, versuchten damit Geld zu verdienen. Sie nutzten ihr Wissen, um zu Kongressen ins westliche Ausland zu reisen und dort Kooperationsbeziehungen zu knüpfen. Die internationale Atomlobby sei aber nicht an der Veröffentlichung und kritischen Analyse der Fakten interessiert.

In Belorußland gebe es etwa 450 Kinder mit Tschernobyl- Krankheitsfolgen, berichtete Pflugbeil weiter. Ihre Zahl steige aber stark an. In der Ukraine sei die Bevölkerung in den nördlichen Bezirken bei Tschernobyl genauer untersucht worden. Daher könnten dort Angaben über Veränderungen des durchschnittlichen Gesundheitszustandes gemacht werden. Bei allen Bevölkerungsgruppen – den Liquidatoren, Evakuierten und weiterhin dort Ansässigen – könne beobachtet werden, daß die Krankheitsraten steil in die Höhe gehen. Die Kinder wiesen alle Symptome einer oder mehrerer Krankheiten auf.

Die ersten Daten der Katastrophe wurden noch zentral im Moskauer Institut für Biophysik beim Ministerium für Gesundheitswesen gesammelt. Dort seien alle Unterlagen über Atomkatastrophen in der Geschichte der Sowjetunion zusammengetragen, betonte Pflugbeil. Mit dem Zerfall der Sowjetunion habe Moskau allerdings den Zugang zu den Tschernobyl-Daten verloren. Danach seien die Daten in Minsk und Kiew gesammelt worden. Alle weigerten sich aber, miteinander zu kooperieren, kritisierte Pflugbeil. Niemand verfüge daher gegenwärtig über umfassende Fakten.

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