Probleme der Berliner Mahnwache

aus telegraph 3/1989 (#03)

Als wir am Samstag abend zur Gethsemanekirche kamen, waren die Türen geschlossen. Passanten diskutierten auf der Freitreppe über Staat und Sozialismus. Von der Mahnwache war niemand zu sehen. „Die Mahnwache“, hieß es auf einem Zettel an der Kirchentür. „ist zur Klärung der Freilassungen bis Montag ausgesetzt.“ Und das in einer Situation, wo nichts so dringend gebraucht wurde, als die Mahnung von unten.

Schon seit sich der Gemeindekirchenrat (Abk.: GKR) der Gethsemanegemeinde entschlossen hatte, die Mahnwache in seiner Kirchen stattfinden zu lassen, hatte er sie auf 10 Tage befristet. Natürlich gab es massiven Druck. Der Stellvertreter für Inneres des Stadtbeirksbürgermeisters prote­stierte und drohte, zunächst den beiden Pfarrern, dann der regulären GKR-Sitzung am 1. Oktober. Der Gemeindekir­chenrat bestand angesichts dessen lediglich darauf, Spruchbänder mit den Forderungen der Mahnwache am Kirchturm durch eine Plakatierung an der Kirchentür zu ersetzen, in der das christliche Anliegen klar wird. Nach gefundenem Kompromiß mit der Mahnwachengruppe lautete die Aufschrift dann: „Wachet und Betet. Mahnwache für die zu Unrecht Inhaftierten“.

An politischem Mut, meint Bernd Albani, Pfarrer in Gethsemane, hat es dem Gemeindekirchenrat nicht gefehlt. Zwistigkeiten mit der Mahnwache entstanden an Alltags- und technischen Fragen. Den Ruheraum wollte der GKR nur für den Kreis der Mahnwache, nicht als Massenquartier bestimmt sehen, der Aufwärmraum habe sich „in eine Art Kneipe“ verwandelt, die Mahnwachengruppe fluktuierte zu stark, Verbindlichkeiten wurden nicht eingehalten, nichtautorisierte Flugblätter wurden verteilt, Alkoholi­ker und Angetrunkene machten nicht zu bewältigende Probleme. Ehestens, meint Pfarrer Albani, könne man darüber hinaus noch sagen, daß der Gemeindekirchenrat Berührungsängste mit jungen Leuten inner­halb der Mahnwache hatte, die er als zu radikal empfand.

Die Schwierigkeiten der Mahnwachengruppe waren andere. Weil alle älteren Mitglieder von Basis­gruppen zur Zeit Plattformen schmieden, und, in hochwichtigen Debatten beschäftigt, keine Zeit für Solidarität mit den Inhaftierten hatten, bestand der feste Kern der Mahnwächter fast durchweg aus sehr jungen Leuten, die nur sehr wenig Vorerfahrungen hatten. Als solche und dafür, daß sie in einer in der DDR nie dagewesenen Situation aus dem Stand sachgerechte Entscheidungen treffen mußten und trafen, ist ihre Leistung kaum hoch genug zu bewerten. Neben der eigentlichen Mahnwache hatten sie täglich ein vieltausendköpfiges Publikum und dessen ständig sich wiederholende Anfragen. Sie mußten den Info-Teil der Andachten vorbereiten, mindestens anfänglich das Kontakttelefon mitbetreuen und Interviews mit Journa­listen aus vielen Ländern der Welt führen, die zum 40. Jahrestag angereist waren und natürlich zur Mahnwache kamen. Sie verhandelten während der Demonstrationen vor der Gethsemane­kirche mit Polizei­offizieren und es gelang ihnen, z. B. am 7. 10. Polizeiketten zum Rückzug zu veranlassen. Hinzu kamen Probleme mit vielen Sozialfällen, die sich, wie auch andere Ereignisse in der Vergangen­heit zeigten, von den Gruppen magisch angezogen fühlen, sich nach Funkti­onen drängen und diese dann oft mißbrau­chen. Der schwierige Grat zwischen Toleranz und Abgrenzung gegenüber diesen Leuten ist bisher von keiner Basisgruppe bewältigt worden.

Die Mahnwächter waren überlastet, aber auch die älteren, die fehlten, wären gegenüber diesem Ansturm von Menschen und Problemen überfordert gewesen. Die Mahnwache versuchte gegenüber einer gesellschaftlichen Krise zu reagieren, die in dieser Art einmalig in der DDR-Geschichte ist und sie hat sich mit Bravour geschlagen.

Die schwierige Situation zwischen Gemeindekirchenrat und Mahnwache, meinte einer aus der Gruppe, sei ursächlich eher in schon lange schwelenden Konflikten zwischen GKR und den Pfarrern zu suchen, die aus Anlaß der politisch angespannten Situation ausbrachen.

Für die Entscheidung des GKR am Montag, den 9. Oktober, ab Freitag die Mahnwache in der Gethse­mane-Kirche nicht fortzusetzen, wurde von diesem als maßgeblich empfunden, daß wegen der politischen Entwicklung die Kirche ständig und besonders zu den abendlichen Andachten überfüllt war und die personellen Voraussetzungen zur kontinuierlichen Betreung eines solchen riesigen Publikums weder von der Mahnwachengruppe noch vom Gemeindekirchenrat abgesichert werden konnten. Hinzu kam die Angst vor unkontrollierbaren Zwischenfällen und das Bedürfnis, die Gemeinderäume wieder für das normale Gemeindeleben nutzbar zu machen. Der Gemeindekirchenrat forderte andere Berliner Gemeinden auf, zunächst die Mahnwache zu übernehmen, äußerte aber die Bereitschaft, in angemessenere Zeit auch wieder die eigene Kirche zur Verfügung zu stellen.

Die Suche, die Mahnwächter, Stadtjugendpfarramt und Kirchenleitung nun nach einer geeigneten, nämlich im Zentrum gelegenen und genügend großen Kirche begannen, erinnert sehr an ein gewisses neutestamentliches Gleichnis. Der eine Pfarrer hatte Baumaterial vor der Kirche liegen, der nächste erwartete die Rückkunft eines verreisten Amtsbruders, der dritte meinte, daß sein Gemeindekirchenrat ohnehin nicht zustimmen würde.

Nach einem Kompromißvorschlag des Stadtjugendpfarrers Hülsemann entschied sich der Gemeindekir­chenrat von Gethsemane am 12. Oktober angesichts der Situation dann doch für eine begrenzte Fortfüh­rung der Mahnwache. Unter Verantwortung des Stadtjugendpfarramtes sollte die Mahnwache täglich von 6‑ 22 Uhr sein, während die Informationsandachten rotierend in verschiedenen Berliner Kirchen stattfin­den sollten.

Unter den Mahnwächtern, die die Notwendigkeit eines weiteren Eintretens für die Inhaftierten verzweifelt empfanden, konnte es zu keinem Konsens mehr kommen. Die einen wollten einfach die Gethsemane-Kirche besetzen, andere suchten fieberhaft nach in letzter Minute aufnahmewilligen Kirchgemeinden. Am Freitag, dem 13. Oktober, verkündete Bischof Forck während der Andacht nicht ganz eindeutig zuerst die Freilassung aller Inhaftierten und diffrerenzierte erst anschließend, daß nicht näher definierte „Gewalttäter“ nicht freigelassen wurden und daß auch die Aufhebung der Ermittlungs­verfahren ungeklärt ist. Als dann zwei den Mahnwächtern bekannte Gefangene, Jolly und Silvio, tatsächlich erschienen, wurde vorgeschlagen, die Mahnwache bis zum Montag, bis zur Klärung der Freilassungsfrage auszusetzen. Andere riefen zur Mahnwache vor der Kirche auf der Straße auf. Letztendlich kam es zu einem sit in nachts auf der Freitreppe der Kirche. Dann entschlossen sich die Mahnwächter, die seit Tagen kaum geschlafen hatten, doch nach Hause zu gehen.

Vor der Gethsemanekirche ist es, wie gesagt, dennoch nicht leer geworden. Am Samstag war die Kirche angesichts der vielen Interessierten von der Gemeinde bis 16 Uhr geöffnet worden. Am Sonntag wird es vermutlich ähnlich sein.

Bitter anzumerken bleibt noch einmal, abgesehen von drei abendlichen Gesprächsrunden, das fast vollständige Fehlen der neuen Reformgruppen. Angesichts der permanenten Anfragen des Publikums wurden sie mehrfach aufgefordert, einen ständigen Vertreter am Info-Stand zu platzieren – ohne Erfolg. Was könnte für diese neuen Gruppen eigentlich wichtiger als das Werben um eine tausendköpfige Menge von Interessierten aus dem eigenen Land sein? Wir vermuten es: Offensichtlich haben sie damit zu tun, sich den Anfragen westlicher Medien zu stellen. (Siehe auch nächster Artikel)

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