aus telegraph 3/1989 (#03)
In den vergangenen Tagen hatten sich Gewerkschaftsfunktionäre aus Großbetrieben zu den drängenden Problemen in der DDR und der Notwendigkeit grundlegender Veränderungen in zumeist Offenen Briefen an den Gewerkschaftsvorsitzenden Tisch geäußert. In der jetzigen Atmosphäre, da das Politbüro das Volk auffordert, der SED doch seine Probleme anzuvertrauen und dann erwartungsvoll dem ZK-Plenum entgegenzusehen, reagierte die Staats- und Parteiführung auf die Arbeiter mit Besuchen von Politbüromitgliedern in Betrieben. Neben den wenig Konkretes verheißenden Worten von Reiseerleichterungen und Verbesserungen der Medien, kam ein Punkt doch in erstaunlicher Klarheit zum Vorschein: sowohl Harry Tisch in der Binnenschiffwerft Boizenburg oder Günther Schabowski im VEB Bergmann-Borsig, als auch Andere erklärten sich für Änderungen in der Lohnpolitik hin zu „stärkerer Leistungsdifferenzierung“, wie auch zu einer Preisreform. Während man sich Zeit läßt, irgendeinen glaubwürdigen Schritt im Bereich politischer Strukturen zu tun, deutet sich an, daß man sehr schnell dabei ist, die Kosten der staatsmonopolistischen Mißwirtschaft auf die Arbeiter abzuwälzen. Nichts weiter als das, und natürlich die Verschärfung sozialer Unterschiede, worauf solche Schritte zunächst hinauslaufen, wird so konkret von u. a. einem Gewerkschaftsvorsitzenden verkündet. Kein Tönchen ist zu hören vom Umbau wirtschaftlicher Strukturen oder gar der Erweiterung von Mitbestimmungsrechten.
Auch scheint man nicht einmal ein Nachdenken an einen Abbau des übergroßen Verwaltungsapparates zu verschwenden.
Wenn sich jedoch die DDR-Führung damit zu retten versucht, unter Verwendung moderater Töne und Freigabe einiger Spielwiesen den Ausverkauf des Landes zu fordern, dann besteht die deutliche Gefahr, daß die DDR, ähnlich Polen seit der Verkündung des Kriegsrechts in den Abgrund galloppiert.
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