Diskussion zum Thema radikale Linke

aus telegraph 3/190
von d.t., r.l., n.b.

Immer wieder, von PDS bis SPD, wird das Schreckensbild einer sich radikalisierenden Gesellschaft in der DDR heraufbeschworen (siehe „telegraph“ Nr.2, 1990). Ich will nie wieder die lethargische Menschenmasse wie in den letzten Jahren und sehe in einem breiten politischen Spektrum nichts negatives. Es gab nach unserer letzten Nummer bei manchen Verwirrung zu den Ausführungen von r.l. zum Linksextremismus. Wir würden, hieß es, damit die beginnende Kriminalisierung unserer Szene unterstützen.

Für mich sind radikale/revolutionäre Linke und Linksextremismus zwei völlig verschiedene Seiten. Radikale Linke bedeutet nichts weiter als an die Wurzel (radix) des Systems der Ungerechtigkeit gehen und damit dessen Auswirkungen wie Faschismus, Mißwirtschaft, Umweltzerstörung, Unterdrückung und Patriarchat zu denunzieren. Radikale Linke bedeutet, an der Wurzel die Gesellschaft zu ändern und Wege zur Errichtung der „Freien Assoziation (Gemeinschaft) freier Menschen“ zu gehen. Das heißt nicht, daß sich radikale Linke von anderen politischen Gruppen abschotten. Radikal sein ist ein politischer und nicht ein organisatorischer Zustand. Es ist für eine radikale Linke notwendig, daß Gruppen mit Einzelpersonen aus der Praxis sich zusammensetzen und einen möglichst weiten Konsens anstreben, um gemeinsam politisch handlungsfähig zu werden, statt sich in die jeweiligen Gruppen zurück¬zuziehen. Die schon immer vorhandene Trennung von TheoretikerInnen und PraktikerInnen und die damit verbundene Hierachisierung haben in der letzten Zeit noch zugenommen. Theoretische Radikalität ohne praktisches Tun steht allzu oft praktischem Auftreten ohne theoretische Erörterung gegenüber.

Wir sollten versuchen, in den nächsten Monaten ein Treffen vorzubereiten, wo erst Berlinintern und auch DDR-weit die verschiedensten undogmatischen linken Gruppen und Einzelpersonen zusammenkommen – Meinungsaustausch, Praxisaustausch, Standortbestimmung, Perspektiven für mehr Einfluß in unserer Gesellschaft und Zurückschlagen des Rechtstrendes.
d.t.

PS. Da meine Äußerung über Linksextremismus zu Mißverständnissen führte, eine kurze Nachbemerkung. Im großen und ganzen stimme ich mit d.t. überein, nur daß ich auch den Begriff „Links“ für mißverständlich halte. Ich würde ihn gern durch sehr alte, sogenannte „liberale“ Forderungen ersetzen, wie z.B. den Kampf für eine Gesellschaft, in der „Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit“ herrscht. Mir ist natürlich klar, daß ich damit als rettungslos Gemäßigter entlarvt bin. Seis drum!
r.l.

PPS. Lieber r.l., mindestens auch „Schwesterlickeit“!
d.t.

PPPS. „Geschwisterlichkeit“, meine Liebsten!
n.b.