aus telegraph 3/1990
von Wolfgang Rüddenklau
„Daß alle Menschen Brüder sind, ist kein schöner Traum, sondern demütigende deprimierende Wahrheit.“
Oskar Wilde
Noch vor einem Jahr versicherte uns unser damaliger Staatschef Erich Honecker, die Mauer werde noch hundert Jahre stehen. Seitdem entwickelten sich die Dinge mit atemberaubender Geschwindigkeit. Vom Fall der Mauer über die ersten schüchternen Demonstrationen für Wiedervereinigung bis zu Erklärungen für eine irgendwie gearteten Konföderation durch fast alle Parteien, die Vereinigungsankündigung der Evangelischen Kirchen und schließlich der Verhandlung von Staatchef Modrow mit Gorbatschow – wer könnte da noch die Vereinigung von BRD und DDR für unmöglich halten?
Wahrscheinlich ist es eben nicht vor allem die Sehnsucht nach der Wiedervereinigung mit den westlichen Brüdern und Schwestern, die die DDR-Bürger umtreibt. Fundamentaler ist die Sorge um die desorganisierte Wirtschaft, die ihnen bisher recht und schlecht Lohn und Brot gab. ßber Jahrzehnte wurde von der Politbürkratie wenig oder nichts investiert, jetzt sagen die Anlagen, die zum großen Teil aus den Jahren 1910 bis 1930 stammen, den Dienst auf. Womöglich noch schlechter geht es den für jede Volkswirtschaft grundlegenden Energieerzeugungsbetrieben. Die einen sind umweltgefährdender Schrott, während die Atomanlagen schon bei ihrem Anlaufen eine öffentliche Gefahr darstellen und möglichst sofort abgeschaltet werden müssen. Außerordentlich prekär ist auch die Situation der Umwelt. Altlasten dringen ins Grundwasser vor und verseuchen zusammen mit hochbrisanten Insektiziden den Ackerboden. Die Gewässer sind zum großen Teil tot oder kurz vor dem Umkippen. Der Wald stirbt landesweit, – nicht nur am sauren Regen, NOx-Verbindungen und Fotooxidanzien, sondern auch an der gefährlichen Absenkung des Grundwasserspiegels. Nicht zu reden vom Verfall der Städte, – jahrzehntelang vernachlässigte Altbauten einerseits, mit schludrigen Methoden gebaute Trabantenstädte ohne soziale Einrichtungen andererseits. Immerhin hinsichtlich der sozialen Probleme sind wir noch etwas glücklicher als unser fettglänzendes westliches Nachbarland, wenn das auch kein Maßstab sein kann. Es gibt Alkoholismus, eine erhebliche Jugendkriminalität, Neonazismus und vieles mehr und was nicht ist, kann ja noch werden: Die Sanierung des Landes erfordert Hunderte von Milliarden Dollar (nicht Mark) und wer soll das bezahlen?
Dabei hatte es 1945 so hoffnungsvoll begonnen. Fast alle wollten Sozialismus. Nie wieder sollte von deutschem Boden ein Krieg ausgehen. Freiheit und Demokratie sollten herrschen. Die Arbeiterparteien wollten sich vereinigen. All das waren ja echte Wünsche und Bedürfnisse der Bevölkerung, die von der Gruppe Ulbricht zur Aufrichtung ihres stalinistischen Regimes benutzt wurden. Mit Verweis auf Rekapitalisierung, Verbot linker Parteien und Remilitarisierung in der BRD wurde der zunehmende Ausbau der Terrorherrschaft gerechtfertigt. Und immer wieder gab es Idioten, die glaubten, mit der Verstaatlichung der Produktions¬mittel sei die DDR der BRD einen historischen Schritt voraus. Nachdem die ökonomischen Grundlagen des Sozialismus erreichtet seien, könne jetzt auch die sozialistische Demokratie kommen. Sie kam aber nicht und stattdessen wurde das Land von der herrschenden Clique immer weiter in den Ruin gewirtschaftet.
Die Aussichten für einen neuen Anlauf zu einer sozialistischen Perspektive sind jetzt natürlich trübe. Die meisten Bürger haben die Nase voll von Experimenten und wollen zum bewährten System zurückkehren, das uns von Westen entgegenstrahlt. Aber die Heilkraft der mit der „Wiedervereinigung“ einhergehenden Rekapitalisierung steht durchaus in Zweifel. Weltmarktfähige Industrieprodukte setzen neben geschultem Fachpersonal eine moderne Industrie- und Infrastruktur voraus. Und die bedarf eben der bewußten Milliardeninvestitionen, die uns niemand schenken wird, weder Herr Kohl, noch seine Unternehmerfreunde. Sie wollen uns nur benutzen, als billige Arbeitskräfte, als Mittel zur Beschneidung des sozialen Netzes der BRD, als Absatzmarkt.
Weder der Kapitalismus noch die Vereinigung mit der BRD sind geeignet, unsere gravierenden Probleme zu lösen. Vielmehr werden neue Probleme entstehen. Und die Chance zu einem politischen, gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und ökologischem Neuansatz wird von Roßtäuschern und Kunjunkturrittern in den neuen Parteien völlig ver¬spielt, wahrscheinlich der letzte mögliche Umkehrpunkt vor der Klimakatastrophe und die letzte Chance für eine gerechte Weltwirtschaftsordnung. Auf die Gefahr langweilig zu sein: Wir in Europa leben von der Schere zwischen Industrie- und Agrarpreisen und also auf Kosten der dritten Welt. Das, nicht die sogenannte „Deutsche Frage“, sind die zentralen Probleme des Jahrhunderts.
Es ist schon bitter, daß unserer Stimme nach der „Wende“ wieder nur so wenige zuhören. Wenn ein ganzes Volk entschlossen ist, sich von Roßtäuschern beraten zu lassen und mit geschlossenen Augen in einen Abgrund zu marschieren, ist dagegen natürlich zunächst wenig zu machen. Wir können Widerstand leisten, die Bevölkerung auf ihrem Weg kritisch begleiten und die falschen Führer schonungslos entlarven. Auf Dauer bleibt uns immerhin die Hoffnung auf den Katzenjammer, der ganz sicher eintreten wird – allerdings auch die Befürchtung, daß dann die Bevölkerung die Flucht ins Irrationale antritt. Ganz sicher aber wird es eine neue Runde auf der gesamtdeutschen Ebene geben, wenn die westdeutschen Unternehmer das Augenmaß verlieren und durch Lohnsenkungen und drastische Beschneidung des sozialen Netzes in Westdeutschland ihr System destabilisieren.