Die Regierung der „Nationalen Verantwortung“
aus telegraph 3/1990
Seit Montag (5. Januar) haben wir wieder eine Regierung ohne Opposition. Die „Nationale Front“ seligen Angedenkens hat in der Koalition der „Nationalen Verant¬wortung“ ihren Nachfolger gefunden. Alle am Runden Tisch in Berlin vertretenen Parteien stellen in ihr Minister ohne Geschäftsbereich. Draußen bleibt nur die kleine „Vereinigte Linke“, deren Gewissen schlug, als Modrow seinen Plan zur Einheit Deutsch¬lands verkündete. Draußen bleibt auch die bisher nicht am Runden Tisch vertretene DSU.
Dieses Kabinett will bis zu den vorgezogenen Wahlen für Stabilität sorgen. Es ist sehr fraglich, ob es das kann.
* Die Streiks und sozialen Forderungen werden dieser Regierung zuliebe nicht nachlassen, denn sie sind zumeist Reaktion auf angestaute soziale Ungerechtigkeiten. Das Bedürfnis, sich zu organisieren und nach den Jahrzehnten der erzwungenen Sprachlosigkeit endlich selbst auf der Bühne aufzutreten, ist einfach zu groß.
* Die Regierung wird also ständig unter dem Druck der Bevölkerung leben müssen. Vor dieser Regierungsbildung konnten die in Bewegung geratenen Menschen hoffen, in den Oppositionsgruppierungen am Runden Tisch einen Anwalt zu finden. Diese Hoffnung hat sich nun zerschlagen.
* Die öffentlichen Verwaltungen können durch diese Regierung nicht repariert werden. Deren Krise ist die Folge des Untergangs der SED. Wenn Modrow sagt, es könne mit den alten Strukturen nicht mehr regiert werden, dann hat er völlig recht. Man muß nur hinzufügen, daß die Mehrheit der Bevölkerung alles will, nur nicht diese alten Strukturen zu retten.
* Die Regierung Modrow wird durch den Beitritt der neuen Gruppierungen auch nicht stabiler. Die Übereinkunft, Beschlüsse nur im Konsens, also einstimmig zu fassen, wird eine Beschlußunfähigkeit zur Folge haben, weil sich die verschiedenen Kräfte gegenseitig blockieren. Sollten sich die Mitte-Rechtsparteien wie Demokratischer Aufbruch, DSU und Ost-CDU doch noch unter der Führung von Kohl und Rühe zusammenfinden, wird sie keine „Nationale Verantwortung“ daran hindern, das Kabinett noch vor den Wahlen zu verlassen.
* Der Runde Tisch wird durch das neue Kabinett geschwächt, weil die wichtigsten Vertreter der früheren Opposition in die Kabinettsdisziplin eingebunden sind. Der Runde Tisch kann jetzt nicht mehr fordernd gegenüber der Regierung auftreten, sondern nur noch begleitend.
Die Bilanz, die Hans Modrow in seiner Regierungserklärung vom 29. Januar vorlegte, hätte den sofortigen Rücktritt der Regierung zur Folge haben müssen. Warum haben die Oppositionsgruppierungen nicht selbst den Anspruch auf die Bildung einer Übergangsregierung gestellt. Die SPD kräht doch sonst immer so laut, sie sei die Stärkste und Schönste. Verantwortliches Handeln in kritischer Lage hätte von ihr verlangt, die Führung in einer solchen Übergangsregierung zu übernehmen. Sie versteckt sich aber ebenso hinter den schmalen Schultern von Hans Modrow wie die übrigen Gruppierungen der früheren Opposition. Diese Flucht vor der Verantwortung stellt kein gutes Zeichen für die Wahl am 18. März und die Zeit danach dar.