DISKUSSION (2): Zwei Staaten – eine Nation?

aus telegraph 3/1990

„Mir scheint, es gibt ein gewisses Einvernehmen darüber bei den Deutschen in Ost und West sowie bei den vier Siegermächten, daß die Vereinigung der Deutschen niemals und von niemand prinzipiell in Zweifel gezogen wird.“ Das erklärte Gorbatschow am 30. Januar bei seinem Zusammentreffen mit Modrow. Nachdem es zum Delegiertentreffen des Neuen Forums fast zum Eklat über die „Deutsche Frage“ gekommen wäre, bleiben von den oppositionellen Gruppen am Runden Tisch scheinbar nur noch der unabhängige Frauen¬verband und die Initiative Vereinigte Linke bei ihrer Haltung für die Aufrechterhaltung der Zweistaatlichkeit. Die „Deutsche Frage“ wird das Hauptwahlthema und ist eines der meist diskutierten Themen in der Gesellschaft. Warum treten wir für die Verteidigung der Souveränität der DDR gegenüber allen Forderungen nach einer schnellen „Wiedervereinigung“ als Angliederung an die BRD ein?

Wir wollen damit die Chance (ist sie auch noch so klein) einer wirklichen Alternative zum Kapitalismus, im Sinne einer Gesellschaft der sozialen Freiheit und Demokratie verteidigen.

Selbstbestimmung heißt nicht Unterwerfung unter das politische und wirtschaftliche System des Kapitalismus, sondern eigenverantwortliche Gestaltung unserer Zukunft.

Ebensowenig darf der stufenweise Ausverkauf zu den Bedingungen des Auslandskapitals hingenommen worden: Die Verwandlung der DDR (nach einer Vereinigung immer noch Ostdeutschland!) in ein Billiglohngebiet und eine verlängerte Werkbank der BRD. Sicher muß bald mit der BRD verhandelt werden über die langfristige Ausgestaltung des Grundlagenvertrages im Sinne einer Vertragsgemeinschaft, entsprechend dem Grundsatz „Zwei Staaten, eine Nation“ bei gegenseitiger Staatsrechtlicher Anerkennung. Weiterhin die Entwicklung enger wirtschaftlicher und politischer Beziehungen bei Ausbau aller Aspekte des gemeinsamen nationalen Zusammenhangs und die Ausarbeitung eines verbindlichen Rahmens zur Wahrnehmung gesamtdeutscher Verantwortung, insbesondere für den Frieden.

Wir haben nicht jahrelange Entbehrungen, Diskriminierungen und Inhaftierungen hingenommen, Teile der Bevölkerung der DDR haben nicht im Herbst vorigen Jahres die Regierung, Stasi und Privilegien gestürzt, um Biermanns Satz „Vom Regen in die Jauche“ Wirklichkeit werden zu lassen.

Fakt ist, daß große Teile der Bewegungen zur Vereinigung und Übernahme der kapitalistischen Wirtschaftsstrukturen streben. Sie versäumen, gemeinsam mit allen fortschrittlichen Kräften in der DDR ein alternatives Gesellschaftssystem auf dem Territorium der DDR aufzubauen. Aber nur gemeinsam kann dieser Traum verwirklicht werden.

Die stärksten Argumente für eine Vereinigung mit der BRD sind ökonomische Gründe. Eine Vereinigung momentan kann nur ein großes kapitalistisches Deutschland hervorbringen!

Alle anderen Vorstellungen sind gefährliche Illusionen! Ich halte eine Vereinigung auf Grund fehlender VWs, KaDeWe´s in der DDR verhängnisvoll für die Identität der hier lebenden Menschen. Eine sich aufdrängende Frage: Mit welchem Staat in Westeuropa, USA oder Japan sollen sich denn Polen, Armenien, Äthiopien, Nikaragua vereinigen, um wirtschaftlich aus der 1000 mal größeren ökonomischen Krise herauszukommen?

Da fängt schon wieder die schreckliche deutsch und nationale Sichtweise an. Es sollte sich doch vielmehr Gedanken gemacht werden, wie ein weltweiter gerechter Wirtschaftsbund aussehen kann, um endlich die tägliche Ausbeutung der sogenannten „3. Welt“ durch Europa, USA, Japan zu beenden.

Schlimm genug, daß die DDR ihre politische, ihre bescheidene wirtschaftliche und militärische Unterstützung (die nur teilweise die sich befreienden Menschen erreichte) gegenüber Bewegungen in Nationalstaaten drosselt.

Es scheint mir manchmal so, daß die Demokratisierungsprozesse in den Betrieben und den Kommunen so lange herausgezögert und behindert werden, um nur einen Weg als noch gangbar zu propagieren: Einheit und Marktwirtschaft.

Und daß Marktwirtschaft nichts mit bedarfsotrientierter Wirtschaft zu tun hat und ein soziales Grauen hervorbringt (siehe Polen, Ungarn) dürfte wohl klar sein. Versuchen wir es auf dem Territorium der DDR mit einer Gesellschaft der Freiheit und der Demokratie, ein auf der Volkssouveränität beruhendes Gemeinwesen selbstverwalter Betriebe und Kommunen, deren Räte unmittelbar die Interessen der Menschen vertreten. Es ist heute das Einfache, was nach vierzig Jahren Stalinismus nur noch schwer zu machen sein wird. Und bis solche funktionierende Gesellschaftssysteme für die ganze deutsche Nation und alle anderen Nationen sich als real möglich erweisen wird, werden wir uns noch etwas gedulden müssen. Dies setzt große „Kämpfe“ der ArbeiterInnenen, Obdachlosen und politischen Gruppen voraus. Und die Perspektiven sind dafür nicht ganz rosig.