aus telegraph #3 _ 1999
von Stefanie Hürtgen
Berlin findet derzeit eine Veranstaltungsreihe statt mit dem Titel: 10 Jahre 89 – Wende wohin?
Eine im Bildungswerk Berlin der Heinrich Böll Stiftung angesiedelte Ost – West – Arbeitsgruppe versucht, der offiziellen Deutungsmacht des Umbruchs 1989 eine eigene Interpretation entgegenzusetzen. Erfahrungen von Selbstorganisation und Debatten um grundlegende gesellschaftliche Veränderungen sollen mit den heutigen Auseinandersetzungen verbunden werden.
Ganz in diesem Sinne wird am 27. November 1999 in Berlin eine historisch bisher einmalige Veranstaltung stattfinden. Zum ersten mal werden diejenigen Aktiven aus Betrieben und Einrichtungen der DDR zusammenkommen die in der Zeit der „Wende“ der DDR versucht hatten, ihre Interessen als Beschäftigte zu artikulieren und sich zu organisieren.
Als sich im November 1989 die Ereignisse in der DDR überschlugen, kein Tag verging, an dem nicht demonstriert oder eine neue Rücktrittserklärung irgendeines Vorsitzenden in den Nachrichten verlautet wurde, schien in den Betrieben und Institutionen alles „seinen sozialistischen Gang“ zu gehen. Doch dieses Bild spiegelt nur die „halbe Wahrheit“ wider: Für zahlreiche Belegschaften der DDR-Betriebe waren die Wochen und Monate zwischen dem Oktober 1989 und dem Frühjahr 1990 ereignisreicher und aufregender, als es die Geschichtsschreibung inzwischen vermuten läßt. In das entstandene Vakuum einer fehlenden Interessenvertretung – der FDGB war in eine „Schreckstarre“ gefallen und der DGB stand noch nicht auf der „Fußmatte“ – wurden von Gruppen oder einzelnen Kollegen weitreichende Forderungen gestellt und die Gründung unterschiedlichster Vertretungsorgane initiiert. Es gab 1989 nicht nur auf den Straßen den „kurzen Herbst der Anarchie“ (Volker Braun) , sondern auch in den Betrieben.
Die Motive, die die Arbeiter und Angestellten dazu bewog, sich aktiv in das Betriebsgeschehen einzumischen, waren in erster Linie das Gefühl, daß sich in den Betrieben nichts rührte, alles beim alten und die Leitung auf ihrem Posten blieb und zweitens, daß man immer noch ohne Informationen und ohne „Durchblick“ gehalten wurde, nichts zu sagen hatte. Die Wende in die Betriebe holen, war die Devise, und das hieß: Staat und Partei raus aus dem Betrieb, Kampfgruppen raus, Stasi raus, Absetzung der unfähigen Leitungen, Zerschlagung der alten Strukturen sowie Offenlegung der Informationen über betriebliche Vorgänge um sich endlich einbringen zu können und mitzureden.
Um die Bedeutung einschätzen zu können, die ein im Werk verteilter Aufruf, der vom Betriebsleiter forderte, sich der Vertrauensfrage zu stellen, für die Verfasser hatte, muß man sich vergegenwärtigen, daß es für Arbeiter in der DDR 50 Jahre lang so gut wie keinen öffentlichen Protest gegeben hatte. 1989 lebte eine Arbeitergeneration, deren gemeinsame Erfahrung in maulender Anpassung, Verweigerung oder Flucht und Ausreise in den Westen bestand und die nun – im Oktober 89 durchaus noch risikoreich – wieder begann, sich Praktiken einer kollektiven Auseinandersetzung anzueignen.
Schaut man sich die Aufrufe, offenen Briefe oder Strukturvorschläge für eine eigene Interessenvertretung an, so fallen – unabhängig von den jeweiligen Verfassern – zwei Eigentümlichkeiten auf:
1. Die Forderungen sind mehrheitlich aus der Position eines basisdemokratischen Verständnisses von Beteiligung formuliert. Gegen den zentralistischen Aufbau des FDGB wolle man eine Struktur von unten nach oben schaffen, und zwar in eigener Aktion, nicht in Erwartung einer Maßnahme von oben. „Selbstbestimmte Gewerkschaftsarbeit heißt für uns zunächst einen mühsamen, keinesfalls mißerfolgsfreien und risikoreichen Lernprozeß in Gang zu setzen, der aber nur ganz unten, bei jedem Einzelnen beginnen kann“ heißt es in einem Aufruf Berliner Krankenschwestern. Jederzeitige Abwählbarkeit von gewählten Interessenvertretern war seinerzeit ebensowenig umstritten wie die weitestgehend ehrenamtliche Arbeit in den gedachten Vertretungen.
2. In den Forderungen der Aufbruchsphase sind Ansprüche an eine Belegschaftsmitbestimmung gestellt, die teilweise weit über das Maß nicht nur der bundesdeutschen Regelungen hinausgehen. Im Anschluß an ein standardmäßig gefordertes Recht auf Informationen und Offenlegung aller Betriebsunterlagen, finden sich häufig auch Forderungen nach einem Vetorecht für die Interessenvertretung der Belegschaften, nach weitgehenden Mitspracherechten (bei Investitionsvorhaben, Personalfragen, Sozialfragen und betrieblichen Umgestaltungen) oder Forderungen nach Wahl der Betriebsleitungen. „Der Betriebsrat wird von der Belegschaft demokratisch gewählt bzw. abgewählt und vertritt damit die innerbetrieblichen Interessen der Gesamtbelegschaft bei Leitung und Planung gegenüber der Betriebsleitung. Das schließt die Wahl und Abwahl von Leitern mit ein!“ (aus einem Positionspapier der Betriebsgruppe im Neuen Forum).
Spätestens im Sommer 1990 endet dieses Kapitel der DDR- Geschichte. Bereits ab Anfang 1990 bereitet der westdeutsche DGB die rasche Ausdehnung seiner Gewerkschaftsstrukturen auf den Osten vor und im Sommer 90 finden die ersten Betriebsrätewahlen nach westdeutschem Muster statt. Diese Entwicklung wurde von der sehr großen Mehrheit der Belegschaften durchaus begrüßt und auch eingefordert. Sie waren froh, angesichts der schwierigen Lage bereits forcierter Massenentlassungen und Umstrukturierungen auf eine etablierte und starke Interessenvertretung zurückgreifen zu können. In ihrer Mehrheit waren die Belegschaften während der Wende ohnehin passiv geblieben, hatten höchstens die Beitragszahlungen an den FDGB verweigert oder waren aus der alten Gewerkschaft ausgetreten.
Für die „utopischen Experimente“ war in dieser Entwicklung kein Platz mehr. Die ProtagonistInnen der Aufbruchphase, die stets in der Minderheit geblieben waren, gerieten schnell ins Abseits. An die Stelle trat ein pragmatische Sich – Zurecht – Finden in den Strukturen der Bundesrepublik.
Der beginnende Prozeß einer basisorientierten Auseinandersetzung war so beendet, ehe man über eine erste Stufe der Meinungsbildung: „Was tun?“ hinausgekommen war. Eine übergreifende Bewegung oder Organisation war nicht entstanden. Die Entwürfe alternativer Satzungen wanderten in die Schublade.
Dennoch wollen wir uns auf der Veranstaltung noch einmal ausführlich mit dieser Zwischenzeit, der Zeit vor der „bundesdeutschen Normalität“, befassen. Dabei kann es nicht darum gehen, den stets minoritär gebliebenen Ansätzen eine Bedeutung zuzuschreiben, die sie nicht hatten, oder diese auf andere Weise im Nachhinein zu idealisieren.
Das Ziel der Veranstaltung ist vielmehr ein zweifaches: Einerseits soll eine kritische Aufarbeitung dieses marginalen Spektrums selbstorganisierter Betriebsaktivitäten von 1989 erfolgen. Mit einer durchaus selbstkritischen Rückschau wollen wir uns über Umfang, damalige Bedeutung, unterschiedliche Praxisformen und die Ursachen seines Scheiterns verständigen. Andererseits soll auf der Veranstaltung Raum gegeben werden für die Vergegenwärtigung von in den 89er- Utopien enthaltenen produktiven Ansätzen. Die Veranstaltung ist insofern nicht nur Retrospektive, sondern soll vor allem Anregungen für eine Diskussion über die Perspektive betrieblicher Interessenvertretung geben. Der „notwendige Überschuß“ an utopischen Elementen, der im Herbst 1989 in den Betrieben der DDR Kolleginnen und Kollegen zum Handeln getrieben hat, enthält dafür interessante Anregungen.
Ablauf der Veranstaltung:
11.00- 11.30
Einleitung: Renate Hürtgen
11.30 – 12. 30 und 13.00 – 14.30
Der Aufbruch in den Betrieben
mit BetriebsaktivistInnen aus dem Reglerwerk Teltow, dem Berliner Bergmann – Borsig – Werk, von Zeiss in Jena, dem Werk für Fernsehelektronik Berlin und aus dem VEB Stahlleichtbau Frankfurt Oder. Moderation: Renate Hürtgen
15.30 – 16.30 und 17.00 – 18.00
Welche Rolle spielten die Betriebe für die Aktivitäten der Bürgerrechtsgruppen?
mit VertreterInnen der Betriebsgruppe des Neuen Forum, der Vereinigten Linken, der
„Initiative für unabhängige Gewerkschaften“, der Initiative für Frieden und Menschenrechte
u.a. aus den Städten Leipzig, Halle, Dresden und Berlin. Moderation: Bernd Gehrke
18.15 – 19.30
Podiumsdiskussion: Was interessiert uns die Utopie von gestern?
mit Dieter Walter, heute Betriebsrat in Henningsdorf, Karin Kilgus, heute IG Metall Ortsverwaltung Berlin, N.N.. Moderation: Sonja Kemnitz
Die Veranstaltung findet im Haus der Demokratie und Menschenrechte in Berlin, in der Greifswalder Straße 4, Prenzlauer Berg statt.
Weitere Informationen bei Stefanie Hürtgen: 030/446 30 98
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