aus telegraph #3 _ 1999
von Tschelovetschnost
Es ist noch nicht allzu lange her, da entstand aus der „Großmacht“ Sowjetunion ein Föderativer Staat. Die neuen nationalen Republiken spielten dabei hauptsächlich die Rolle der Rohstofflieferanten. Das kulturelle Niveau und die Allgemeinbildung der RSFSR (Russische Sozialistische Föderative Sowjetrepublik) befand sich auf einer völlig anderen Entwicklungsstufe im Unterschied zu den anderen Republiken, wie z.B. den Republiken Zentralasiens. Das allgemeine Niveau der Produktivkräfte beispielsweise der Völker Tadschikestans, Tschetscheniens, Ingutschetiens und Kirgiesiens entwickelte sich analog dem Wachstum der Industrie, die sich allerdings auf einem niedrigen Level befand und befindet. In verschiedenen Teilen dieser Länder ist die Handarbeit noch sehr verbreitet. Die Landwirtschaft stellt eine der wichtigsten Zweige dar. Die Völker Zentralasiens und des Kaukasus blicken auf eine lange Geschichte zurück, eine Geschichte von gegenseitiger Unterdrückung, Vernichtung durch furchtbare Kriege und Deportationen. Zweifellos wirkte sich das auch auf das Leben und die Mentalität der Menschen dort aus. Auch die Rolle des religiösen Faktors hat die südlichen Völker nicht selten veranlasst, in die Kanonaden des Glaubens einzustimmen, welchen sie befolgen.
Mit dem Zerfall des sowjetischen Imperiums wirkten sich praktisch alle oben genannten Punkte auf das Streben nach Selbstbestimmung der kleinen Völker aus. So auch bei den Ereignissen in Abchasien, Sumgant. Das berührte auch das tschetschenische Volk. Aber leider, wie es so oft passiert, werden mit den Wellen der Unzufriedenheit und des Volkszornes nicht immer progressive Führer an die Macht gespült. Die Politiker des Kremls, bereits im Abzug, versuchten die Stabilität der Lage in der tschetschenischen Republik mit großen Protestkundgebungen nochmals herzustellen. Das tschetschenische Volk indes erinnerte sich seines antiimperialistischen Helden des 19. Jahrhunderts: Schamil. Während der Protestwelle wusste einer die Situation für sich zu nutzen. General D. Dudajev fiel die Rolle des neuen Helden zu. Für das tschetschenische Volk erschien er in diesen Tagen als „Vater“. Mit dem Ende des Zerfalls der UdSSR beruhigten sich zahlreiche Konflikte wieder ein wenig. Jede ehemalige Sowjetrepublik wurde ein selbständiger Staat, mit einer eigenen Armee, einer eigenen Regierung und Grenzen. Aber, wie gewöhnlich hat jede Regierung so ihre Eigenheiten. So entstanden per Statut eine Reihe verkannter Staaten: Transnistrinien, Abchasien, Tschetschenien und andere. Die Republik Itschkerien (anders für Tschetschenien) wurde zu einem zentralen und einem der wichtigsten Punkte für die neuen Kapitalisten, denn auf ihrem Territorium befanden und befinden sich extrem viele Ölvorräte und genau darum begann ein heißer Streit zwischen Russland und Tschetschenien. Erstere behaupteten, dass Tschetschenien ein Teil Russlands sei, ein gleichberechtigtes Subjekt der Förderation. Folglich müssten die ölverarbeitenden Betriebe den russischen Gesellschaften zufallen. Mit dieser Auslegung der Frage konnte sich die andere Seite natürlich nicht einverstanden erklären. So führte der Streit um diese Filetstücke der Ölindustrie zum imperialistischen Krieg zwischen Russland und Tschetschenien. Der Krieg begann mit dem Einmarsch der Truppen der russischen Armee auf das Territorium der tschetschenischen Republik im Dezember 1994. Die russische Expansion wurde von allen progressiven politischen Kräften als absolut schändlich, als abscheuliches Gemetzel eingeschätzt, welches ausschließlich dem Magnat des militärisch industriellen Komplexes nutzte. Blutiges Geld für das russische Kapital bewies, das diesen Herren jegliche menschliche Eigenschaften fehlten. Ihrem Charakter entsprechend mähten sie in den Bergen, mit rohen unmenschlichen Instinkten, Tausende von Menschen nieder, darunter zahlreiche Kinder und Frauen. Das blutige Kaleidoskop dieser „Vakchanami“ verband sich mit der Vernichtung ganzer Städte und Dörfer (Grosny, Samaschki, Perromajskoe) und friedlicher, unbewaffneter Siedlungen der unterschiedlichsten Nationalitäten. Sowohl tschetschenische als auch russische. Diese Grenzenlosigkeit des Todes, des Verfalls, des Hungers, wie in den Bergen, brachte ein Welle des Nationalismus und des Chauvinismus, wie sie größer hätte nicht sein können. Der zweijährige Alptraum endete mit dem Hass der beiden Völker aufeinander. In Russland trägt die Kasachophobie Massencharakter und nimmt täglich zu. Da geht ein Mann mit dunklen Haaren und dunkler Haut, geht vielleicht nach schwerer Arbeit auf der Baustelle nach Hause und füttert seine Kinder. Er hat weder jemanden vergewaltigt noch jemanden getötet. Aber wie dem auch sei, die Moskauer Menschenmenge (und nicht nur die), an der Haltestelle, auf dem Markt, im Bahnhof denkt oder sagt übereinstimmend: „dort kommt ein Schurke, ein Nazi!“ Und von dieser nationalistischen Tendenz profitieren vor allem die russischen Faschisten. Sie haben enormen Zulauf, treten immer hemmungsloser auf und bleiben absolut ungestraft in ihren dreckigen Machenschaften. In etwa genau so ging die tschetschenische Bourgeoisie vor. Sie profitiert vom Ölexport und schwimmt im Luxus. Sie rüttelte am nationalen Pendel, führte die Menschen weg von dringenden, lebensnotwendigen Entscheidungen hin in eine verlogene, religiöse und nationale Richtung. ihre politische Macht bestand in der Abgrenzung zu Russland. Alle Kraft wurde darauf verwendet und jedes Mittel war recht, um die gegensätzlichen Faktoren für sich nutzbar zu machen. Das heißt, so wie das Volk der russischen Föderation mit der Narkose des Chauvinismus ernährt wird – dem wahren „Opium für das Volk“ – so verhält sich das mit der Russophobie beim tschetschenischen. Gerade auch bezüglich der Religionen. So sei es bewiesen, das der Islam eine wahre, ordentliche Religion sei, dagegen die christliche eine fremde, vom tschetschenischen Volk nicht anzuerkennende. Zur Einführung der Gesetze der Scharia auf das Territorium der tschetschenischen Republik brach eine absolut reaktionäre Staatspolitik auf. Aber auch der folgende Punkt sollte noch eine wichtige Rolle spielen. Die Woge des Krieges brachte auf ihrem Rücken eine Reihe Feldkommandeure hervor, sogenannte „Helden“ des antirussischen Widerstandes wie Sch. Basaev, den Jordanier Chattab und andere. Sie standen später als bewaffnete, kriminelle Gruppen in Opposition zum Präsidenten Magkadov. So bildeten sie weiterhin Sabotagegruppen und schufen Einheiten für die Ausbildung von Kampfgruppen. Sie verschafften sich Aufmerksamkeit durch Drohungen, die im regionalen Fernsehen übertragen wurden. Aufmerksam wurden aber vor allem der russische Geheimdienst (aber nicht nur der). Unterstützung bekamen die Terroristen von Drogenbaronen und anderen islamischen, radikalen Organisationen, welche eine kolossale Erfahrung in dieser Sphäre besitzen. Sie waren die Vorboten zum Einstieg in eine neue Etappe.
Denn nun war nicht mehr Moskau der Initiator, Provokateur und „Schaffner“ auf dem Zug zur Grenze des rechten Terrorismus, es waren die Boewniki („Kämpfer“) Basaevs und Chattabs. Mit anderen Worten, so oder so war die Politik von rechten Kreisen geprägt, welche die Interessen des Volkes verschmähten. Aber wie sagen die Franzosen, kehren wir zurück zu unseren Schafen. Die gesamte letzte Zeit, von 1996 bis Mitte diesen Sommers war in erster Linie ein Informationskrieg. Die Boewniki entführten ununterbrochen Menschen. Abgesehen von den russischen Militärdienstleistenden waren darunter auch eine Anzahl ausländischer Journalisten, Mitarbeiter des Iinternationalen Roten Kreuzes und auch einfache Bürger benachbarter Territorien. Es begann eine Phase des Sklavenhandels. Für die „Sklaven“ forderten sie mehrere Millionen Lösegeld. Selbst Vorfälle von Folter sind bekannt geworden. Viele terroristische Zentren waren sehr aktiv bei der Unterstützung mit Waffen, Söldnern und Geld. Eine Reihe von Gebieten der tschetschenischen Republik wurde bereits von den Boewniki kontrolliert. Dort haben die offiziellen Gesetze Grosnys keinen Einfluss mehr. Es gilt nur noch ihre Philosophie und ihre Ordnung. Ohne Frage, eine solche Situation kann so nicht lange andauern. In den schon erwähnten letzten drei Jahren entstanden in den angrenzenden Gebieten Tschetscheniens und Dagestans, dem Territorium der russischen Föderation eine riesige Anzahl von terroristischen Anlagen, unterirdischen Lagern. Für die Agitation und Propaganda verbreiteten die Boewniki Flugblätter, Bücher mit extremistischen Inhalten. In ihnen riefen sie dazu auf, nur den heiligen Gesetzen des Islam zu folgen und alle anderen, offiziellen Gesetze zu missachten. Immer mehr wurde dabei die Frage nach der notwendigen Loslösung Dagestans von Russland ins Zentrum gerückt, um sich nach der islamischen Welt umzuorientieren.
Diese gesamte Vorbereitung mündete geradewegs in dem Angriff der Boewniki-Extremisten auf eine Reihe dagestanischer Dörfer: Tschabanmach, Karamach. Die Extremisten gingen in die Aue und Dörfer, richteten Wehrgebiete ein, plünderten Häuser, Menschen, schlachteten Vieh. Trotz ihrer guten Bewaffnung und Kriegsvorbereitung, wurde schnell deutlich, dass sie ihre ausgearbeiteten Pläne für die Kriegsoperation nicht durchsetzen konnten. Ihnen fehlte der notwendige Rückhalt in der örtlichen, dagestanischen Bevölkerung. Die Einwohner dagestanischer Dörfer flohen vor den Boewniki, verließen ihre Häuser, um ihr Leben zu retten. Hinzukommt, und für die Boewniki völlig unerwartet, das sich eine „Volkslandwehr“ aus Teilen der männlichen Bevölkerung Dagestans bildete, die sich gegen sie richtete. Dies war der Moment, an dem ein neuer, man kann sagen ein zweiter kaukasischer Krieg begann. Die russischen Bundestruppen kamen praktisch der „Volkslandwehr“ zu Hilfe. Der regionale Krieg dauerte nicht lange. Gegen Handfeuerwaffen, Maschinengewehre und leichter Geschütze der Boewniki wurde schweres Kriegsgerät aufgefahren: Panzer, Geschütze, Hubschrauber, Flugzeuge. Aber abgesehen von der unterschiedlichen Bewaffnung der rivalisierenden Seiten, Opfer musste sowohl die eine, als auch die andere Seite hinnehmen. Ohne Frage mussten dabei die Boewniki mehr einstecken als die Bundestruppen. Allein nur die großen Verluste der Basaevisten waren der Grund dafür, dass sie allmählich Dorf für Dorf räumten und sich auf das Territorium Tschetscheniens zurückzogen. Die Pläne Basaevs und Chattabs, mit dem Machtraub in einer Reihe dagestanischer Dörfer, dort dann auch den heiligen islamischen Staat auszurufen, waren nicht mit Erfolg gekrönt. Indessen nur ein naiver Mensch könnte glauben, dass die Boewniki sich in Anbetracht der vorliegenden Situation eines bewaffneten, regionalen Konflikts beruhigen, die Waffen ablegen und einen Weg des langersehnten Friedens beschreiten, würden.
Die Agonie der Extremisten zeigte sich im unerbittlichen, grausamen Terror gegen friedliche Menschen in Russland. Was sagen die Initiatoren der terroristischen Aktionen: „Russen – das sind Götzendiener, die sich vor einer Jungfrau Maria verbeugen. Sie sollen dort sterben, wo sie der Tot von unseren Händen erwischt.“1. Diese offene nationalistische Äußerung wurde zum Vorboten der unmenschlichen Aktionen, welche man als Terrorismus gegen friedliche Menschen qualifizieren kann, von denen wohl niemand irgendein gutes Gefühl zum Krieg in sich trug. Und das sind die Wurzeln der Katastrophe.
Die unendlich blutigen Explosionen von Wohnhäusern begann in der Stadt Bujnaksk. Gegen Mitternacht explodierte dort ein Wohnhaus, in dem Frauen, Kinder und alte Menschen schliefen. Zu Dutzenden wurden sie unter den Trümmern begraben. Verletzte gab es praktisch nicht. An dem Platz, wo das Haus stand, befand sich nur noch ein Haufen aus Steinen und Müll. Der Anblick war unbeschreiblich schrecklich. Die Bewohner der benachbarten Häuser, Verwandte, Freunde, Bekannte standen daneben und weinten. Die Öffentlichkeit, die Geheimdienste, hohe Beamte unterschiedlichster Ebenen waren zunächst einfach nur ratlos. Es kursierten verschiedene Gerüchte und Versionen bezüglich dieser ersten Explosion eines Wohnhauses. Wie immer war eine „heiße Spur“ der Verbrecher und ihrer Auftraggeber nicht zu finden.
Bald nach der Tragödie in Bujnaksk folgte eine weitere Explosion in Moskau. Am 31. August 1999 detonierte eine Bombe im Saal der Spielautomaten des Handelskomplexes auf dem Manegenplatz. Die Ausmaße der Explosion waren um vieles geringer als die in Bujnaksk. Die Mauern des Handelskomplexes waren eben stabiler gebaut, außer natürlich im Spielsaal und einigen benachbarten Boutiquen. Das Resultat: Dutzende zersplitterter Vitrinen und eine Person musste zur Behandlung ins Krankenhaus. Der FSB (ehemaliger KGB) stellte eine Reihe von Versionen auf. Die erste betraf die tschetschenische Boewniki, die zweite eine gewisse Geheimorganisation mit dem Namen Bund Revolutionärer Schriftsteller und die dritte – ganz banal – Rowdys.
In den ersten Septembertagen favorisierte der Pressedienst des FSB immer mehr die erste Version. Weiter hieß es, dass sie die Ermittlungen fürs erste abgeschlossen hätten, da es vom Augenblick der Explosion keine weiteren Informationen gäbe. Nach der ersten Explosion in Moskau wollte das Regime die Verstärkung der Patrouillen auf den Straßen, Bahnhöfen und den Metrostationen einführen. Die schon seit vielen Jahren anhaltende Praxis der Ausweiskontrollen durch die Miliz, häufte sich nun vor allem bei Personen kaukasischer Nationalitäten. Aber nicht nur die Ausweise wurden kontrolliert, bei ihnen wurden auch Taschen, Beutel, Manteltaschen usw. durchsucht. Und was sagte der Oberbürgermeister von Moskau Juri Luschkov: „Wir werden die härteste Maßnahme gegen Überfremdung in unserer Stadt, gegen die hier untergebrachten Gastarbeiter durchführen“2. In dieser Phase der terroristischen Epoche tauchten keine Erklärungen seitens der Schuldigen auf, alles verlief ohne ausdrucksvolle Phrasen und Erörterungen. Aber die Banditen beabsichtigten keineswegs diese Aktionen einzustellen und verübten einen weiteren Akt des Terrors. Am 9. September, nur eine Woche nach dem ersten Anschlag in Moskau, explodierte ein Wohnhaus in Moskau, in der Gurjanova Straße. Sie detonierte um fünf Uhr morgens, als sich praktisch alle Bewohner in ihren Wohnungen befanden. Die operativen Einsatzkräfte konnten anhand des Ausmaßes der Zerstörung ermitteln, dass 350 kg (!) Sprengstoff verwendet wurden. Es stürzten ganze zwei Aufgänge eines neun stöckigen Wohnhauses ein. Die Zahl der Opfer betrug mehr als 100 (!). Diese Explosion ließ die gesamte Russische Bevölkerung einfach nur verstummen, vom einfachen Bürger bis zum Präsidenten Jelzin. Gleich nach diesem Terrorakt erschien in der Presse eine Mitteilung Chattabs: „russische Frauen und Kinder werden zur Verantwortung gezogen für die Taten der Generäle.“ – erklärte er in einem Exklusivinterview in der tschetschenischen Zeitung „Lidovoe noviny“. Chattab sagte weiter: „In der vergangenen Zeit kämpfte ich lediglich gegen die Armee. Gegen die Bürger habe ich nie gekämpft. Aber nach den Erfahrungen in Dagestan, nach diesen Geschehnissen, werden nicht nur russische Soldaten zur Verantwortung gezogen, sondern alle russischen Völker. Ich habe ein Ziel, das alle Muslime die sich früher unter der Kontrolle der Russen in den Grenzen der UdSSR befanden, sich heute von der russischen Staatsknechtschaft befreien. Weil Russland heute keine Ordnung und kein Geld hat, hat dieses Land für niemanden einen Nutzen. Das ganze russische Volk stirbt vor Hunger. Dennoch gibt es einige, die die sogenannte gewaltige russische Armee fürchten. Eins weiß ich genau, dass nichts gewaltig ist an der russischen Armee. Sie haben Geschütze, Hubschrauber und Flugzeuge – aber keine Kämpfer.“3 Durch diese Äußerung kann jeder x-beliebige normale Mensch einschätzen, wie scheußlich die Russophobie und die Drohungen gegenüber unschuldigen Menschen ist. Sie gilt auch als Beweis dafür, dass die Aktionen auf islamische Extremisten zurückzuführen sind, hauptsächlich auf Basaev und Chattab. Später, nach vier Tagen, am 13. September 1999, ereignete sich ein neuer Terrorakt in Moskau, in der Kaschirski Chaussee. Es explodierte noch ein Hochhaus. Sie detonierte um Fünf Uhr morgens, als in fast jeder Wohnung Menschen schliefen. Die Anzahl der Opfer betrug ebenfalls mehr als 100 Menschen, über die materiellen Verluste reden wir nicht mehr. Die Sprengkraft entsprach einer Stärke von 300-350 kg Sprengstoff. Dabei ging man nach ein und demselben Schema vor. Zunächst mietete ein gewisser Lajpanov in dem Wohnhaus einen Raum in der ersten Etage an, um dort ein Lager einzurichten – später stellt sich heraus, dass dieser Mann schon seit einigen Jahren tot ist. Danach wurden dort ganz offen, Zuckersäcke gelagert, in denen der Sprengstoff beigemischt war, und einige Quellen behaupteten, dass sich irgendein bekannter Feldkommandeur zu dieser Angelegenheit geäußert hätte. Danach seien allein in Moskau 10 Sprengstoffanschläge geplant. Darüber hinaus in St.Petersburg, Klina und anderen Städten Russlands. Die „Spezialdienste“ überschlugen sich geradezu auf der Suche nach Sprengstoff, den Terroristen und allen, die mit ihnen in Verbindung stehen. Bereits zwei Tage nach dem 13. September wurden in der Hauptstadt Durchsuchungen im breit angelegtem Maßstab eingeleitet. Es sollten alle Dachkammern und Kellerräume, sowie unbewohnte Objekte in den jeweils ersten Etagen durchsucht werden. Gefunden wurden: „militärische Schusswaffen – 45 einzelne; verschiedenes Kriegsgerät – 1345 Stück; Sprengstoff – 2100 kg. 4822 Personen wurden verhaftet, die allein deshalb verdächtig waren, weil sie in Moskau nicht registriert waren, dies erst nach zwei Tagen, als gerade mal 8000 Räume durchsucht wurden. Im Ganzen dürfte es um vieles mehr sein, die Durchsuchungen werden fortgesetzt.“4 In dem Moskauer Bezirk Borosovski Prud sind in einem Wohnhaus Hunderte Kilogramm Sprengstoff in Zuckersäcken gefunden worden, in denen sich ein Zeitzündermechanismus befand. Vielen schien es so, dass nach diesen sorgfältigen Durchsuchungen der Häuser und der Bevölkerung die blutige Kette der Explosionen ihr Ende gefunden hat. Aber dem war nicht so. Der blutige Streifzug der wahnsinnigen Extremisten (anders kann man diese Leute einfach nicht nennen) machte einstweilen Station im Rostowskaja Gebiet – am 16. September 1999 in der Stadt Wolgodonsk. In einem der Stadtbezirke von Wolgodonsk explodierte ein mit Hexogen (ein sehr leistungsfähiger Sprengstoff, der nur industriell hergestellt wird) vollgestopfter Lkw. Auf dem Lkw befanden sich zwischen 600 und 800kg (!) Sprengstoff. An der Stelle, an welcher der Lkw stand, hinterließ die Explosion einen riesigen Trichter und zerstörte eine Häuserzeile von 10 Wohnhäusern. Von den nahegelegenen Häusern standen nur noch Pfähle. Das Ergebnis: 20 Tote, hunderte Verletzte und verstümmelte. Das Problem wurde auch dadurch verstärkt, dass nun viele Menschen ohne Wohnung, ohne Nahrung und ohne Kleidung auskommen mussten. Wie gesagt, nach der Explosion bezeichneten die Experten die Grundmauern der Häuser als riesige schneidende Messer. Mit einem Wort, die vorgefallenen Ereignisse kann man als Herausforderung an das russische Volk qualifizieren. Eine Herausforderung seitens von Marodeuren, Mördern und Unmenschen. Hier natürlich, erhebt sich die Frage nach den Versionen aller dieser, man kann sagen, Katastrophen. Es ist grundsätzlich notwendig, realistische Varianten zu analysieren.
Die erste Version, die sich, als all diese Tragödien begannen verbreitete, sah in den Anschlägen eine „Provokation des russischen Geheimdienstes“. Im wesentlichen bezieht Sie sich auf die reaktionären Kräfte, die sich dem Jelzin Regime und alle dem Präsidenten unterstellten Behörden angepaßt haben. Sie werden als „abscheulich, pro-westlich und käuflich“ eingeschätzt. Selbstredend kann von dieser Gesellschaft auch nichts Vernünftiges erwartet werden, Vernunft entspricht nicht ihrem Charakter. Hinzukommt zweitens, dass es praktisch unmöglich ist, solche ungeheuerlichen Verbrechen zu begehen, ohne eine ziemlich große Anzahl von Leuten und die technischen Mittel heranzuziehen (Hunderte Kilogramm Sprengstoff). Unter Berücksichtigung all dessen basiert diese Variante darauf, das gerade in den „Spezialdiensten“ FSB und MVD (Innenministerium) usw. eine große Anzahl von Leuten arbeitet, die sich nach unterschiedlichen politischen Kreisen orientieren, sich allerdings auch nach Finanz- und Industriegruppen richten, oder nach kriminellen. Zwischen diesen Gruppen herrscht ein unversöhnlicher Krieg, der sich natürlich negativ auf die politische Stabilität in Russland auswirkt.
Die zweite Version spricht eine Mittäterschaft bekannter „Linksradikalen“ das Wort. Denn von ihnen ging schon eine ganze Serie von Sprengstoffanschlägen gegen Denkmäler des letzten Imperators Russlands Nikolai II. aus. Für diese Version gibt es allerdings keine ernstzunehmenden Fakten oder Beweise. Es ist schon lange bekannt, das diese „linken“ Bombenwerfer entweder eine Macke haben, oder zum Personenstand derjenigen Provokateure gezählt werden, die sich an L. Berija, Pol Pot oder Mao orientieren. Und noch ein Argument, dass ihre Mitwirkung ausschließt: diese „Linken“ haben nicht die technischen Möglichkeiten für die Ausführung eines Terroraktes in diesem großen Umfang.
Die dritte Version geht von Rowdys aus. Aber es dürfte ja klar sein, dass Rowdys auf diese Weise vorgehen, ist einfach unmöglich.
Die vierte und verbreitetste Version führt zu den Boewniki Chattabs, Basajevs und nach verschiedenen Angaben zu ihrem Mäzen, dem Terroristen Nr. 1 auf der Welt, Uslam Ben Laden. Im oben genannten Zitat Chattabs sprach er sich offen dafür aus, den Kampf gegen Russland und das russische Volk zu führen. Die Vernichtung und Ausweisung der Boewniki und ihrer anführenden Feldkommandeure zwangen die Extremisten, sich auf ganz grausame Weise zu rächen. Und noch ein Argument könnte diesem Aspekt dienen. Dieses besteht darin, dass in Russland solche großen, strukturellen, organisatorischen, bewaffneten und finanzstarken Kräfte nicht existieren, welche so professionell, im großen Maßstab diese Verbrechen unter den Menschen verüben könnten.
Darum sieht es so aus, dass die letzte Version um vieles glaubwürdiger und logischer als alle anderen erscheint. Aber dennoch, es sind alles nur Vermutungen, von denen nicht eine Version sehr stichhaltig ist. Es ist vor allem wichtig, die Folgen zu sehen, welche natürlich ein Verhältnis bilden, zwischen faktischen und propagandistischen Nutzen der Anschläge und dem wachsenden Aufklärungsdruck. Verschiedene Parteien, Bewegungen und annähernd alle sichtbar politisch Handelnden äußerten sich zu dieser Tragödie, gaben ihre Einschätzung ab, beschuldigten, prangerten an, versuchten die öffentliche Meinung in ihre Richtung zu lenken, schufen und verbreiteten Wahlkampagnenelaborate. Vor dem Hintergrund der Parlamentswahlen im Dezember ist das Wesen der Politik vor allem Inszenierung – gehaltvolle Reden, die nichts bewirken. Unter dem Druck der Situation werden sogar die absolute und endgültige Vernichtung Tschetscheniens, bis zum Abwurf der Atombombe gefordert – solche Aussagen und Tendenzen haben dort ihren Platz! Diese Reden werden mit Nationalismus und insbesondere mit einer Kasachophobie geradezu durchgepeitscht. Denn ausgerechnet mit der nationalistischen Karte will die Gesellschaft das Problem aus der Welt schaffen. „Ich nehme eine Bombe, gehe zum Basar und sprenge sie alle weg!“ – schrie eine Frau vor laufender Kamera im Fernsehen, den Blick auf Menschen aus dem Süden (Tschetschenen, Aserbidschaner, Grusinier, Tadschiken und anderer) gerichtet. Und genau solche Veröffentlichungen provozieren, heizen an und führen die Menschen zu nationalistischen Pogromen. Ohne Frage, das ist abscheulich und sehr gefährlich, gerade für einen Vielvölkerstaat wie Russland. Letztendlich wird mit dieser Kavkasophobie und dem Antisemitismus eine Basis für die russischen Faschisten geschaffen. Sie präsentieren sich immer mehr als reale politische Kraft. Das ist genauso absurd wie gefährlich. Ein anderer Teil der Gesellschaft versteht nur all zu gut, dass vernichten, hetzen, beleidigen irgendeines Volkes – nicht nur falsch, sondern auch kriminell ist. Jelzin hingegen präsentierte sich in dieser Angelegenheit allzu gerne liberal in dem er sagte: „Der Feind hat kein Gewissen, kein Mitleid und keine Ehre, keine Persönlichkeit, Nationalität und Glauben. Geachtete Persönlichkeiten aber haben eine Nationalität und einen Glauben.“5 Praktisch aber operieren die Truppen Jelzins (Bundestruppen) erneut auf tschetschenischem Territorium und fallen dort auch über friedliche Menschen und Siedlungen her. Nur bekämpfen darf man nicht das tschetschenische oder eine beliebiges anderes Volk, wohl aber die Extremisten und Banditen, egal welcher Nationalität. Banditen gibt es überall, sowohl russische Mafia, als auch die tschetschenische, deutsche, abchasische. Und dies ist natürlich kein nationales Problem Russlands. Die Hauptaufgabe der Nationalisten und Faschisten (und aller ihrer Handlanger) besteht darin, dass sie Völker und Menschengruppen gegeneinander aufhetzen, um die Interessen der eigentlichen Schurken zu verteidigen, so wie das der Barkaschov, Limonov, Schirinovski, Basajev, Chattab, Ben Laden und Co. Hier kreuzen sich grundlegende Unterschiede zweier Prinzipien (Nationalismus und Internationalismus). Das indes hat die Gesellschaft fürs Erste nicht begriffen und zieht dementsprechend keine praktischen Schlussfolgerungen. Der eigentliche Kampf gegen die Freischärler und Terroristen, gegen Nationalisten und Faschisten wird sich noch als sehr kompliziert erweisen.
Zur Zeit ist viel von „Banditen-Völkern“ die Rede. In Wahrheit jedoch sind die eigentlichen Feinde des Volkes diese falschen, ekelhaften Scheusale, die an dieser Hatz profitieren oder die, die Bomben in Wohnhäuser legen.
¹ (Zitat aus einem Artikel von Magomeds Tagaebs, veröffentlicht in der Zeitung „Kaukasische Konföderation“ Nr.3, März 1999)
² („vremja mn“ Nr. 168, 14. September 1999)
³ („novaja gaseta“ nr. 34, vom 13. – 19. September 1999)
4 (berichtete die „parlamenskaja gaseta“ vom 15. september 1999, nr. 174)
5 („parlamentskaja gaseta“ nr. 173, 14.09.99)
© telegraph. Vervielfältigung nur mit Genehmigung des telegraph