June 1978

aus telegraph #3 _ 1999
von Katharina Lenski

Werkstätten sind Orte an denen die Sirene schreit, an denen alles dem Volk gehört und es bei guter Beziehung zum Lagerarbeiter oder SED-Funktionär auch mal was davon abkriegt.

Die ersten, kleineren Werkstätten, Ende der sechziger und Anfang der siebziger Jahre von Mitgliedern Junger Gemeinden und engagierten Pfarrern in Kirchen organisiert, gaben dem Begriff die ursprüngliche Bedeutung zurück. Diese selbstorganisierten Veranstaltungen wurden in Form von Gottesdiensten oder Gemeindeveranstaltungen abgehalten.
Durch die Gospel- und Spiritualbewegung inspiriert, wurden neue Rhythmen in die Kirchenmusik aufgenommen. Die Beat-Musik und später der Blues wurden von anderen bewusst aufgenommen, um sich selbst auszudrücken.

Erste Bands entstanden, die ohne Lizenz innerhalb der Kirche vor Publikum auftraten. Werkstatt der Musik, ohne staatliche Auftrittserlaubnis: Dies war revolutionär. Und es sorgte für Krach zwischen Staat und Kirche. Beispiele sind die „Gottesdienste anders“ in Zella-Mehlis und Rudolstadt Ende der 60er und Anfang der 70er Jahre. Langsam begann es, in den Köpfen zu brodeln.

Nach 1976 zeichnete sich immer deutlicher ab, dass diese kleinen Werkstätten nicht mehr ausreichten.

Die vielen nicht beantworteten Fragen der Jugendlichen verlangten nach Antwort, nach Angeboten.

Nach Angeboten, die ihnen die Möglichkeit offen hielten, sich selbst für oder gegen etwas zu entscheiden.

Hintergründige und offene Aggressionen Jugendlicher, die Ungerechtigkeiten im täglichen Leben, die Brutalität der Staatsmacht und die Sorge um die Weltereignisse waren Probleme, denen sie sich stellen wollten und mussten, die besprochen und verarbeitet werden wollten. Die Orientierungslosigkeit der Jugendlichen zwischen Bedrückung durch den Staat und „…hintergründiger Aggression…“ verlangte nach Inhalten.

„Man müsste mal wieder was machen!“
überlegten Jugendliche der Jungen Gemeinden in Rudolstadt und Saalfeld.

Aber diesmal sollte es groß, richtig groß sein. Jugendliche aus dem ganzen Land sollten kommen können.

Eine DDR-weite Veranstaltung? Und das Thema? Ein Thema muss her, welches die Brücke von den persönlichen Problemen der Jugendlichen zu Weltproblemen schlägt. Die Sicherheitsbehörden werden unsere Inhalte zum Anlass nehmen, um uns mundtot zu machen. Nehmen wir die UNO-Thematik 1978: Thema Apartheid! Unter dieser Überschrift sind wir offiziell konform mit der DDR-Politik. Der Staat wird schlecht Argumente finden, das Thema abzuwürgen! Und das Ganze DDR-weit? Unmöglich! Warum nicht?

Gemeinsam könnten wir es schaffen. „Trau dir selbst und den anderen etwas zu!“ Wir sind besser, als wir denken! Wann? Juni wäre der richtige Monat! Die Idee JUNE 78 ist geboren: junge Menschen treffen sich im Juni 1978 – reißt Eure müden Glieder hoch, bei uns geht jetzt die Post ab! Etwa dreißig Jugendliche und junge Erwachsene und die Pfarrer Koch und Schilling planen, organisieren in zehn Sitzungen und tausenden Einzelgesprächen das Superding. Ihre Augen leuchten, es macht einen Riesenspaß zu merken, wie gut mensch gemeinsam an einem Strang ziehen kann.

Mitten in die ein gutes halbes Jahr dauernde Vorbereitung platzen die Hiobsbotschaften, besonders die letzte sitzt tief, setzt Aggressionen frei, drängt weitere Jugendliche, einen Ausreiseantrag nach Westdeutschland zu stellen: Während des Pressefestes vom 26. bis 28.5.1978 in Erfurt knüppelt die Polizei Jugendliche nieder, diese wehren sich: die Hundestaffel wird eingesetzt. Einmalig in solchem Ausmaß ist dieser Einsatz in der DDR-Geschichte. „Er habe sich in kirchlichen Krankenhäusern umgesehen und festgestellt, daß diese voll belegt sind mit Verletzten. Er wüsste von zuverlässigen Quellen, dass es zwei Tote und 700 Verletzte gegeben hätte. Das medizinische Personal hätte zum Ausdruck gebracht, daß solche Bissverletzungen durch die eingesetzten Hunde noch nie gesehen wurden. Es seien teilweise die Leber und Eingeweide herausgerissen worden… Die VP habe den Befehl gehabt, rücksichtslos gegen die Anwesenden einzuschreiten…“ so wurde laut Bericht eines Inoffiziellen Mitarbeiters der Bezirksverwaltung des Ministeriums für Staatssicherheit Karl-Marx-Stadt informiert. Entsetzen über die Brutalität der Polizei, Vergleiche zum Dritten Reich werden angestellt: Ist es schon wieder soweit? Angst, Ohnmacht und Misstrauen machen sich breit, Radikalisierung setzt ein.

Am 29.6.78 Krisensitzung beim Superintendenten von Rudolstadt: Seid bitte, bitte vorsichtig! Die Behörden stehen Kopf, die Polizei ist gereizt, sagt den Jugendlichen, sie sollen sich bitte um Gottes willen und um jeden Preis ruhig und diszipliniert verhalten… wenn sie die Hundestaffel einmal eingesetzt haben – wer hindert die Polizei, dies ein zweites Mal zu tun? Am 30.6.78 werden die beiden Hauptverantwortlichen für JUNE 78, die Pfarrer Koch und Schilling, zum Rat des Kreises/Inneres bestellt: „…Es läge die Nachricht vor, daß 300 Jugendliche aus Berlin mit dem Schlachtruf: „Rache für Erfurt!“ auf dem Weg seien und daß die Staatsorgane unter diesen Umständen bei irgendwelchen Unruhen sich genötigt sehen müssten, mit Polizeigewalt einzugreifen. Pfarrer Schilling bat dringend darum, dies auf keinen Fall zu tun, außerdem halte er genannte Meldung für ein pures Gerücht. Er verwies zudem darauf, daß JUNE 78 jede Verantwortung für eventuelle Vorkommnisse im Zusammenhang mit Veranstaltungen in der Blankenburger Stadthalle ablehne…“

Die Blankenburger Stadthalle war ein staatlicher Jugendklub, in dem Diskos organisiert wurden, während derer Prügeleien an der Tagesordnung waren. Die Verantwortung für solche Prügeleien zum Zeitpunkt von JUNE hätte den Veranstaltern in die Schuhe geschoben werden können, was ernste Konsequenzen nach sich ziehen konnte. Durch die Aussprachen waren die Veranstalter nochmals unter Druck gesetzt worden. Klar war, dass sie förmlich und öffentlich auf die Drohungen reagieren mussten: „…Die vorbeugenden Maßnahmen fanden bei der Eröffnung in der Aufforderung des Superintendent Sondershaus und Pfarrer Koch ihren Ausdruck…“, „…Danach ergriff Pfarrer Koch das Wort, orientierte auf den Ablauf der Veranstaltung und nochmals auf ein ordentliches Benehmen, insbesondere auch außerhalb der Veranstaltuhgsstätten.

Wörtlich forderte er, daß die Jugendlichen jeder Konfrontation mit staatlichen Dienststellen aus dem Wege gehen sollten…“. Hinter all den Drohungen stand, das ist heute erst klar, ein Funkspruch aus der Berliner Bezirksabteilung XX/4 des Ministeriums für Staatssicherheit vom 29.6.78, dem Tag vor JUNE-Beginn: Hinweise auf geplante Störungen Jugendlicher, die bei JUNE in Rudolstadt „Rache für Erfurt“ nehmen wollen. Die staatliche Maschinerie wurde mobilisiert: Am gleichen Tag noch setzte sich der Stellvertreter Inneres/Kirchenfragen beim Rat des Bezirkes Uerkwitz mit Oberkirchenrat Mitzenheim in Verbindung. Anders ausgedrückt: lMV „Kramer“ telefonierte mit lMV „Klinger. (Die Bezeichnung „lMV“ bedeutet: Inoffizieller Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit mit „Feindberührung“, also die Spitzel, welche direkt mit unliebsamen, zu verfolgenden Leuten in Berührung kamen.) In Folge des Telefonates musste der für Jugendarbeit verantwortliche Oberkirchenrat Frommans-hausen mit dem zuständigen Superintendenten Kirchenrat Sondershaus ein neuerliches Gespräch führen, „…wo dieser nochmals auf die unbedingte Einhaltung der Disziplin durch die Jugendlichen hinwies, um jegliche Konfrontation mit staatlichen Institutionen zu vermeiden…“

Da die staatlichen Behörden erst im Juni erkannten, welche Brisanz die Veranstaltung unter Umständen entwickeln könnte, reagierten sie erst zu diesem Zeitpunkt und setzten staatliche bzw. staatssicherheitsdienstliche Vorgaben um. Dies bedeutete in der Praxis: Aufgebot von Stasi, Staat, Verwaltung und Kirchenoberen, um neben der kurzfristigen Befriedung wenn nicht Verhinderung von JUNE 78 langfristig diese Treffen der „Offenen Jugendarbeit“ zu verhindern. Bedeutete: Aussprachen über Aussprachen; einen langen und bürokratischen Weg, um Genehmigungen zu erlangen: für die (handgefertigten) Plaketten und Plakate, für Bockwürste, für Schlafplätze (in kircheneigenen Räumen). Bedeutete danach: Ordnungsstrafen und Einsprüche dagegen, große und kleine Schikanen sowohl von kirchenleitenden Spitzeln wie den Oberkirchenräten Schäfer und Mitzenheim oder dem Kreiskirchenrat Kirchner als auch von staatlichen Institutionen wie der Transportpolizei. Ausgenutzt wurde jeder noch so kleine Fehler, um Ordnungsstrafen in die Wege zu leiten, disziplinierende Gespräche zu führen und Stimmung gegen ein erneutes JUNE zu schüren.

Während die Stasi aufrüstete, bereiteten die Rudolstädter und Saalfelder Jungen Gemeinden „JUNE 78“ unter dem Thema „Apartheid“ vor. Drunter stand in großen Lettern: „Trau dir selbst und dem anderen etwas zu „. Trotz vieler Stolpersteine und Hürden stand während der Veranstaltung der eigene Inhalt im Vordergrund, eine festivalähnliche Atmosphäre entstand. Ein Festival, nicht vom FDJ-Jugendklub organisiert, sondern von Gleichgesinnten: das war revolutionär, etwas Neues. Und: es war anstrengend. Um JUNE in der Öffentlichkeit bekanntzumachen und um es zu finanzieren, waren in Handarbeit hergestellte Plaketten in der ganzen DDR verteilt und verkauft worden. Diese trugen neben der Aufschrift „JUNE 78“ das Symbol einer schwarzen Kerze. Überall waren sie verteilt worden, viele Menschen hatten sich bereits angemeldet. Und es stellte sich heraus, dass es gar nicht so einfach, aber doch machbar ist, mit wenigen Möglichkeiten JUNE zu organisieren.

Was hast du heute rausbekommen wegen der Bockwürste? Fleischerei Müller ist mit fünfzig Stück ausgebucht, Vorbestellung im Bergkonsum 30 Stück haben sie angenommen, Fleischerei DietI und HO zusammen 100 Stück… hm, schnell, geh doch nachher… frag mal nach, wie viel wir noch in Saalfeld kaufen können… dann hat der Konsum Rudolstadt die Brotbestellung nicht angenommen – woher noch Brot nehmen? Fragt nach, ob die Jenaer noch Bier mitbringen, die Brauerei aber trotzdem noch mal fragen, ob sie am Samstag für einen Zehner Trinkgeld noch mal liefern… haben abgesagt, Mist. Jetzt ist auch noch der Trabbi von Walter ausgefallen -Sabotage? – Jemand auftreiben, der ein Auto hat, damit wir im Umland kaufen können. Der Kraftfahrer für Notfälle ist ab Freitagabend da. Jetzt will die Hygiene noch mal die Toiletten kontrollieren, die nehmen es ja ganz schön ernst. Glauben die denn, wir wissen nicht, dass ein Klo ein Klo ein Klo ist? Dieser ganze staatliche Misthaufen, ohne ihre Klos wären sie nichts! Da haben sie mir neulich gesagt, dass ohne Gesundheitspass nichts ist mit Bockwürste verkaufen. Wer keinen besitzt, darf keine Bockwurst über den Tisch reichen. Sie waren stinksauer, als ich meinen Gesundheitspass zückte. Dafür hat die Krankenschwester zugesagt und einen Arzt haben wir endlich auch gefunden. Das ist wichtig. Hoffentlich müssen sie nicht eingesetzt werden.

Am Samstag um 18.00 Uhr wird es voller als gedacht: Wir brauchen drei Ordner mehr. Wer will? Wer kann?

Am Samstagabend fehlen fünf Ordner, dafür sind am Freitagabend und Sonntagfrüh mehr als nötig eingeteilt. Die Vogtländer kommen mit dreißig Leuten mehr. Wer hat noch Schlafplätze frei? Telefon ist klar? Super! Es ist gar nicht so einfach, heutzutage jemand zu finden, der Telefon hat. Vergesst nicht, Euch in den Plan einzutragen, sonst sehen wir nicht mehr durch. Bettina Wegner und Schlesinger sind ausgefallen? Kommen nicht? Haben sie ihnen verboten… Francine Chavis auch? Wir müssen improvisieren. Programmumstellung. Jetzt erst mal eine Zigarette. Die „Karo“ sind alle. Ich hab noch. Danke. Martin Stade kommt. Er liest. Okay, dann also Lesung statt Wegner/Schlesinger. Dafür am Samstagvormittag thematische Einführung…

Das Thema „Apartheid“ spannte den Bogen vom Umgang mit Behinderten über die Ausgrenzung „Anderer“ und der Schikane gegen langhaarige, unkonventionell gekleidete Jugendliche über die Arroganz der Deutschen gegenüber Ausländern und Ausländerinnen bis hin zum Rassismus in Südafrika. Eine Mappe mit Texten, die in den Veranstaltungen vorgelesen wurden, spiegelten greifbare Erlebnisse und eröffneten die Möglichkeit des Nachdenkens über sich und andere, zu Gesprächen, einer Reflektion. Lesungen, Ausstellung, Plakatbasar und Musik, die von mittelalterlichen Klängen über Chansons bis hin zu Folk-Blues die ehrwürdigen Gemäuer der Stadtkirche erfüllten, bereicherten die Veranstaltung auf weiteren Ebenen. Statt der angekündigten vier- bis fünfhundert Jugendlichen kamen mehr als doppelt so viele, an die 1200 Jugendliche. Das Weitersagen von Mensch zu Mensch – der Buschfunk – und die Plaketten hatten das Ereignis republikweit bekanntgemacht. Und es funktionierte! Anstatt des erwarteten Aufruhrs wurde ein großes Fest gefeiert, ein ganzes Wochenende lang.

Die Polizei war zwar präsent, hielt sich aber zurück, zumal die Jugendlichen keinen Anlass zum Einschreiten boten. Im Gegenteil, die Jugendlichen wurden von braven Bürgern angepöbelt, und sie schafften es, diese zu beruhigen. Vor dem Hintergrund der Ereignisse des Pressefestes ist das Verhalten der Jugendlichen als besonnen zu würdigen. Das von Frieder Burkhardt übernommene Wort Uwe Kochs beim Abschlussgottesdienst: „Provoziert zur Güte!“ hakte sich in den Köpfen der Jugendlichen fest, bedeutete auch: Wir haben es nicht nötig, mit den Mitteln des Staates auf diesen zu reagieren. Wir können anders sein, wir sind frei genug, gegen unmenschliche Verhaltensweisen in dieser Gesellschaft vorzugehen. Wir können auch fantastisch fantasievoll, liebevoll oder konsequent handeln! Wir haben es nicht nötig, unser Leben an Feindbildern zu orientieren: Wir können, wenn wir dies wollen, eigene, humanere Normen entwickeln!

„Danke, Ihr JUNE- Leute für dieses tolle Wochenende! Hier wurde uns kein Anspruch übergestülpt. Wir sind mutiger zurückgefahren. JUNE 79! Let’s go on!“

Es gab allerdings die Ansprüche staatlicher Normen, und die Behörden registrierten alles gegen diese sehr genau. Es ereignete sich am Sonntagmorgen von JUNE 78, am Marktbrunnen in Rudolstadt. Sage und schreibe fünf Jugendliche nahmen eine unzüchtige Handlung vor: Sie alle putzten sich mit einer einzigen Zahnbürste die Zähne! Dies versetzte brave Bürger in Aufruhr und wurde schriftlich festgehalten. Aussprachen mit den Veranstaltern folgten. Diese lachen noch heute…

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