aus telegraph #3 _ 1999
von Jobst Bürkle
Bis zur Wende war ich stolzer DDR – Anhänger. Ich brauchte zwar zehn Jahre und fünf Antragstellungen, bis mir die Gnade zu teil wurde, 1989 kurz vor Toresschluss in die SED aufgenommen zu werden. Zu keiner Zeit hatte ich aber ein Interesse, bewusst den Stachel wider des Systems zu löcken. Insofern ist die Frage „wie weit man gehen konnte“ durch mich nicht beantwortbar. Vielleicht kann der Blick eines ehemaligen Systemträgers auf ein legendäres DDR-Kulturhaus mit dem Abstand eines Jahrzehntes, einen kleinen Beitrag zur Diskussion liefern.
Das „HdjT“, heute das elitäre Westkultur-Haus „Podewil“, in der Klosterstraße direkt hinter dem ehemaligen DDR – Ministerrat, war das bedeutenste Kulturhaus Berlins, manch einer sagt auch der DDR. Obwohl hoch oben an der Fassade neben den Lettern „Haus der jungen Talente“ das FDJ – Emblem prankte und eher den Eindruck eines Pionierpalastes suggerierte, war drinnen nichts vom spießigen Charme eines FDJ – Jugendklubs oder Kreiskulturhauses zu spüren. Dies war vor allem den Machern des Talente, wie das Publikum das „HdjT“ nannte, geschuldet. Das Haus selbst war direkt dem Magistrat von Berlin unterstellt und somit staatlich finanziert und kontrolliert. Die sonst übliche, direkte Einflussnahme in solchen Einrichtungen über sogenannte Jugend- und Kulturinstrukteure der Bezirks- und Kreisleitungen von SED und FDJ unterblieb. Außer bei sogenannten zentralen Veranstaltungen, wie zum Beispiel das Festival des politischen Liedes, erfolgte die direkte Einflussnahme nicht über FDJ und SED, sondern über den jeweiligen Direktor des Hauses und dem Bereichsleiter auf der staatlichen Leitungsebene. Das hinter diesen staatlichen Leitungsebenen immer die gesellschaftlichen Instanzen standen und somit immer präsent waren, wusste jeder, aber solange man in Ruhe gelassen wurde, störte dies auch niemanden.
Das die „Macher“ des Hauses in ihrer Alltagsarbeit vom ideologischen Firlefanz des Instrukteurunwesens verschont blieben und damit für DDR – Verhältnisse relativ große Freiräume für kreative Kulturarbeit hatten, war vor allem der Tatsache geschuldet, dass diese aus der Ende der sechziger, Anfang der siebziger entstandenen, spezifisch DDR – orientierten, Jugendkulturbewegung entstammten. Die vor allem in dem Entstehen einer eigenständigen DDR – Lied- ( einschließlich der Anfänge der DDR-Rockmusik) und Singebewegung ihren Ausdruck fand. Die wird heute zwar von der derzeitig gültigen Geschichtsschreibung zumeist als Reflex auf die West – 68´er gesehen, hatte aber meiner Meinung nach andere Ursachen. Ohne hier ausführlicher darauf einzugehen zu können nur kurz: Mit der ökonomischen Stabilisierung der DDR Ende der sechziger und der teilweisen innenpolitischen Öffnung nach Ulbrichts Sturz durch Honecker, Anfang der siebziger, konnten viele Jugendliche eine Perspektive in der DDR sehen. Materiell halbwegs sichergestellt, übersichtliche Bildungs- und Berufsperspektiven ohne soziale Schranken, der Glaube an die Appelle von Partei- und Staatsführung an die Jugend zur Teilhabe an der Gesellschaft, Vietnamkrieg und Solibewegung entwickelten bei einem Großteil der Jugend eine eigenständige DDR – Orientierung. In der damaligen Aufbruchstimmung war die Suche nach einer eigenen Identität und Lebensweise in der Gesellschaft, die gemeinschaftliche und selbstbewusste Auseinandersetzung mit Systemfragen wichtiges Bedürfnis. Aufbruch und Suche innerhalb der DDR fand in dieser kurzen Phase der politischen Öffnung ihren kulturellen Ausdruck unter anderem auch in der Entstehung einer eigenen DDR- Singe und Liedbewegung, die ihren Höhepunkt um die Weltfestspiele der Jugend und Studenten 1973 in Berlin hatte.
Sucht man nach dem Gehalt der spezifischen DDR – Jugendkultur bzw. deren künstlerischen Ausdrucksformen, muss man meiner Meinung nach in diese kurze aber kreative Zeit zurückkehren. „Aufbruch und Suche“ als Lebensgefühl verdeutlichte sich damals auch im gegenseitigen Austausch der künstlerischen Ausdruckmittel. Heutzutage undenkbar: Spätere Popgruppen wurden mit Liedern bekannt (Phudys), Rockbands mit klassischen Balladen (Sterncombo Meißen. Lift) oder Liedermacher mit Rock (Gundermann) und erreichten trotz medialer Westkonkurrenz damit ein Massenpublikum. Es war der Anfang der Entstehung des Besonderen an DDR – Musik, das noch heute, Jahrzehnte später, Hörer in nostalgische Verzückung geraten lässt.
Zu dieser Zeit, Anfang der siebziger wurde das HdjT zum Zentrum der DDR – Singebewegung. Seit 1968 spielte jeden Freitag der „Oktoberklub“ im Keller des HdjT. Mit dem „Kahn“, ein selbsthergerichteter alter Schlepperkahn an der Insel der Jugend in Treptow, entwickelte sich so etwas wie eine DDR – orientierte Liedermacherszene. Jeden Februar lud der „Oktoberklub“ internationale Künstler zu seinem Geburtstag ein, um gemeinsam zu singen und zu diskutieren. Daraus wurde das „Festival des politischen Liedes“, das über zwei Jahrzehnte Massen von DDR – Jugendlichen anzog. Bezahlt, geleitet und kontrolliert vom Zentralrat der FDJ wurde es später zum Aushängeschild der offiziellen DDR – Jugend und der „Oktoberklub“ zur Staatssingegruppe. Aus diesem Umfeld kamen die „Macher“¹ des HdjT und erklärt die Eingangs beschriebenen relativen Freiräume für das HdjT. Sie installierten neue Veranstaltungsformen, die den Bedürfnissen der DDR- orientierten Jugendlichen in dieser Aufbruchsphase entsprachen.
Neben jährlichen Festivals für die verschiedenen Genres, darunter so berühmte wie das Folkfestival oder das Jazzfestival, die ebenfalls Massen aus der ganzen Republik anzogen, vor allem die unterschiedlichsten Diskussionsforen, wie zum Beispiel der „Klub junger Philosophen“ oder der „Iskraklub“, in denen Jugendliche außerhalb der schulischen oder betrieblichen FDJ – Strukturen untereinander politische Fragen diskutieren konnten.
Meine erste Begegnung mit dem Talente hatte ich im Iskraklub, als ich als frisch gebackener EOS-ler am 7. Oktober 1977 auf dem Berliner Alexanderplatz an einer Massenschlägerei mit der Volkspolizei teilnahm. Ich wollte es als Beobachter dieses Events nicht akzeptieren, dass dies eine vom RIAS inszenierte republikfeindliche Aktion gewesen sein soll, wie uns in der Schule eingetrichtert wurde. Im Iskraklub des Talente aber wurde offen geredet und man konnte als Jugendlicher ohne Konsequenzen seine Meinung kund tun, ohne gleich als „Klassengegner“ oder „Republikfeind“ zu gelten.² Hier konnte ich damals über meine Beobachtungen vom Alexanderplatz diskutieren, ohne mein Abitur zu gefährden.
Gepaart mit den attraktiven kulturellen Angeboten, die jedes Genre bedienten und eine ähnliche Offenheit suggerierten, entstand eine faszinierende Atmosphäre, die den Besuchern den Eindruck vermittelten, an etwas Besonderem teilzuhaben. Dies band mich für Jahre an das Talente.
Mit materiellen und personellen Ressourcen, im Vergleich zu heute, hervorragend ausgestattet, konnte, vielleicht auch sollte, das Talente sämtliche Szenen auf hohem qualitativen Niveau bedienen. Jeden Montag spielten die DDR – Jazzer mit Gästen aus dem westlichen Ausland. Diese reizte der Kontakt zu Ostkollegen und manch einer kam auch mal privat als Gast. Die spontanen Auftritte montags im Talente sind unter den Kollegen noch heute legendär. Dienstags war Rock angesagt und alles, was an DDR – Rockbands gerade so angesagt war, spielte hier. Auch die, die woanders nicht immer Auftrittsmöglichkeiten fanden. Mittwochs waren die Folkis mit ihren Tanzveranstaltungen dran. Donnerstags die Literaten und Diskutierer. Freitags die Blueser und Liedermacher. Doch im Gegensatz zu heute, wo sich die Szenen streng von einander abgrenzen, ließen sich zwar die Veranstaltungen bestimmten Szenen zuordnen, das Publikum aber kam aus, und zu, allen. So stand der Hirschkopfbeutel der Blueser neben dem Nackenspoiler der Rocker. Dienstags wiegten sich die Fellfressen und Patchworkmädels der Folkis gemeinsam mit Hahnenkämmen gestylter Punks und Gruftis zu Klängen von DDR – Rock. Auch sozial waren die Veranstaltungen gemischt. Schüler, Lehrlinge, Arbeiter oder Studenten waren in allen Veranstaltungsreihen zu finden. Bei einem Eintritt von 4,05 Mark und einem Cola Wodka zu 1,60 Mark, spielten materielle und soziale Unterschiede kaum eine Rolle. Dresscode war eher Lebensauffassungsdarstellung, statt soziales Abgrenzungssymbol. Die Segregation der Szenen setzte nach meinen Beobachtungen erst gegen Ende der achtziger Jahre ein.
Aus dieser kreativen Mischung, sowie dem kritischen Berliner Publikum, entwickelte sich das Haus zu einer Art Kontakt- und Infobörse innerhalb und zwischen den Szenen, aber auch zu einer Probe- und Testbühne. Künstler oder Bands, die bei diesem Publikum ankamen, wussten das sie auf dem richtigen Weg waren. Nach dem Motto „wer´s im HdjT schafft – schafft´s überall“ wurde das Talente zu einem begehrten Auftrittsort und zog sogenannte „Kulturschaffende“ aus der ganzen Republik an. Da heraus entwickelten sich, vielleicht auch zur Beobachtung gewollt, große Möglichkeiten für die „Macher“ des Hauses auf eigene Initiative hin, jenseits von offiziellen FDJ – Jugendkulturprogrammen, Programmangebote zu entwickeln.
Kollegen besuchten und beobachteten einander, Techniker dealten mit geschmuggelten Equipment, Manager verhandelten über neue Projekte, Geldhaie suchten neue erfolgversprechende Bands zum Einkauf und an der Bar suchten Leute, die sich sonst mit Hosennähen und Schmuckhandel über Wasser hielten, nach neuen Jobs. Und so, Schritt für Schritt übernahm um die Mitte der achtziger der private kommerzielle DDR – Kulturbetrieb das Geschehen. Die Ordnungsgruppe wurde nicht von der FDJ gestellt, sondern bestand aus bezahlten Kräften, die diesen Job als Selbständige ausführten. Auch ich verdiente mir als Student viel Geld nebenher, der Kartenschwarzhandel unterlag auch damals schon Marktgesetzen. Auch wenn wir, meines Wissens nach die einzige private „Security“ in der DDR waren, bemerkten wir von besonderen Kontrollen und Überwachungen unserer Gruppe nichts. Auch im Umgang mit dem Publikum hatten wir freie Hand. Während in anderen Klubs zeitweise Punks oder Jugendliche mit Aufnähern „Schwerter zu Pflugscharen“ nicht eingelassen wurden, so lag das im Talente ausschließlich in unserem eigenem Ermessen und insofern jemand nüchtern war und eine gültige Karte besaß, war uns Aussehen, Szenezugehörigkeit und politische Ausrichtung egal. Selbst als gegen Ende der achtziger Jahre auch Skins das Talente besuchten, gab es von unserer Seite her keine Probleme, weil diese keine Nazisymbole trugen.
Erst Mitte der achtziger Jahre stagnierte das Talente in seinem qualitativen Niveau. Die Aufbruchstimmung und die Experimentierfreudigkeit in Entwickeln neuer Kulturangebote ging verloren. Die Foren der inhaltlichen Auseinandersetzung wie Iskraklub, Literatur- und Philosophenklub, hatten kaum noch Besucher und wurden nur pro forma weitergeführt. Einhergehend mit der beschriebenen Kommerzialisierung der Musiksparten gingen neue Musikrichtungen wie Punk, SKA usw. völlig am Haus vorbei. Neue Veranstaltungsangebote kamen nicht ins Programm. Dies hat meiner Meinung nach nichts mit einer Einflussnahme oder Druck von „oben“ zu tun, auch wenn dies heute manch einer behauptet, sondern spiegelte eine Umorientierung der Jugendlichen in dieser Zeit wider, deren Ausdrucksformen die von der Aufbruchsstimmung der siebziger geprägten und mittlerweile angepassten „Macher“ des Hauses nicht in der Lage waren aufzugreifen. Möglichkeiten dazu gab es zu genüge.
Vielleicht ließen sie sich auch von dem weiterhin steigenden Publikumsandrang blenden. Das Talente war zentral gelegen, in der Stadt gab es kaum größere Tanzmöglichkeiten, der Bedarf an einfacher Vergnügung stieg und Geld spielte keine Rolle. Insofern hätte man auch einen Besenstiel auf die Bühne stellen können, wenn danach ein DJ angesagt war, war das Talente ausverkauft. Man lebte vom früheren Ruf und war satt. So war es dann zum Ende der DDR nicht verwunderlich, dass die „Macher“ völlig überrascht, keinen Anschluss an die gesellschaftlichen Entwicklungen fanden und auch die Möglichkeiten, die die kurze Zeit nach der Wende bis zur Wiedervereinigung für neue selbstbestimmte Kulturprojekte bot, nicht nutzte. Zwar unterstützten sie den Gründungskongress der „Initative für eine Vereinigte Linke“ im Talente und organisierten die verschiedensten Diskussionsrunden, waren aber nicht mehr in der Lage eigenständige Konzepte zu entwickeln und auch umzusetzen. Da das Talente als zentrale Kultureinrichtung durch den Einigungsvertrag Bestandsschutz als Kultureinrichtung genießt, waren damals Fragen wie Übernahme und Abwicklung wichtiger. Das in die Abwicklungseinrichtung „Podewil“ nur einige Mitarbeiter aus der Verwaltung übernommen wurden, hat deshalb nicht nur mit der Arroganz und der Unkenntnis westdeutscher Kulturverwalter gegenüber der DDR – Jugendkultur, seinen Ausdruckformen und seinen Institutionen, zu tun.
Das Talente war nicht für die DDR – Jugendklubs- und Kulturhäuser typisch und kann somit auch nicht als Spiegelbild für Entwicklungen in der DDR – Jugendkultur dienen. Auf Grund seiner Lage und der systemloyalen Mitarbeiter boten sich aber besondere Mög lichkeiten für das Haus jenseits von FDJ – Ästhetik und offener Kontrolle Kulturangebote zu entwickeln. In diesem Sinne war es eine Insel, die verschiedene Szenen zusammenbrachte und in das System integrierte. Als Kontakt- und Informationspunkt der verschiedensten Szenen war es vor allem Test und Probebühne für neue Kulturangebote. Ob dahinter eine bewusste Strategie der Verantwortlichen aus Partei und den Sicherheitsorganen bestand, einen solchen Raum als Frühindikator und zur besseren Kontrolle von Entwicklungen in der DDR – Jugendkultur zu schaffen, ist fraglich. Ich glaube es war eher ein gegenseitiges Geben und Nehmen nach dem Motto, ihr lasst uns machen und wir sichern euch die Loyalität – Vertrauen auf beiden Seiten. Erst daraus waren so etwas wie DDR -typische Ausdruckformen in der Kultur zu entwickeln. Ein Lied lässt sich zwar bezahlen, künstlerische Qualität für das Publikum nur beschränkt.
Selbstverständlich war das Talente fest im Visier der Sicherheitsorgane, in dem Sinne typisch, doch von deren Einflussnahme war kaum was zu spüren, in dem Sinne untypisch. Wofür sich das Talente aber eignet, ist die Darstellung des Wandels der Werteorientierung eines Großteils systemloyaler Jugendlicher, einschließlich meiner Person, vom Aufbruch Anfang der siebziger Jahre bis hin zur Agonie zum Ende hin und deren Widerspiegelung in den verschiedenen künstlerischen Ausdrucksformen. Doch dazu ist hier kein Platz mehr und es sollten lieber Kulturwissenschaftler leisten, die einen größeren Überblick über die DDR – Jugendkultur haben, insofern bundesdeutsche Universitäten überhaupt noch über solche verfügen.
¹ Ich benutze den Terminus „Macher“ anstatt Mitarbeiter da zwei Drittel der Mitarbeiter in der Verwaltung tätig waren. Programmgestalter und „Kulturschaffende“ waren die Minderheit.
² Nach der sogenannten Wende erfuhr man dann aber doch, dass manch Referent sich für seine Äußerungen rechtfertigen musste und wohl auch Unmengen von Berichten geschrieben wurden – es geht hier nur um den damaligen subjektiven Eindruck.
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