aus telegraph #3 _ 1999
Buchrezension von Dirk Teschner
Vergesst den ganzen Wendemüll, der in Form von Fibeln, Leitartikeln und TV-Beiträgen in den letzten Wochen auf uns niederprasselte. Was war schon ein Wir sind das Volk – Kerzenevent in Leipzig gegen ein zünftiges Konzert des Demokratischen Konsums im Berliner Dom; was schon die Mahnparty vor der Gethsemanekirche gegen die „fotoontischen Lockrufe des Micha Brendels.“
Jung sein in der DDR war einfach geil. Um das zu manifestieren, brachten Ronald Galenza und Heinz Havemeister das Buch „Wir wollen immer artig sein…“ (nach dem gleichnamigen Song von Feeling B) im Schwarzkopf & Schwarzkopf Verlag heraus. Auf über 400 Seiten beschreiben, neben den Herausgebern insbesondere Christoph Tannert und weitere 30 Autoren, die verschiedenen Facetten der DDR – Subkultur in den achtziger Jahren. In den letzten zehn Jahren der DDR entstand eine vielschichtige Szene zwischen Punk, New Wave, Performances, Lesungen und multimedialen Projekten. Insider und Akteure der unterschiedlichen Szenen kommen in Interviews und Essays zu Wort. Die Intentionen der verschiedensten künstlerischen Ausdrucksformen waren die Suche nach politischen Alternativen, wie auch die Sehnsucht nach einem „radikalen Individualismus“. Die Vielzahl der Berichte aus der Szene zeugen davon, dass Repression durch den Staat zu einer Politisierung führte.
Im Buch wird dem Punk ein großer Platz eingeräumt. Über die einzelnen Regionen und Happenings schreiben die, die es miterlebt haben. Somit entstehen Texte aus erster Hand und ein, in dieser Art, bisher komplettester Überblick der Punkbands, Künstlerbands und der „anderen“ Bands der DDR. Die Autoren beschreiben einzelne Konzerte, Kassetten oder die raren Plattenaufnahmen, bis hin zu den Sanktionen gegen Punkbands, die u. a., wie bei der Band Namenlos, mit Knast wegen “ öffentlicher Herabwürdigung staatlicher Organe und deren Tätigkeiten und Maßnahmen“ endeten.
Im Anhang des Buches gibt es eine Diskografie und Kassettografie, die in ihrem Umfang einmalig ist, von A, wie Abraum und AG Geige bis Z, wie Zwitschermaschine und Zwecklos. Leider ist sie immer noch unvollständig, was in der angestrebten Zweiten Auflage hoffentlich behoben wird.
In den einzelnen Kapiteln erfahren wir dann Dinge, die wir bisher so nicht kannten, wie zum Beispiel das „Ruppen“ (von rupfen) innerhalb der Punkszene, das kannte man bislang nur vom Aufeinandertreffen gegnerischer Fangruppen auf bzw. vor dem Fußballplatz.
Das Buch beleuchtet die Vereinnahmungsstrategien des Staates, durch Radiosendungen, Plattenveröffentlichungen, Filmproduktionen und staatliche Förderung für verschiedene Bands ebenso, wie die Distanz innerhalb der Szene. So waren sich Punk- und die „anderen“ Bands nie grün, sogar teilweise verfeindet und trafen dann doch beim Jugendradio DT 64 in Lutz Schramms Parocktikum aufeinander.
„…(mach mit – bleib fit! sei quitt mit deinen häschern im mondschein der entmündigung des „traurigen ohrs“. lesen auch sie „messitsch“ aus leipzig! hören sie „punkrocktikum“! – dschugaschwili als trotzkistischer kesselflicker am banjo der weltangst: a.a.s. neill-makarenko)…“ Matthias „Baader“ Holst
Wir wollen immer artig sein…
Punk, New Wave, HipHop, Independent-Szene in der DDR 1980-1990
Herausgegeben von Ronald Galenza und Heinz Havemeister
Schwarzkopf & Schwarzkopf Verlag Berlin 1999, 39,80 DM
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