Bemühungen um die Gründung einer unabhängigen Studentenvertretung an der Berliner Humboldt-Universität

aus telegraph 4/1989 (#04)

Der Wunsch nach einer Studentenvertretung gährt in den Seminargruppen egal welcher Studienrichtungen schon lange. Das ist einerseits auf die Mißstände an der Universität zurückzuführen, andererseits auf den Wunsch nach politischer Mitbestimmung der Studenten. Die FDJ, die sich bisher öffentlich als „Studentengewerkschaft“ ausgab, wurde offensichtlich bis dato ihrem Vertretungsanspruch nicht gerecht. So fand am Donnerstag, den 12.10.89 das erste Treffen zur Gründung einer unabhängigen Vertretung statt. Das Gespräch verlief offen, aber durchaus kontrovers. Für Montag, den 16.10. wurde ein Treffen von jeweils 2 gewählten Sprechern jeder Sektion geplant.

Die Versammlung wurde dann aber zur Enttäuschung für viele. Die gewählten Vertreter mußten oftmals schon am Eingang zum Sitzungsraum feststellen, daß sie ausgebootet waren. Mehrere Vertreter, die sich selbst ernannt hatten (teilweise FDJ-Sekretäre) hatten die Sitze schon belegt. Die FDJ‑ Eingangskontrolle sorgte dafür, daß trotz freier Plätre keiner mehr den Saal betrat. Studenten, die sich trotzdem Zutritt verschaffen wollten, wurden mit Gewalt daran gehindert bzw. gleich nach Eintritt wieder aus dem Saal geholt. So also die erste Artikulation der neuen Demokratie an der Humboldt-Uni. Über¦s Wochenende hatten überdies eifrige FDJ-Kreisleitungsmitglieder ein sogenanntes „Flugblatt“ zustande gebracht, das am Montag massenweise verteilt und dann weggeschmissen wurde. Töne wie „Verändern – erhalten und ausbauen“ waren bereits bekannnt und abgesegnet. So wartete man also gespannt auf die Vollversammlung am Dienstag. Mehrere tausend Studenten erschienen an diesem Tag, um die anstehenden Themen zu diskutieren. Sie wurden auf etwa 6 Hörsäle verteilt und hatten jeweiols einen vorher bestimmten Diskussionsleiter. Im Kinosaal beispielsweise erwies sich dieser Diskussions­leiter als nicht tragbar, weil er ständig aggressiv wurde und versuchte, die Diskussion inhaltlich zu bestimmen. Nach langem Hin und Her verließ er endlich das Podium, ein Neuer wurde gewählt. Eine Dame von der FDJ-Kreisleitung verlas den Brief an den Rektor, der zustimmend aufgenommen wurde, enthielt er doch, wenn auch nicht alle, so doch einige dringliche Forderungen der Studenten, wie z. B. die Rehabilitierung der im Zusammenhang mit den Demonstrationen verhafteten Studenten, eine eigene Studentenzeitung und das Ende von Exmatrikulationen aus politischen Gründen. Die Dame der FDJ‑ Kreisleitung forderte dazu auf, in den Sektionen über weitergehende Forderungen zu diskutieren und diese bei der FDJ-Kreisleitung abzugeben … So versuchte also die FDJ-Kreisleitung die Führung der neuen Bewegung in die Hand zu bekommen und den weiteren Verlauf zu bestimmen. Mit fester Überzeugung behauptete die Kreisleitungsvertreterin von sich, obwohl nicht von den Studenten gewählt und überdies erst eineinhalb Monate im Amt, die Interessen der Studenten zu vertreten.

Die nachfolgende Diskussion breitete sich dann über die verschiedensten Themen aus. Die am meisten diskutierte Frage aber war das Thema: Studentenvertretung unter Leitung der FDJ oder unabhän­gig!

Auch Gäste der Schauspielschule waren anwesend, die eine solche Vertretung schon gegründet hatten und für die diese Frage offensichtlich nicht bestand, denn die FDJ könne in ihrer Vertretung ja mitarbeiten, wenn sie Lust habe. Keiner sei ausgeschlossen. Die Schauspielstudenten schlugen einen Termin an der Schauspielschule vor, um eine Verbindung auch zwischen den Schulen zu schaffen. Nachdem in der angespannten Athmosphäre viele ihre Meinung geäußert hatten, kam es zur Aufstellung eines Fragenkatalogs zur Diskussion in den Sektionen. Wichtige Fragestellungen waren z. B.

– neue Überlegungen des Status der Universität
– Abschaffung der militärischen Erwachsenenqualifizierung und Einstellung der Reservistenmärsche
– Öffnung der Giftschränke und Archive für die Forschung
–  Mitbestimmung der Studenten bei Lehrinhalten und Studienablaufplänen
– Veränderung bzw. Einschränkung der M/L-Ausbildung bis hin zum Gewicht dieser für Leistungsstipendien
– Bedingung der Mitgliedschaft in offiziellen gesellschaftliche Organisationen für die Immatrikulation etc.

Auch allgemein-gesellschaftliche Fragestellungen wurden berührt, wie z. B. der Wunsch nach Stellungnahme der Regierung zum Vorwurf des Wahlbetrugs. Am Ende des Katalogs stand die dringende Forderung an Partei und Regierung nach Reformen. Alle Fragestellungen wurden abgestimmt.

Am Schluß der Versammlung erfolgte noch eine Abstimmung (für den Saal) über die Art der anzu­strebenden Vertretung. Die Mehrheit stimmte für unabhängig. Ähnlich die Diskussion in anderen Sälen. In einigen Sälen filmte das DDR-Fernsehen. Merkwürdig dabei war, daß gerade in diesen Sälen das Aufstellen von Forderungen bzw. Fragekatalogen nicht möglich war (bspw. Marx-Engels-Auditorium).

Nach der Diskussion trafen sich alle beteiligten Studenten auf dem Hof, um die Ergebnisse vorzustellen. Der Vorsitzende der FDJ-Kreisleitung, der sog. „regierende Richi“ übernahm diesen Teil und erbot sich, alle Vorschläge zu sammeln und zu vervielfältigen, obwohl sich in den meisten Sälen die Studenten für eine FDJ-unabhängige Form der Vertretung entschieden hatten. Nach der Auswertung wurde von diesem Vorsitzenden der FDJ-Kreisleitung gesagt, man solle bis Ende der Woche diskutieren und die Antwort des Rektors auf den am Anfang genannten Brief abwarten, ein neuer Termin werde dann festgelegt.

Viele verließen die Uni mit gemischten Gefühlen. Ob eine unabhängige, gewählte Studenten­vertretung wirklich zustande kommt, wird jetzt vor allem davon abhängen, inwieweit die Studenten ihr Anliegen selbst in die Hand nehmen und sich nicht weiter von um ihre Macht besorgten FDJ-Kreislei­tungsmitgliedern vereinnahmen bzw. übertölpeln lassen.

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