Erklärung der Mahnwache in Halle in der Georgenkirche

aus telegraph 4/1989 (#04)

Die Ereignisse am Montag, den 9. 10. 1989 auf dem Marktplatz unserer Stadt, haben uns und unsere Stadt verändert. Wir wollen nicht mehr schweigen zur Gewalt in unserer Stadt. Darum halten wir Mahnwache und zünden Lichter an, für die Würde unserer Mitbürger. Uns erreichen täglich erschütternde Berichte:

– Eltern suchen ihr Kind, das in Haft ist und werden von der Polizei zynisch an Nervenheilanstalten verwiesen.
– zwei Vierzehnjährige standen eine ganze Nacht in einer Garage
– eine Frau, die telefonieren will, wird in der Telefonzelle verprügelt
– völlig unbeteiligte Bürger wurden auf dem Marktplatz zusammengetrieben, verfolgt, geschlagen, zugeführt, verhört.

Bei der Mahnwache erleben wir eine ungeahnte spontane Solidarität. Betriebe, Brigaden, Geschäfte, Volkssolidarität, Krankenhäuser, Drogerien, Handwerker, Menschen aus allen Bevölkerungsschichten, Parteimitglieder, Betriebsvorsitzende, Journalisten, Gemeinden, praktisch alle Altersgruppen. Wir bekommen Lebensmittel, Kaffee, belegte Brötchen, Wurst, Bananen, warmes Essen, sehr hohe Geldspenden, Kerzen etc. Wir sehen diese Solidarität als ein Mandat aus einer breiten Schicht der Bevölkerung, diese unsere Mahnwache fortzuführen, bis unsere Forderungen:

– Freilassung der Inhaftierten vor und nach dem 7. und 8. 10.
– Zurücknahme der Ordnungsstrafgelder
– Einstellung der Ermittlungsverfahren
– ausgesprochene Haftstrafen, die zur Bewährung ausgesetzt sind, aufzuheben (usw.) erfüllt sind.

Im Zusammenhang mit der geplanten und am 15.10. durchgeführten ersten Bürgerversammlung mit dem Thema: „Gewaltfreiheit in unserer Stadt“ haben wir mit unserer Mahnwache als Zeichen der Entspannung unsere Plakate:

„Freiheit den Gefangenen“
„Mahnwache für die Inhaftierten für Erneuerung für das Hierbleiben“ abgenommen.

Wir sehen in der Entlassung der am 7. und 8. 10. Inhaftierten (ADN-Meldung) ein gutes Zeichen für Frieden in unserer Stadt.
Dennoch sind noch Menschen betroffen.

– Inhaftierte aus der Zeit vor und nach dem 7. und 8. 10.
– Ordnungsstrafgelder sind nicht zurückgenommen
– Strafandrohungen auf Bewährung sind nicht zurückgenommen.

Für sie halten wir auch weiterhin Mahnwache!

Halle, 16. 10. 1989

Anmerkung:

Die erste Bürgerversammlung der Stadt Halle fand am 15. 10. in der Pauluskirche statt. Dabei wurde folgender Aufruf verabschiedet:
„Aufruf zur Gewaltfreiheit in unserer Stadt
Gewalt ist kein Mittel zur Lösung von gesellschaftlichen Konflikten. Angesichts der aktuellen Situation in unserer Stadt halten wir jetzt für das Wichtigste:
1. Selbstverpflichtung zur strikten Gewaltfreiheit
2. Keine Gewalt der Sicherheitsorgane gegen die Teilnehmer friedlicher Zusammenkünfte.
3. Keine Diffamierung und Kriminalisierung von reformengagierten Personen und Gruppen.
4. Versammlungs- und Redefreiheit
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5. Offene und wahrheitsgetreue Berichterstattung in den Medien
6. Bereitstellung von Räumen und Plätzen zur öffentlichen Diskussion. (in Klubhäusern, Jugendclubs und auf städtischen Freianlagen)

Bürgerversammlung in der Pauluskirche, Halle/S. 0ktober 1989″

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