Kommentar: Verständliches und Unverständliches

aus telegraph 4/1989 (#04)

In Zeiten, in denen die Dinge auf den Kopf gestellt scheinen und die Wölfe mit süßer Kreidestimme sprechen, sodaß man nicht mehr weiß, wer hier eigentlich Wolf und wer Schaf ist, ist es nützlich, sich an das Vorleben der entsprechenden Personen zu erinnern. Nicht, daß damit jede Änderungsmöglich­keit von Menschen geleugnet werden soll. Aber vieles wird doch verständlicher.

Wir beispielsweise von der Umwelt-Bibliothek haben ein besonders „herzliches“ Verhältnis zum Berliner Generalsuperintendenten Krusche. Herr Krusche empörte sich nach dem Stasi-Überfall im November 1989 auf die Bibliothek in den Medien, daß wir die verbotene Zeitschrift „Grenzfall“ mit modernster westlicher Offset-Technik gedruckt hätten. Das war natürlich eine freche Lüge, die aber der DDR-Regierung sehr in den Kram paßte. Privat versicherte Krusche übrigens sogar, die „Grenzfall“‑ Leute hätten ja recht, aber so etwas dürfe man nicht laut sagen oder sogar drucken. Wenn wir heute Herrn Krusche unter modischen Reformfahnen kühne Statements abgeben hören, denken wir an unsere vergangenen Erfahrungen und meinen, daß Herr Krusche halt ein Anpasser ist (um das Wort „Konjunjunk­turritter“ nicht zu nennen).

ßber Herrn Hager hatten wir in den vergangenen Ausgaben schon gesprochen. Wir verstehen den Mann zutiefst. Er hat sich in der Vergangenheit so stark mit reformfeindlichen Erklärungen exponiert, daß er jetzt eine Himmelangst um den Verlust von Posten und Privilegien haben muß und sich demzufolge mit ebenso deftigen Reformsprüchen neu profiliert.

Auch Herr Tisch bangt wohl mächtig um sein warmes Stübchen im neuen FDGB-Haus an der Jannowitz­brücke mit, wie man hört, separatem Fahrstuhl für den Gewerkschaftsvorsitzenden. Aus diesem Grund wieselt Tisch jetzt durch die aufmüpfigen Betriebe und hat sich belebt, als hätte er aus einem Jungbrunnen getrunken. Aus seiner Sicht richtig stellt er in der „Jungen Welt“ fest, es sei bei den Arbeitern ein Erwartungsdruck entstanden, auf den man reagieren müßte, damit nicht andere reagieren. Nach einer Reihe mehr oder weniger populärer Reformankündigungen kritisierte Tisch die mangelnde Durchsetzungsfähigkeit von Gewerkschaften in der Vergangenheit. Es sei ihm unverständlich, warum sich Gewerkschafter z.B. in Lohnfragen mit der alleinigen Zuständigkeit des Ministeriums zufrieden gegeben hätten.

Versuchen wir immerhin auch diese ziemlich dämliche Frage zu verstehen. Herr Tisch möchte offenbar davon ablenken, daß unter anderem auf seine Anweisung hin „in der Vergangenheit“ der FDGB nicht die Funktion einer Gewerkschaft, sondern die eines „Transmissionsriemens zu den Massen“ hatte. Wer da mit Lohn- oder beispielsweise Arbeitsschutzforderungen kam, wurde belehrt oder gar schlimme­res. Dementspre­chend zerrüttet ist auch das Ansehen des FDGB und Tisch und seine Genossen bangen vor der Bildung unabhängiger Gewerkschaften. Deshalb also meint Herr Tisch in der „Jungen Welt“, daß neue Organisationen nicht zugelassen werden sollten und genügend Foren sozialistischer Demokratie vorhan­den sind.

Wesentlich direktere Probleme mit den Werktätigen als Tisch mit seinem Separatfahrstuhl haben die Gewerkschaftsfunktionäre in den Betrieben. Wenn man so viel Feuer unter dem Hintern hat, wird man schon mutig und schreibt als „gewählte Gewerschaftsfunktionäre“, wie es in einem uns vorliegenden Brief des Zentrums für wissenschaftlichen Gerätebau der Akademie der Wissenschaften an den Vorstand des FDGB heißt. Die Leute fürchten halt, daß die Arbeiter nicht mehr sie wählen, sondern die Dinge selbst in die Hand nehmen. Im übrigen bewegt man sich aber nur entlang den „kühnen Forderungen“ des Genossen Tisch. Nur in der Forderung nach Abschaffung der Intershops ist ein kleiner Ausrutscher passiert, der ihnen bestimmt Schelte von der Zentrale eintragen wird. Das ist nämlich in die falsche Richtung gedacht!

In die „richtige Richtung“ denkt das Organ der Nationaldemokratischen Partei, die „Nationalzei­tung“. Neben der Entflechtung der großen Kombinate wurde vor allem die Beseitigung der Preisstützung für Grundnahrungsmittel, Miete und Tarife vorgeschlagen. Man habe gerade bei den Selbstverständlich­keiten zu sparen verlernt und müsse auch über sogenannte heilige Kühe nachdenken. Es wundert uns nicht, diese Worte gerade aus dem Organ der NDPD zu hören, weil diese ursprünglich auf Betreiben der SED zur Erfassung kleiner Nazis gegründete Partei mittlerweile zur Sammelstätte von wohlhabenden Handwerks- und Gewerbetreibenden geworden ist, deren Sorgen hauptsächlich im mangelnden Angebot von Exquisitgeschäften, Delikatgeschäften und Intershops bestehen. Den Lesern der „Nationalzeitung“ mag also soziale Verelendung von Nichtbesitzern von Produktionsmitteln kein Anstoß sein.

Wie gesagt, es lohnt sich, mit Verständnis den Ursachen menschlichen Verhaltens nachzuforschen. Aber alles verstehen, heißt eben nicht, alles zu verzeihen und abzuwarten, bis die Machthaber das Land auf ungarische, polnische oder chinesische Weise in den Abgrund wirtschaften.

Die Sprecher einer im September gegründeten sowjetischen „Vereinigten Arbeiterfront“ beklagten sich in diesen Tagen, daß es den Arbeitern trotz der Reformpolitik schlechter gehe. Preiserhöhungen, Inflation und Schwarzmarkt führten zu immer größerer Unzufriedenheit.

Kein Zweifel, ehe es uns wieder besser geht, wird es uns erst einmal eine Weile schlechter gehen müssen. Wir werden eine ganze Reihe zugrunde gewirtschafteter Betriebe neu aufbauen müssen und ein Gebot des Überlebens dürfte die Sofortabschaltung unserer selbst nach den Maßstäben der internationa­len Atommafia gemeingefährlichen Atoomkraftwerke und eine Notumrüstung der umweltzerstörenden Braunkohleriesen sein. Riesige Investitionen werden zum Aufbau einer funktionstüchtigen Wirtschaft nötig werden.

Aber es darf nicht sein, daß nach ungarischem und polnischen Vorbild die Folgen jahrzehntelanger Mißwirtschaft über simple Streichung der Subventionenen für Grundnahrungsmittel und Mieten auf die Arbeiter des Landes abgewälzt werden, während die Mittelschicht vom mangelnden Dienstleistungsangebot weiter profitiert und (das ist ein besonderer Clou made in GDR!) die für das wirtschaftliche und politische Fiasko Verantwortlichen weiter in Separatfahrstühlen in ihre molligen Stübchen fahren.

Die Arbeiter dieses Landes werden, wenn sie das verhindern wollen, die schönen Worte der Herrschenden auf ihren Inhalt überprüfen und ihren Standpunkt energisch klarmachen müssen, selbst auf die Gefahr hin, daß Herr Tisch und seine Untergebenen und Auftraggeber dann im Regen stehen!

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