aus telegraph 5/1989
vom 22. Oktober 1989
Reformen kommen von oben
„Sehr geehrter Herr Paster!
Wir bitten Sie, Ihrem Auftrag gerecht zu werden! Ziehen Sie bitte die Mahnwachen-Lümmel mit den Nickel-Brillen und Pferdeschwänzen zurück. Wer diesen, unseren sozialistischen Staat ggf. zu zerstören beabsichtigt, wird unausbleiblich gebremst werden.
Bitte veranlassen Sie eine Nichteinmischung in die Politik unseres sozialistischen Vaterlandes! Veränderung werden vollzogen, aber ohne die ARD/ZDF-Macher und obengenannte „Reformern“. Bitte zeigen sie Verständnis!“
Seit dieser „Bitte“ in einem anonymen Brief vom 13. Oktober hat sich der Ton in Halle weiter verschärft. Der Pfarrer wird jetzt nicht mehr gebeten, sondern direkt bedroht. Das Hallenser Kontakttelefon wird mit ständigen anonymen Anrufen terrorisiert (zuletzt, am Freitag beispielsweise mit der Androhung eines Überfalls angeblicher Nazi-Skins auf die Mahnwache. Es gibt vorläufige Festnahmen, eine Spezialgruppe der FDJ versucht über Tage, bei Mahnwächtern und Demonstranten Nervosität zu erzeugen.
Inzwischen hat sich in Halle allerdings, wir wollen das nicht verschweigen, etwas positives ereignet. Nachdem der Hallenser Oberbürgermeister ein Team des DDR-Jugendfernsehens nicht einmal empfangen hatte (und dies im DDR-Fernsehen auch so berichtet wurde), hat sich der OB für Samstag morgen zu einem Gespräch mit dem Pfarrer der Hallenser Mahnwache bereiterklärt. Wie wir aus Halle erfahren, ist Pfarrer Hahnewinkel mit dem Ergebnis dieses ersten Vier-Augen-Gesprächs sehr zufrieden. Näheres ist noch nicht bekannt.
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