aus telegraph 5/1989
vom 22. Oktober 1989
Wie ADN berichtete, ist in zwei Kirchen in Rostock am Mittwoch ein Offener Brief des Rates der Stadt Rostock verlesen worden. Darin erklärt der Rat der Stadt seine Bereitschaft, mit den Bürgern konstruktiv über alle die Menschen berührenden Fragen zu sprechen. Dabei solle kein Problem ausgeklammert werden. Auch in der Rostocker Petri-Kirche und der Marien-Kirche finden seit 18. Oktober Mahnwachen für die Inhaftierten und Angeklagten statt. Am 19. Oktober forderten ca. 8.000 Demonstranten vor dem Rostocker Staatssicherheitsgebäude „Stasi in die Produktion“.
In Zittau nahmen am Donnerstag etwa 10.000 Menschen an Veranstaltungen der Oppositionsgruppe Neues Forum teil. Drei Kirchen waren zum Teil überfüllt. Der Rat des Kreises genehmigte sogar kurzfristig die Lautsprecherübertragung aus der Johanniskirche, vor der sich einige tausend Menschen versammelt hatten.
In einer Einschätzung der Verhandlungen auf Magistratsebene gegenüber BBC, sagte der BerlinPankower Superintendent Krätschell, in Leipzig und Dresden seien die Gespräche zwischen Bevölkerung und Stadtregierungen schon bis zu einem gewissen Punkt gediehen. In Berlin gebe es Schwierigkeiten, weil der Oberbürgermeister sich weigere, Vertreter der Gruppen zum Gespräch zuzulassen, bzw. nur als Privatpersonen. Gleichzeitig hätten die Gruppen die Bedingung der Entlassung der politisch Inhaftierten und der Niederschlagung der Verfahren gestellt und die Bildung eines Untersuchungsausschusses gefordert.
An einer Demonstration in Dresden am Freitag abend beteiligten sich mehrere zehntausend Menschen. Die Demonstration verlief friedlich. Die Demonstration für demokratische Erneuerung bildete sich nach einer Friedensandacht in der Kreuzkirche. Die schweigenden Demonstranten hatten Kerzen mitgebracht, die sie auf Fenster und Mauervorsprünge des Rathauses, der Polizeiinspektion und anderer öffentlicher Gebäude stellten. Feuerwehrfahrzeuge löschten nach der friedlichen Beendigung der Demonstration die Kerzen und räumten die Reste sauber ab.
In Berlin demonstrierten am Samstag mehrere tausend Menschen in einer Menschenkette vom Palast der Republik bis zum Alexanderplatz gegen die weitere Aufrechterhaltung der Inhaftierungen und Anklagen. Die Polizei leitete den Verkehr um und griff nicht ein, sperrte aber den Zugang zum Polizeipräsidium ab. Im Gespräch mit Demonstranten kündigte Politbüromitglied Schabowsky an, die zuständigen Gremien würden sich Anfang der Woche mit dem Gesetz über Auslandsreisen befassen. Der Einsatzleiter der Polizei wies auf die Ankündigung des Generalstaatsanwalts im Fernsehen der DDR hin, „daß zu diesem ganzen Vorkommnissen (Red: nämlich Inhaftierungen, Festnahmen und Folter) gründliche Untersuchungen gemacht werden und daß entsprechend den Gesetzen des Landes Entscheidungen getroffen werden.“
Im Leipziger Neuen Gewandhaus versammelten sich am Sonntag mehr als 500 Teilnehmer zu einem „Bürgerforum“ über aktuelle Probleme in der DDR. Gewandhauskapellmeister Masur teilte in Anwesenheit von Vizekulturminister Höpke mit, die Veranstaltung solle den Ausganspunkt für sonntägliche Aussprachen auf dem Leipziger Karl-Marx-Platz bilden. Diskusssionen wie diese soll es künftig jeden Sonntag geben.
Die Liberaldemokratische Partei hat, wie es in einem am Sonntag bekanntgewordenen Papier heißt, der SED einen Forderungskatalog vorgelegt. Darin wird unter anderem die Anerkennung des Neuen Forum fordert. Die LDPD sei bereit, Mitglieder des Neuen Forum in die eigenen Reihen aufzunehmen und auf eigenen Listen kandidieren zu lassen.
Die Mitglieder der Akademie der Künste haben, wie am Sonntag bekanntgeworden ist, einen Brief an den Volkskammerpräsidenten Sindermann gerichtet, in dem es heißt, sie seien entsetzt über zahlreichen Fälle brutaler Polizeigewalt gegen Demonstranten und Unbeteiligte in der letzten Zeit. Sie fordern Bestrafung von Tätern und Verantwortlichen. Die Künstler der Akademie berufen sich auf Zeugenberichte. Sie ergeben, heißt es in dem Bericht wörtlich, ein unbestreitbares und empörendes Bild der Ereignisse. Unterschrieben haben Künstler, die in der DDR Rang und Namen haben, darunter auch 3 Mitglieder des SED-Zentralkomitees.
Erstmals wurde am Sonntag in der sowjetischen Presse Kritik an der DDR und ihrem früheren Partei- und Staatschef Honecker geübt. Die Gewerkschaftszeitung „Trud“ warf der DDR-Führung vor, sie habe eine Mauer ohne Fenster und Türen zur Realität im eigenen Land errichtet. Auch in der DDR hätten sich in den vergangenen Jahren viele Probleme angehäuft, doch hätten sie sich nicht in den Medien des Landes niedergeschlagen.
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