Verhandlungen zwischen Kirchenleitungen und Staat

aus telegraph 5/1989
vom 22. Oktober 1989

Das Gespräch zwischen den Kirchenleitungen und dem neuen Generalsekretär der SED, Krenz, soll, wie man hört, unter gegenseitigen Höflichkeitsbezeugungen und dem Ausdruck des jeweiligen besten Willens verlaufen sein. Krenz habe sich, war zu hören, liebenswürdig gezeigt. Allerdings sei zu vermuten, daß er in der Sache sehr hart sei. Der BBC berichtete in einem Telefoninterview der Berlin-Pankower Superintendent Werner Krätschell über dieses Gespräch. Es sei, so Krätschell, in der Tat erstaunlich, daß Krenz als eine der ersten Amtshandlungen die Leitungen der Evangelischen Kirchen zu sich bitte. Es seien in den letzten 40 Jahren kaum solche Gespräche geführt worden, weil die staatliche Seite sich gesträubt habe. Er, Krätschell habe die Hoffnung, daß es in solchen Gesprächen zwischen Staat und Kirche wieder gelingen möge, die Menschen Vertrauen fassen zu lassen und Bedingungen geschaffen würden, daß die Menschen in der DDR gerne leben. Dazu gehöre Reisemöglichkeit und Durchsichtigkeit im Recht und bei Wahlen und vieles andere mehr. Krätschell gab zu, daß die Verhandlungen mit der Staats- und Parteiführung eine Wanderung auf einem schmalen Grat sei. Einerseits gäbe es in der Bevölkerung großes Mißtrauen, daß die Kirchen sich zu sehr mit dem Staat identifizierten, andererseits gäbe es von Seiten der Staatsführung Mißtrauen, daß sich die Kirchen für staatsfeindliche Interessen mißbrauchen ließen. Die Kirchen hätten die Aufgabe, zwischen den sehr potenten politischen Gruppen des Landes und dem Machtapparat zu vermitteln.

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