aus telegraph 5/1989
vom 22. Oktober 1989
Der Verband bildender Künstler Berlin in Reformqualen
Aus Verbandskreisen erhielten wir über die Versammlung des VBK Berlin am 16. Oktober folgende Zuschrift: Der Vorsitzende des Bezirksvorstandes, Roland Paris, berichtete über ein Gespräch mit „Leitenden Genossen“ im Berliner Polizeipräsidium Keibelstraße zu den Vorgängen am 7. und 8.10., besonders über die Gewaltanwendung gegen Demonstranten. Der stellvertretende Polizeipräsident von Berlin hatte darin versprochen, sich um Aufklärung zu bemühen. Zu einer Debatte, ob es sinnvoll sei, den Fuchs zu beauftragen, die Hühnerdiebe zu fangen, kam es allerdings nicht, da ein Mitglied der Sektion Fotographie hartnäckig versuchte, einen Mißtrauensantrag gegen den 1. Sekretär des Bezirksvorstandes (hauptamtlicher Mitarbeiter) einzubringen, der offensichtlich den, auch vom Vorstand getragenen Beschluß, eine Protesresolution vom 9.10. zu versenden, nicht nachgekommen war und sich mit einem „Versehen“ entschuldigen wollte. Zur Abstimmung kam es nicht, der Antrag wurde vom Vorstand heftig attackiert und letztlich zerredet. Überhaupt tat man sich schwer, die Spielregeln einer demokratischen Diskussion anzuwenden, zumal vierzig Jahre geübte Verhaltensmuster noch massiv zutage kamen und der Gesprächsleiter R. Paris von seiner Aufgabe zunehmend überfordert wurde, und hauptsächlich daran interessiert war, eine von sentimentalen Tönen durchsetzte Selbstdarstellung vorzutragen.
Wirkliche Betroffenheit kam auf, als Gesprächsprotokolle zugeführter Verbandsmitglieder und anderer vorgetragen wurden und als die massive Angst zur Sprache kam. Ganz offenbar haben die „Sicherheitskräfte“ ihr Ziel erreicht, Teile der Bevölkerung durch ihr Vorgehen massiv einzuschüchtern, Hilflosigkeit und Unsicherheit machten sich unter den Anwesenden breit. Obwohl der Justitiar des Verbandes die Vertretung Betroffener übernimmt, war mancher nicht bereit, Anzeige gegen die Polizei zu erstatten!
Während eine Mitarbeiterin des Stadtjugendpfarramtes nach systematischer Auswertung einer großen Anzahl von Erlebnisprotokollen und dem Vergleich unabhängig gemachter Aussagen die Berichte nur bestätigen konnte, trat ein Journalist von der BZA auf, der beteuerte, er habe mit Bereitschaftspolizisten gesprochen, die nichts weiter getan hatten, als den Verkehr zu regeln. Getreu seinem Berufsstand redete er damit, wie gehabt, am Wesen der Sache vorbei. Neu war allerdings, daß man nicht mehr gewillt war, ihm zuzuhören. Eine Mitarbeiterin von der „Neuen Zeit“ berichtete dagegen von ihren Gewissenskonflikten, die es ihr im Grunde unmöglich machten, ihren Beruf weiter auszuüben. Diese Situation konnten viele der Anwesenden unmittelbar nachvollziehen, waren aber ebensowenig an dem Punkt angelangt, aus dieser Situation Konsequenzen zu ziehen. Noch immer, scheint es, überwiegt die Hoffnung auf eine Beruhigung und Klärung der Lage „von oben“, und daß es zu einer Demokratisierung der Verhältnisse auch ohne Zivilcourage kommen könnte.
Dem entsprach dann auch das Credo des Vorsitzenden: Geduld und Vertrauen zu üben und auf die vorhandenen gesetzlichen Möglichkeiten zu bauen, als sei im Rahmen undemokratischer Gesetzlichkeit tatsächliche Demokratie möglich. Ganz in diesem Sinne verwarf man daher auch den Antrag, eigene und fremde Resolutionen von den Druckern des Verbandes selbstständig vervielfältigen zu lassen. Und wenn man auch bereit war, sich der beantragten Demonstration der Berliner Theaterschaffenden anzuschließen, so hatte man doch Verständnis dafür, daß die Polizei mindestens vier Wochen Vorbereitungszeit dafür benötigt, während zur gleichen Stunde in Leipzig über 100.000 Demonstranten auf der Straße waren und den Ordnungshütern praktisch keine Zeit zur Vorbereitung ließen, was der Veranstaltung offenbar keinen Abbruch getan hat. Berlin und seine Künstler sind hinter der vielgeschmähten Provinz um Monate zurück und nicht besonders flexibel, was auch darin zum Ausdruck kam, daß ein Antrag abgelehnt wurde, die Räume des Verbandes einer größeren Öffentlichkeit zur Verfügung zu stellen, um dem legitimen Streben nach mehr Demokratie außerhalb der Kirchen Entfaltungsmöglichkeiten zu bieten. Stattdessen beschränkte man sich auf das Projekt, eine gemeinsame Veranstaltung von Berliner Kulturschaffenden möglicherweise im Palast der Republik – selbstredend im Rahmen geltender Gesetze durchzuführen, zu der „das Volk“, wie gehabt, als Zaungast eingeladen werden soll.
Die anwesenden Vertreter des Neuen Forum kamen trotz freundlichen Begrüßungsbeifall angesichts der kunstinternen Debatten letzlich nicht zum Zuge. Bleibt abzuwarten, ob es der Böhlener Plattform am kommenden Montag (23.10., 16 Uhr) besser ergehen wird.
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