aus telegraph 5/1990
vom 15. März 1990
Überlegungen zu einem wirklich demokratischen Wahlsystem
Manche werden sich noch an die große Kampagne erinnern, in der die Basisgruppen im Mai vorigen Jahres vielerorts den Nachweis für die Fälschung der Kommunalwahl führten. Einen allgemeinen Schrei der Empörung löste es aus, daß Egon Krenz, der oberste Wahlfälscher, im Fernsehen unverdrossen die manipulierten Zahlen verkündete.
Leider hat aber die damalige Diskussion über das Wahlsystem immer nur zu einer Kritik an der Wahlpraxis der SED, nie aber dazu geführt, das derzeitige im Westen übliche System, die „allgemeinen, freien und geheimen Wahlen“ von Parteienvertretern zu hinterfragen. Dabei zeigen Erfahrungen der Vergangenheit, daß dieses Wahlrecht durchaus nicht zur Verwirklichung der Demokratie dient.
Erstmals wurde das den Demokraten bewußt, als in Frankreich nach der Revolution von 1848 Napoleon durch ein Plebiszit seinen Staatsstreich nachträglich sanktionieren ließ. 7,5 Millionen gegen 650.000 Franzosen erklärten sich am 20. und 21. Dezember 1848 für den Staatsstreich und 7.800.000 forderten Napoleon am 7. November 1852 auf, sich die Kaiserkrone aufzusetzen. Durch diese guten Erfahrungen gewitzigt, regierte Napoleon in der Folge mit dem allgemeinen und freien Wahlrecht.
„Ein Volk ist frei“, meinte damals Bucher in seiner Schrift `Der Parlamentarismus wie er ist¦, „wenn seine Gesetze seinen Bedürfnissen adäquat sind. Das kann der Fall sein bei Zuständen, die an den Robespierrschen Menschenrechten gemessen, sich sonderbar genug ausnehmen.“
Der bekannte und zuletzt auch von der SED zum Vorfahren hofierte Reaktionär Graf Bismarck ahmte dann bald das Beispiel Napoleons mit ebenso großem Erfolg nach, als er dem zweiten deutschen Kaiserreich einen auf das allgemeine und gleiche Wahlrecht gestützten Reichstag beigab. In einer Zirkulardepesche schrieb Bismarck am 24. März 1866:
„Direkte Wahlen und allgemeines Stimmrecht halte ich für größere Bürgschaften einer konservativen Haltung als irgendein künstliches, auf die Erzielung gemachter Autoritäten berechnetes Wahlgesetz. Nach unseren Erfahrungen sind die Massen ehrlicher bei der Erhaltung staatlicher Ordnung interessiert als die Führer derjenigen Massen, die man durch Einführung irgendeines Zensus in der aktiven Wahlberechtigung privilegieren möchte.“
Was Bismarck mit „staatlicher Ordnung“ meint, ist klar, die Herrschaft der deutschen Fürsten unter der Führung des Hohenzollern‑ Kaisers. Leider ging auch für spätere Herrschaften immer wieder die Rechnung mit der Parteienwahl auf. Auch die Väter der Verfassung der BRD hatten das Ziel, daß „alle die Besten wählen“, was, wie ein Kritiker vermerkt, auf eine Ersetzung der Selbstbestimmung des Volkes durch die Parteien hinausläuft.
Es besteht offenbar bei einem großen Teil der Bevölkerung ein hohes Bedürfnis, Verantwortung an andere, vermeintliche Experten abzudelegieren. Die Majorität ist geneigt, den verschiedenen Parteien alle möglichen Wahlversprechen zu glauben, zumal sie vor Ort den Himmel auf Erden verprechen und sich darüber hinaus auf Bereiche beziehen, die lokal kaum einsichtig sind. Geht es beispielsweise um das Schicksal einer Sondermülldeponie, die in der Nähe des Ortes liegt und Grund- und Oberflächenwasser sowie die Luft belastet, fordert, wie in Vorketzin (bei Potsdam) geschehen, sogar die Ortsgruppe des demokratischen Aufbruchs sofortigen Stop des Giftmüllimports und wird daher (nicht zuerst aus währungs-, wirtschafts- und sonstigen Gründen gewählt werden). In der Parteizentrale wird allerdings das jeweilige örtliche Interesse nach der Wahl sehr bald übergeordneten Gesichtspunkten den Platz räumen müssen. Die vor Ort gewählten Repräsentanten sind eben nicht Vertreter ihrer Wähler, sondern einer landesweiten Organisation, einer Mafia, die neben dem Interesse der eigenen Erhaltung zahlreichen Geldgebern (in diesem Fall beispielsweise der West-CDU) verpflichtet ist. Die Interessen vor Ort werden am schlechtesten von denen vertreten, die sich mit einer Anbindung an eine Berliner Zentrale empfehlen.
Eine wirkliche Interessenvertretung der Bevölkerung müßte von unten nach oben organisiert werden. Allein Leute, die sich um den Ort verdient gemacht haben, können auf Kreis- und Landesebene delegiert werden. Eine Delegiertenversammlung der Orte auf Länderebene ist gerade noch möglich. Aber schon eine über den Ländern stehende Zentralregierung kann praktisch nur aus Vertretern von Vertretern bestehen. Ob eine solche Regierung überhaupt in der Lage ist oder in die Lage gesetzt werden sollte, die lokalen Interessen gegeneinander abzuwägen, scheint mir fraglich. Ich persönlich halte die Länderebene für die höchste mögliche demokratische Vertretung. Eine Einheit wie die DDR oder sogar ganz Deutschland läßt sich, bei wirklicher Selbstvertretung der Bevölkerung, wahrscheinlich nur über einen Staatenbund realisieren.
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