Jetzt wird alles anders!

aus telegraph 5/1990
vom 15. März 1990

Voellig unwesentliche Teile einer Kaderakte werden vernichtet

„Jetzt wird alles anders“, – sagte das Volk der DDR. Und für alle koppelt sich an dieses Wort „anders“ beim Aussprechen automatisch das Wort „besser“ als grosse Hoffnung. Allerdings sind unsere Menschen keine anderen. Ein Mensch ändert sich nicht von heute auf morgen, jedoch kann er grossen Veränderungen eigene Anpassungsfähigkeiten entgegensetzen. Das Anpassen hat ja schon in der Vergangenheit sehr vielen keinerlei Schwierigkeiten bereitet. Die, die sich nicht anpassen konnten und wollten, hatten dann nicht nur damit ihre Schwierigkeiten.

Im Zuge der grossen Veränderungen in unserem Land sollen diese auch in einem veränderten Sprachgebrauch ersichtlich sein. Da werden beispielsweise Kaderabteilungen zu Personalbüros, die Menschen aber, die in diesen weiterhin walten, müssen sich damit selbstverständlich nicht geändert haben. Ein Beispiel:

Am Dienstag, den 26.2.1990 betrat ich um 15.45 Uhr das Personalbüro im Haus der Gesundheit, um dort einmal in meine Kaderakte, ach nein: Personalakte einzusehen.

Gegenüber einer Frau Klein konnte ich meinen Wunsch äussern, stiess aber nur auf ihren Unmut, schliesslich war es schon 15.45 Uhr, sie wollte gerade Feierabend machen. Widerwillig suchte sie meine Personalakte heraus, breitete sie vor sich aus und liess mich ihr gegenüber Platz nehmen, sodass ich jede Leseprobe nur auf dem Kopf herum hätte vornehmen können. Darauf machte ich sie aufmerksam. Sie duldete keinen Einspruch, liess mich nicht an die Akte heran und blätterte für mich Seite für Seite um. Die Seiten kannte ich (Personalbögen, Formulare, Lebenslauf), bis sie auf eine kam, die mich dann doch interessierte. Es handelte sich um die formlose Mitschrift eines Gesprächs auf A4-Format. Ich wollte diese lesen, durfte es aber nicht. Frau Klein überflog für mich die Seite, las an manchen Stellen 1 bis 2 Woerter laut vor und stellte dann fest:  „Wir brauchen diese Seite nicht mehr, sie kann vernichtet werden“, wogegen ich protestierte. Erst einmal wollte ich lesen, was da früher so wichtig war, um in meiner Kaderakte einen Platz zu bekommen, was jetzt aber so unwichtig geworden erschien.

Frau Klein beharrte weiter auf ihrer Ansicht, wollte sie vernichten, riss die Seite aus der Personalakte, hielt sie aber keine 2 Sekunden in den Haenden, weil ich sie ihr entriss, mit den Worten: „Dann nehme ich sie mit nach Hause.“

Dazu kam es nicht. Eine Sekunde spaeter hatte sie die Seite wieder in ihren Haenden und zerriss sie sofort, vor meinen Augen. Die Papierreste landeten – unter grossem Gezeter ihrerseits, da ich es gewagt hatte, die Seite an mich zu nehmen – im neben der Frau Klein stehenden Papierkorb.

So hatte ich das Nachsehen, protestierte laut, machte sie auf ihr – gelinde gesagt – Fehlverhalten aufmerksam. Daraufhin machte sie mich auf die Unmöglichkeit meines Verhaltens aufmerksam.
Schliesslich würden andere vorher anrufen und mit ihr für die Durchsicht der Personalakte einen Termin vereinbaren und ausserdem hätte sie schon Dienstschluss. Ich schaute auf die Uhr. 16 Uhr, jetzt war die Arbeitszeit dieser Frau wirklich zu Ende. Das stellte ich dann erst einmal richtig. Ich hatte sie am frühzeitigen Verlassen ihres Arbeitsplatzes gehindert, das war klar.

Klar wäre für mich auch, dass solche Leute nicht in ihren Ämtern bleiben dürfen. Um 16 Uhr verliess ich das Buero.

s.d.

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