„…bis Redaktionsschluß nicht geschossen“

von Matthias Schlegel und Ekki Forberg.
aus telegraph 5/1996

Unruhe

Nachts um 2 Uhr. Der Tag X2 liegt noch im Schlaf. Dannenberg ist wie ausgestorben. Lediglich am Castor-Verladekran ist alles hell erleuchtet. Gespannte Ruhe. Gegenüber der Esso-Tankstelle liegt das Lager der Demonstranten. Große, phantasievoll geschneiderte Massenzelte, unendlich viele kleine, eng aneinandergestellte Zweimannzelte. Trotzdem fehlt die Urlaubs-Camping-Athmosphäre. Viele schlafen, manche sitzen ums Feuer, reden leise. Rund um die Tankstelle biertrinkende, mitunter laut diskutierende Menschen. Irgendetwas Drückendes liegt in der Luft. Für Neuankömmlinge ist es schwierig, einen Überblick zu erhalten. Was wird passieren, was ist geplant. Niemand scheint etwas mitteilen zu wollen. Natürlich laufen hier auch Bullenspione rum. Also nach Bekannten Ausschau halten und sich durch die offensichtliche Anspannung nicht verrückt machen lassen. Immer mal wieder Durchsagen vom Lautsprecherwagen: irgendjemand sucht seine Freunde, letzte Nachrichten vom Transport, von Streckenbesetzungen und Mahnungen, das Alkoholtrinken nicht zu übertreiben. Immer wieder donnern die Hubschrauber vom Bundesgrenzschutz über die Zelte, manchmal mit Scheinwerfern, mal ist nur das Knattern am schwarzen Himmel zu hören.

Wenige hundert Meter entfernt, am Bahnübergang, wo in wenigen Stunden die strahlende Fracht ihrem Ziel entgegenrollen wird, eine Polizeigruppe aus Sachsen-Anhalt mit Schild und Helm. Gespenstisch, wie hier Demonstranten und die Transportbeschützer in lockerem Gespräch aufeinandertreffen. Am Plexiglasschild des einen klebt ein Aufkleber: ”X2 Wir stellen uns quer”. Wenn erst die Sonne aufgeht, wird er sicher zerknüllt am Straßenrand liegen. Sicher, auch unter mancher Uniform steckt ein Mensch. ”Wenn das bei uns zu Hause wäre, würde ich vielleicht auch demonstrieren”, aber ”Dienst ist Dienst”.

Bundesinnenminister Manfred Kanther (CDU) wies den Bundesgrenzschutz an, Anschlägen auf die Bahn mit größter Entschiedenheit entgegenzutreten. Zugereiste Berufschaoten und Kriminelle, die Schwellen anzündeten, technische Einrichtungen sabotierten, Hindernisse auf Schienen legten und Menschenleben gefährdeten, müßten festgenommen und strafrechtlich verfolgt werden.

[Berliner Zeitung, 8.5.96]

Morgens

Wir sammeln uns jetzt und dann gehen wir mal sehen, was am Verladekran los ist” Es ist so gegen halb fünf, als sich ein Zug von ca. 4000 bis 5000 Demonstranten spukhaft durch das schlafende Dannenberg bewegt. Keine lauten Worte – lediglich hier und da leise Gesänge zum Mitsummen. Bekannte Melodien, neue aber eingängige Texte: ”Wir wollen keinen Atomstrom, wir wollen keinen Atommüll, wir wollen keinen Polizeistaat, wir wollen leben, leben, lachen wollen wir.” Nach zwanzig Minuten ist der Verladekran in Sicht. An der Bahnstrecke können im Morgengrauen rennende Polizisten erkannt werden. Gilt das uns?

Schon seit mehreren Stunden kommen Berichte aus dem Radio, daß die Strecke nahezu hermetisch abgeriegelt sei. Es dauert also nicht lange, bis die Spitze des Demonstrationszuges auf eine grüne, behelmte Mauer stößt. Wie auf Kommando verteilen sich größere Gruppen von Demonstranten auf dem Feld und machen mit den an der Strecke postierten ”Polizeikräften” Frühsport – Dauerlauf. Es dauert nicht lange, und entlang der Strecke sind durch ständiges Zusammenziehen und Ausschwärmen der ”Streckenposten” Löcher entstanden, die zuerst zaghaft, dann aber immer konsequenter mit Demonstranten aufgefüllt werden. Nach geraumer Zeit erkennt dann offenbar auch die Polizeiführung, daß ihre Strategie nicht aufgegangen ist und läßt die versprengten Teile ihrer Mannschaften abziehen: Ein großes Stück Straße direkt gegenüber der Ausfahrt vom Verladekran ist nun von Demonstranten besetzt. Für viele beginnt jetzt das Warten, Zeit miteinander zu singen, zu erzählen, sich in Ketten zusammenzusetzen. Für die Mutigen eine Zeit intensiver Arbeit, auch an der einzig möglichen Parallelstrecke. Und dann eine Durchsage vom Lautsprecherwagen: ”Die Strecke über Quickborn ist unpassierbar”. Der Teer ist unter den brennenden Strohballen und Baumstämmen weggeschmolzen. Jubel auch bei den friedlichsten Mitdemonstranten. Auch an ”unserer” Strecke wird hart gearbeitet. Vom Rand her soll die Straße unterhöhlt werden, und es sind bereits beachtliche Löcher entstanden. Zwei Leute mit Photoapparat und Videokamera, die dazukommen, müssen leider ihre Filme vernichten. Am Horizont taucht plötzlich ein Schwarm Hubschrauber auf. Bald werden sie ganz in unserer Nähe kreisen. Bewacher der todbringenden Fracht.

Früh am Morgen ist der Innenminister des Landes Niedersachsen mit einem der Hubschrauber in die abgeriegelte Stadt geflogen, und hat vor seinen Truppen eine aufmunternde Rede gehalten. Dann ließ er sich wieder ausfliegen. Der Bundesinnenminister forderte von Ferne die Staatsmacht zur Härte auf. Bekanntlich ist alles relativ: Verglichen mit ihren Möglichkeiten hat die Polizei sich, trotz der Aufforderung des Innenministers, im Wendland gewiß zurückgehalten. Beispielweise wurde, bis Redaktionsschluß, nicht geschossen.

[Der Tagesspiegel, 9.5.96]

Barrikade I

Entlang der Straße ein endloser Zug von Menschen, die versuchen, eine Lücke im Polizeikordon zu finden. Langer Marsch durch unwegsames Gelände über Äcker, durch Höfe und Gärten, über Zäune. Die Straße ist von der Staatsmacht besetzt. Kurz vor Gusborn scheinbar Koordinationsschwierigkeiten bei den Streckenbewachern. In Nullkommanichts sitzen die ersten Demonstranten auf der Straße und mit jeder Minute kommen zwanzig weitere hinzu. Schon rollen die Ersten große Feldsteine vom Straßenrand auf die Mitte der Fahrbahn – mitunter müssen vier oder sechs Männer und Frauen anfassen. Andere haben Stangenholz aufgeschichtet und sammeln immer noch neues Holz dazu. Schon brennt die Barrikade. Woher hat dieser Typ nur die alte Fernsehröhre, die wie ein riesiges Auge den herannahenden Castortroß anschaut? Und es wird wieder gesungen auf der Straße – eng beieinandersitzen und singen, das läßt die Bedrohung aushalten. Auf dem Feld ist irgendwoher ein alter LKW mit großen Boxen und guter Musik angekommen, schon tanzen einige. Inzwischen ist die Straße dicht, hunderte von Menschen, und immer strömen neue übers Feld hinzu. Alter Maschendraht ist zwischen den Alleebäumen gespannt. Das brennende Holz wärmt außen, die Tatkraft und der Mut der Unbekannten neben uns wärmt innen. Sollen die Wasserwerfer kommen.

Als die Räumpanzer ankommen und mühsam jeden Stein von der Straße räumen, beginnt auch die Stimmung wieder zu sinken. Auf einmal ein Ruf: ”Es wird immer teurer” und wie ein Echo stimmen Hunderte oder Tausende von Demonstranten ein: ”Es wird immer teurer, es wird immer teurer”.

Es spricht vieles dafür, daß sich die gewalttätige Szene – gestärkt durch ihre bisherigen Erfolge – an einem neuen Standort ebenso aufführen würde wie derzeit in Gorleben. Die SPD sollte erkennen, daß sie Gefahr läuft, die Geister, die sie gerufen hat, nicht mehr loszuwerden. [Frankfurter Allgemeine, 9.5.96]

Auf den letzten 18 Kilometern des „Castor“-Transports von der Verladestation Dannenberg zum Zwischenlager Gorleben lieferte sich vor allem ein militanter Kern der Demonstranten heftige Straßenschlachten mit der Polizei. Mit Sitzblockaden und Barrikaden versuchten Tausende von Atomgegnern, die Weiterfahrt des Spezialtransporters zu verhindern. Das Fahrzeug kam deshalb streckenweise nur im Schrittempo voran und erreichte sein Ziel erst gegen 13 Uhr, also nach 6 Stunden.

[Frankfurter Rundschau, 9.5.96]

Steine

Ein riesiger Stein fliegt auf die uns gegenüberstehenden Behelmten. In der zweiten Reihe bricht dort jemand zusammen. Und ein Aufschrei geht durch die Demonstranten. ”Ey, laß das”. Natürlich fliegen immer wieder verschiedenste Sachen durch die Luft, vor allem Dreck und Grasbatzen. Die meisten haben inzwischen sich eine Handvoll Ackererde zusammengescharrt, die einzige Chance, sich die heranstürmenden Vollschutz-Grünen für kurze Zeit vom Halse zu halten. Und wenigstens ein bißchen lustig sehen die prügelnden Schlammmonster aus. Aber es fliegen eben auch Steine. Und es sind gar nicht immer die jungen Leute mit den schwarzen Kappen. Kurz hinter uns ein junger Mann im Nylonanorak und eigentlich unscheinbarem bis biederem Äußeren. Der übliche Aufschrei der Pazifisten, schon nimmt er die Beine in die Hand. Hat er Angst, will er nicht wiedererkannt werden?

Die Polizei, die später von „Krieg“ sprach, ging mit Wasserwerfern und Schlagstöcken gegen die annähernd 3000 Demonstranten vor. Diese errichteten Barrikaden und setzten die Hindernisse in Brand. Polizisten wurden mit Steinen und Flaschen beworfen, auf Polizeihubschrauber wurde Signalmunition abgefeuert.

[Süddeutsche Zeitung, 9.5.96]

Gedächtnisprotokollen und eidesstattlichen Erklärungen zufolge seien am 7.Mai, am Tag vor dem Transport, Polizisten mehrfach dabei beobachtet worden, wie sie fernab der Castor-Transportstrecke Steine einsammelten und in Kofferräumen von Polizeifahrzeugen verstauten. Am selben Tag seien drei als „Chaoten“ verkleidete Zivilbeamte beobachtet worden, wie sie bei Karwitz auf der Castorstrecke eine Barrikade errichteten und anzuzünden versuchten. Als sie dabei von uniformierten Kollegen erwischt wurden, zeigten sie nach Angaben mehrerer Zeugen Ausweise mit der Aufschrift „Polizeischule Eutin“.

[die tageszeitung, 23.5.96]

Barrikade II

Die Demo nimmt inzwischem immer mehr den Charakter eines Geländelaufes an. Über Kilometer geht es durch unwegsamen Wald. Die ersten müssen bereits eine Pause einlegen. Der Polizeikordon ist wirklich dicht. Nur hin und wieder eine Lücke, in der schnell ein paar Baumstämme auf die Straße gezogen und angebrannt werden können. Schon sind die Räumpanzer wieder da. Doch plötzlich ein Stück freie Straße. Einige haben schon angefangen, Holz aufzuschichten. Und auf einmal sind die verstreuten Demonstranten auch wieder da. Geschäftiges Treiben, immer wieder in den Wald laufen, neue Stangen Holz auf die Straße tragen und ineinander verkeilen. Wie verflogen ist die Mattigkeit des langen Marsches, alle arbeiten nur an dem einen Ziel: den Transport nur möglichst lange verzögern und aufhalten.

Peter Hintze nannte es „erschütternd“, wie eine radikale Gruppierung versuche, „mit hemmungsloser Gewalt“ den Atommülltransport zu verhindern. [Berliner Zeitung, 9.5.96]

Am Rande immer wieder überwältigend gute Erfahrungen mit den Einheimischen. Die Dörfer sind hermetisch abgeriegelt, doch die Bewohner weisen die Schleichpfade durch ihre Höfe und Gärten. Hier wird Wasser ausgeteilt, dort steht ein Kasten Cola auf dem Feld. Viele dürfen die Toiletten der Dorfbewohner benutzen. Am Gartenzaun alte Bäuerinnen, die belegte Brote und selbstgebackenen Kuchen den vorbeistürmenden Demonstanten reichen. Aber eben auch jene schon etwas ältere Krankenschwester: ”Haut bloß ab, wegen Euch mußte ich die ganze Nacht Dienst machen”.

Der lange Marsch

Nach sechs Stunden ist der Transport im Zwischenlager. Daneben und davor Demonstranten, die das letzte Stück nur noch als mehr oder weniger stumme Zuschauer erleben müssen. Die Staatsmacht hat sich durchgesetzt. Einige rührt das zu Tränen, die meisten sind einfach zu geschafft, um noch eine Gefühlsäußerung von sich zu geben. Zwanzig Kilometer über Stock und Stein, zwanzig Kilometer laufen, Steine schleppen, Holzstangen auf die Straße tragen, vor Schlagstöcken davonlaufen. Da bleibt nicht mehr viel Energie. Zurück zu Fuß? Nie!

Immer wieder rufen Leute: „Noch Plätze frei nach Dannenberg!“ – hier muß keiner zurückbleiben. 16 Uhr zur Abschlußkundgebung sind die meisten in Dannenberg: Resümee ziehen. Das war einer der brutalsten Polizeieinsätze im Wendland. Doch der Widerstand ist nicht gebrochen, wir sind mehr und phantasievoller geworden. Für den Einzelnen bleibt – eine gute Erfahrung im gewaltfreien Widerstand. Der größte Erfolg war, daß Menschen unterschiedlichster Prägung zu einer Aktion zusammenfanden, die das ganze Land bewegt hat. Dem nächsten Castor werden sich noch mehr entgegenstellen – „Nix hoch drei“.

Dem Ziel, die Castor-Transporte zu verhindern, sind wir wieder ein Stück näher gekommen. Vielleicht noch ein, noch zwei Castors – 80 oder 100 Millionen DM teure Polizeieinsätze kann sich der Atomstaat nicht lange leisten. Der Ausstieg aus der Atomkraft ist wieder im Gespräch.

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