Die zwanziger Jahre

1. Teil des Artikels: „Geschichtlicher Abriß über die Entstehung von Faschismus und den antifaschistischen Kampf in Deutschland“

von Dietmar Wolf
aus telegraph 5/1996

Geschichte ist immer eine Frage der Betrachtung und nicht selten von politischer Raison geprägt. So schreibt jede politische Bewegung seine eigene Geschichte und belegt diese oder jene Bereiche mit Weißen Flecken oder verbiegt die Geschichte bis sie in das jeweilige politische Bild paßt. diesem Gebiet gleichen sich „linke“ wie „rechte“ Geschichtsdeuter, aber auch die angeblich wertfreie liberale Wissenschaft hat ihre Mythen. Als ehemaliger DDR-Bürger wurde mir natürlich durch das realsozialistische Bildungssystem ein Geschichtsbild zu teil, das mir jetzt, nachdem ich die Möglichkeit zu vergleichen und anderen Auffassungen geboten ist, noch nachträglich das kalte Grausen überkommt. Wenig erstaunlich ist, daß sich gerade dieses Geschichtsbild hartnäckig in weiten Teilen der „Linken“ und besonders der „Westlinken“ hält. Besonders in antifaschistischen Kreisen ist die Auffassung über Faschismus, Antifaschismus und speziell über die die Rolle der KPD erschreckend simpel. Aus diesem Grund soll hier versucht werden, die historische Abläufe und Zusammenhänge zu beleuchten.

Mussolini und der italienische Faschismus

Am 23. März 1919 gründete Benito Mussolini in Mailand die „Fasci Italiani di Combattimento“, eine Bewegung, die für eine Mischung aus populisti­schen Forderungen (Einführung einer Kapital­steuer, Landreform, Beschlagnahme von Kirchen­besitz) sowie einen aggressiven Nationalismus stand. Als Erkennungszeichen dieser neuen Sammelbewegung fungierten Abbildungen der altrömischen Liktorenbündel (lateinisch. fasces) als Symbol der Gerichtsbarkeit. Aus diesem Begriff wurde die verallgemeinernde Bezeichnung Faschismus abgeleitet. Auch der erhobene rechte Arm wurde der altrömischen Grußerweisung römischer Caesaren („Ave Caesar!“) entliehen.

Faschistische Kampfgruppen stürmten die Büros von Gewerkschaften, ländlichen Koopera­tiven, Sozialisten und Christdemokraten und grif­fen auch die deutschen und slawischen Minder­heiten in den Grenzgebieten an. Diese Aktionen wurden von der italienischen Mittelschicht, die sich vor einer sozialistischen Revolution in Italien fürchtete, durchaus begrüßt, und die Polizei sah über faschistische Exzesse oft hinweg.

Selbst der liberale Ministerpräsident Giolitti betrachtete die Faschisten mit einigem Wohlwol­len und forderte Mussolini im Mai 1920 zur Bil­dung, eines Wahlbündnisses auf. Angesichts der Spaltung innerhalb der Katholischen Volkspartei und liberaler Gruppen verschärfte sich die innen­politische Krise, und die Faschisten hatten großen Zulauf. Nachdem es im Sommer 1922 zu einer Reihe faschistischer Gewalttaten gekommen war, versuchten einige Führer der Katholischen Volks­partei, mit den Sozialisten ein Bündnis gegen die Faschisten zu bilden. Der Vatikan distanzierte sich jedoch öffentlich von dieser Politik, was zu einer Spaltung innerhalb der Partei führte.

In der Nacht vom 27./28. Oktober 1922 rissen die Faschisten in den meisten Städten Nord- und Mittelitaliens die Macht an sich, und Tausende von „Schwarzhemden“ begannen ihren „Marsch auf Rom“. Armee und Polizei versperrten ihnen den Weg und, nachdem sie die Oberhand gewon­nen hatten, bereiteten sie sich darauf vor, die Städte in den Provinzen zurückzuerobern. Mini­sterpräsident Luigi Facta forderte den König auf, den Belagerungszustand auszurufen. Als Viktor Emmanuel sich weigerte, trat Facta zurück. Dar­aufhin bekam Mussolini den Auftrag, die Regie­rung zu bilden, was er am 31. Oktober 1922 auch tat.

Zunächst regierte er wie ein herkömmlicher Ministerpräsident, und in seiner Regierung waren auch andere Parteien vertreten. Das Parlament verlieh ihm für ein Jahr unbeschränkte Vollmacht zur Durchführung seiner Reformen. Während dieser Zeit dehnte er die faschistische Kontrolle auf Rechtswesen und Verwaltung aus und schüch­terte die sozialistische Opposition ein. Indem er Steuern senkte, Staatsbetriebe privatisierte, Pläne zur Einführung einer Arbeitslosenversicherung wieder fallen ließ und die Gewerkschaften auf­löste, sicherte er sich die Unterstützung von Indu­strie und Finanzwelt.

Im November 1923 führte Mussolini eine Wahl­rechtsreform durch, die der größten Partei im Par­lament eine Zweidrittelmehrheit sicherte. Die Wahlen vom April 1924 brachten nach einem Wahlkampf der Gewalt und der Einschüchterung politischer Gegner eine riesige faschistische Mehr­heit ins Parlament. Ein sozialistischer Abgeordne­ter, Giacomo Matteo, der die Gewalt anprangerte, wurde entführt und ermordet. Die Öffentlichkeit reagierte zum Teil mit Abscheu, und die meisten nichtfaschistischen Parlamentarier boykottierten von diesem Zeitpunkt an das Parlament. Da sie sich aber auf keinen gemeinsamen Widerstand einigen konnten, blieb ihr Protest ohne Wirkung. Am 31. Dezember 1924 verbot Mussolini alle oppositionellen Zeitungen und ließ politische Gegner verhaften. Im November 1926 wurden die noch verbliebenen oppositionellen Mitglieder der Deputiertenkammer ausgeschlossen, und die Faschisten etablierten eine Einparteiendiktatur.

Militärische Machtübernahme in Spanien

In Spanien wurde die konstitutionelle Monarchie durch das Aufkommen von großen sozialistischen und anarchistischen Parteien sowie durch Arbeiterunruhen erschüttert. Auch liberale Politi­ker, die loyal zur Verfassung standen und das Land modernisieren wollten, waren über die sozialen Spannungen beunruhigt, während die Armee, tra­ditionell ein wichtiger Faktor in der spanischen Politik, mit der Regierung unzufrieden war, die mit den Aufständen in der Kolonie Marokko nicht fer­tig wurde. Die Krise erreichte ihren Höhepunkt, als im September 1923 General Primo de Rivera die parlamentarische Regierung stürzte und eine Mili­tärdiktatur errichtete. De Rivera hatte keine politi­sche Partei hinter sich; aber wie Mussolini verach­tete er herkömmliche Parteipolitik, und er übernahm dessen faschistisches Vokabular. Es waren die gleichen gesellschaftlichen Gruppen wie zuvor schon in Italien, die sein Regime in Spanien unterstützten: die Angehörigen der Mittelschicht, der Finanz- und Geschäftswelt sowie die katholi­sche Kirche.

Die deutsche Variante des Faschismus

Die wohl gefährlichste Form des Faschismus war die nationalsozialistische Bewegung Adolf Hit­lers. Am 20. April in Braunau, Osterreich, gebo­ren, nach einem erfolglosen Kunststudium in Wien und München und dem Einsatz als Front­soldat im Ersten Weltkrieg, kam Hitler 1919 als Vertrauensmann der Reichswehr in München mit einer nationalistischen Gruppe namens Deutsche Arbeiterpartei in Verbindung, die von Anton Drexler geführt wurde. Bald war Hitler Chefpro­pagandist und Sprecher der Partei, die am 24.Februar 1920 ihren Namen in Nationalsozialisti­sche Arbeiterpartei Deutschlands (NSDAP) änderte, und deren Führer er 1921 wurde. Ihr Ziel war es, die Arbeiter vom Klassenkampf fort- und auf die Unterstützung des deutschen Nationalis­mus hinzulenken. Hauptgegner waren die Juden, die Marxisten und die Sozialdemokraten.

Hitler hatte in seiner Zeit in Wien den dort virulenten Antisemitismus übernommen und erwei­terte ihn für seine eigenen Zwecke. Die „internationale Verschwörung der Juden“ konnte für alles verantwortlich gemacht werden, von Deutschlands militärischer Niederlage bis zur bol­schewistischen Revolution, von der Börsenspekulation bis zu alles lähmenden Streiks.

Die Nazis gründeten eine paramilitärische Formation, die Sturmabteilungen (SA), um ihre Ver­sammlungen zu schützen und die der Gegner gewaltsam zu stören. Damit standen sie nicht allein: In den Jahren 1920-23 förderte die antirepublikanische Regierung Bayerns solche Grup­pen in der Hoffnung, sie könnten den Kern einer Befreiungsarmee für die Loslösung vom Weimarer System bilden.

1923 ruinierte die Inflation weite Teile der Mit­telschicht und schuf eine Krise des Vertrauens in die Republik. Als im August desselben Jahres Stresemann den passiven Widerstand gegen die französische Ruhrbesetzung aufhob, versuchte Hitler, die Situation zu nutzen und die bayerische Regierung von Kahr zum Staatsstreich gegen Ber­lin zu zwingen (Hitlerputsch, 9. November 1923), Er scheiterte jedoch am (unerwarteten) Widerstand der Reichswehr und der schwankenden Hal­tung der bayerischen Regierung und wurde verhaftet. Die NSDAP wurde verboten. Dennoch gelang es Hitler, aus dem Fehlschlag einen persönlichen Erfolg zu machen, indem er seine eigene Verantwortung für die Aktion betonte und sich so in Gegensatz zu den anderen nationalen Figuren (wie z. B. Ludendorff) stellte, die versuchten, ihre Mittäterschaft zu leugnen. Ein ihm wohlgesinntes Gericht verurteilte ihn zu fünf Jahren (komfortabler) Festungs­haft in Landsberg, aus der er vorzeitig (Ende 1924) entlassen wurde. Bis dahin verfaßte er „Mein Kampf`, in dem er Zeugnis von seinem Judenhaß ablegte und sein geopolitisches Pro­gramm verkündete: die Eroberung von „Lebens­raum“ für die „germanische Rasse` durch die Ver­nichtung des bolschewistischen Rußlands.

Äußerlich gesehen, waren die Jahre 1924-28 eine Zeit der Stabilität für die Weimarer Republik. Die Währung war stabiler geworden, und Deutschlands internatio­nale Situation hatte sich verbessert. In den Wahlen zum Reichstag vom Mai 1928, an denen die Nazis erstmals teilnahmen, erzielten sie mit 810.000 Stimmen gerade 2,1 % der Stimmen und 12 Sitze. Ende 1928 verfügte die NSDAP über etwa 100.000 Mitglieder. Aber Hitler hatte sich mittlerweile eine schlagkräftige Organi­sation geschaffen, die auch in Nord- und Mittel­deutschland vertreten war; obwohl die Partei vor allem (junge) Angehörige der Mittelschicht anzog, war sie doch für weitere Kreise attraktiver als die meisten etablierten Parteien.

Sowohl in Italien als auch in Deutschland kam der aufkommenden faschistischen Bewegung ein parlamentari­sches System entgegen, das keine starken Regie­rungen hervorbrachte, die in der Lage gewesen wären, eine eindeutige Politik zu betreiben und in der Wirtschaft Vertrauen zu erwecken. Dennoch hatte sich der Faschismus bis 1925 erst in Italien und Spanien etabliert; in den anderen europäischen Demokratien konnte sich der Parlamentarismus noch behaupten.

Die paramilitärischen Schutztruppen der Massenparteien

Die seit 1921 von den Nazis aufgebaute SA (Sturmabteilung), die als paramilitärische Versammlungsschutztruppe fungierte, wurde nach der Wiederzulassung der NSDAP neu formiert. Zunächst entstand sie wieder als lokaler Versammlungsschutz, der jedoch im Laufe der Jahre zu einer reichsweiten Organisation ausgebaut wurde. Einen obersten SA-Führer berief Hitler im November 1926. 1930 übernahm er das Amt pro forma selbst und berief Ernst Röhm zu seinem Stabschef. Mit zunehmender Ausweitung der NSDAP wurde die SA auch zum direkten Kampf gegen andere politische Organisationen eingesetzt. Die Überfälle von SA-Truppen auf Versammlungen der KPD und SPD häuften sich.

Als Reaktion auf das verstärkte Auftreten von rechten Verbänden von Stahlhelm über Werwolf bis hin zur SA gründeten die beiden Arbeiterparteien ebenfalls paramilitärische Organisationen. Die KPD bildetet im Mai 1924 den „Rot Frontkämpferbund (RFB) und gründete ihn offiziell am 1. August 1924 in Halle“. 1927 zählte er 127.000 Mitglieder und lag zu dieser Zeit sogar über der Mitgliederzahl der KPD. Er gab eine eigene Zeitung heraus „Die Rote Front“. Konkreter Anlaß war der „Blutsonntag“ vom 11. Mai 1924 in Halle. Zu diesem Tag hatten die rechten Verbände zu einer Großdemonstration aufgerufen. Die KPD mobilisierte daraufhin für das gleiche Datum zu einem „Arbeitertag“ unter der Losung „Arbeiter, verjagt am 11. Mai die Faschisten aus Halle“ Als am Morgen des 11. Mai 500 Kommunisten die Saale überschreiten wollten, ging ein Aufgebot der Schutzpolizei gegen sie vor. In Folge eines Handgemenges entwickelte sich eine kurze Schießerei, die 8 Tot und 16 Schwerverletzte forderte. Damit war für viele Kommunisten klar: Die KPD benötigt einen militärischen Schutzverband. Es gab für die Partei jedoch noch einen weit wichtigeren Grund. Nach dem scheitern des „deutschen Oktobers“ 1923 wurde die Partei samt ihrer Unterorganisationen verboten. Als am 1. März 1924 das KPD-Verbot wieder aufgehoben wurde, galt dies jedoch nicht für die „proletarischen Hundertschaften“. Es galt also einen legalen Ersatz für diese Verbände zu schaffen. Hinzu kam, daß der politische Gegner bereits über derartige Verbände verfügte. Bedenken hatte vor allem von Karl Gröhl alias Karl Retzlaw geäußert, der seit Anfang 1923 den illegalen „M“- und „N“-Apparat der KPD leitete. Er meinte, daß man mit dem RFB das militaristische Auftreten der rechten Verbände nachahmen würde, was gegen den Geist Liebknechts stände, der stets gegen jede Form von Militarismus gekämpft habe. Solche inhaltlichen Einwendungen wurden indes von Thälmann und seinen Beratern für gegenstandslos erklärt. Aus deren Sicht war es in erster Linie wichtig, die Arbeiter davon abzuhalten, sich dem bereits bestehenden sozialdemokratischen „Reichsbanner“ anzuschließen. .

Das sozialdemokratische Pendant zum RFB war der „Reichsbanner Schwarz Rot Gold, Bund deutscher Kriegsteilnehmer und Republikaner“. Dieser wurde im Februar 1924 in Magdeburg gegründet. Die Mitgliederzahl wurde 1925 offiziell mit 3 Millionen beziffert, in Wirklichkeit hat die Mitgliederzahl nie die Millionengrenze überschritten. Das Selbstverständnis des „Reichsbanners“ lag in der Betonung auf dem nationalen Erbe der Arbeiterbewegung, der Bereitschaft, proletarische Klasseninteressen der Verteidigung der Republik unterzuordnen und um dieses Zieles willen mit Kräften aus dem republikanisch gesinnten Bürgertum zusammenzuarbeiten. Dies machte sie in den Augen vieler linker Sozialdemokraten verdächtig und suspekt, war jedoch gleichsam der Schlüssel für eine hohe Popularität in breiten Schichten der Anhänger der Republik. Der preußische Innenminister Carl Severing, der paramilitärischen Verbänden allgemein mißtrauisch gegenüberstand, lobte am 1. Mai 1925 den Reichsbanner und seinen „überparteilich-republikanischen Charakter“. Der Reichsbanner sei „schlechthin die Organisation, die über den Gesichtskreis einer Partei hinweg alle Republikaner zu einem festen Wall gegen die Feinde des heutigen Staates zusammenführen imstande“ wäre. Im Sommer 1926 bildetet der Reichsbanner einen sogenannten „Bund republikanischer Kleinkaliberschützenvereine“. Damit reagierte er auf die rechten und kommunistischen Verbände, die längst entsprechende Bewaffnungen vorgenommen hatten.

Während sich die verschiedenen Organisationen in den ersten Jahren nur gelegentliche Auseinandersetzungen lieferten, wurden die gegenseitigen Überfällen mit dem Jahren 1928/29 härter. Alle Seiten setzten zunehmend auf physische Gewalt als Mittel zur Umsetzung der jeweiligen politischen Ziele. Überfälle und Prügeleien waren zunehmend an der Tagesordnung. SA gegen RFB, RFB gegen SA, SA gegen Reichsbanner, Reichbanner gegen SA, RFB gegen Reichsbanner, Reichsbanner gegen RFB. Es gab Verletzte und auch Tote. Besonders in Berlin und Hamburg eskalierte dies Situation immer mehr. Es war besonders in Großstädten nicht selten, daß Sturmlokale der gegnerischen Seiten dicht beieinander, wenn nicht sogar gegenüber lagen. Infolgedessen gehörte es zunehmend zur Regel, daß es nach gelungenem Besäufnis zu gegenseitigen Überfällen und regelrechten Straßenprügelleien kam.

Um der Popularität der faschistischen Bewegung und in diesem Fall dem Zustrom zur SA entgegenzusteuern, wurden bei RFB und Reichsbanner ähnliche Begrifflichkeiten wie in der NSDAP übernommen und die Organisationen klassisch militärisch untergliedert. So wurden Begriffen wie „Führer“, „Gau“ bereits 1925/26 beim RFB eingeführt. Untergliedert wurde er in Gruppen, Züge, Kameradschaften, Abteilungen, Ortsgruppen, Untergaue, Gaue. Der Reichsbanner zog 1931 nach. Aus dem „Bundesvorsitzenden“ wurde der „Bundesführer“ und aus dem „Gauvorsitzenden“ der „Gauführer“. Theodor Haubach, einer der aktivsten Mitglieder des Reichsbanners erklärte bereits 1930: „Das Reichsbanner ist keine Vereinsdemokratie, sondern eine Führerdemokratie“.

Betrachtet man die gewollten und bewußt geförderten Duplizitäten von RFB und Reichsbanner zur SA, so wird es unschwer plausibel, daß nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten, ganze Einheiten der proletarischen Verbände, geschlossen in die Reihen der SA übergingen.

Der Blutsontag des 1. Mai 1929

Dem Polizeipräsidenten der Reichshauptstadt, dem Sozialdemokrat Friedrich Zörgiebel, erschien diese Lage so bedrohlich, daß er am 13. Dezember die Versammlungen und Demonstrationen unter freiem Himmel verbot Am 23. März 1929 kündigte der preußische Innenminister Grzesinski an, daß er wegen des zunehmenden „Treibens radikaler Organisationen“ und der „Ausschreitungen bedauerlichster Art“ in Zukunft „gegen die radikalen Organisation mit allem zu Gebote stehenden Mitteln rücksichtslos einschreiten“ und auch vor einem Verbot nicht zurückschrecken werde. Zörgiebel entschloß sich im April, das Demonstrationsverbot auch für den 1. Mai aufrechtzuerhalten.

Eine kluge Entscheidung war das nicht. Arbeiterdemonstrationen ausge­rechnet am 1. Mai, dem traditionellen Tag der Arbeit, zu verbieten, mußte die Kommunisten provozieren. So wie die KPD sich in den letzten Monaten gegeben hatte, war nicht wahrscheinlich, daß sie sich einem Verbot fügen würde. Eher war zu vermuten, daß ihr schwere Zusammenstöße mit der Polizei durchaus ins Konzept paßten: als Mittel, um die eigenen Anhänger gegen die Sozialdemokratie und den von ihr gestützten Staat zu mobilisieren. Auf der anderen Seite lagen der Poli­zei keine Erkenntnisse vor, daß die Kommunisten den bewaffneten Kampf such­ten oder gar einen gewaltsamen Umsturzversuch planten. Zörgiebel ging vielmehr davon aus, daß die KPD Furcht hatte, die Kontrolle über die Ereignisse zu verlie­ren. Nach seinen Informationen rechnete die Partei mit Provokationen des linkskommunistischen „Leninbundes“ und mit Blutvergießen, auf das sie dann mit der Ausrufung eines Generalstreiks antworten wollte. Aber aus welchen Gründen auch immer ein unfriedlicher 1. Mai zu erwarten war: das Demonstrationsverbot war geeignet, die Unruhe nicht zu dämpfen, sondern zu schüren.

Am 26. April konterte das kommunistisch beherrschte Großberliner Maikomi­tee die Entscheidung des Polizeipräsidenten mit einem Aufruf, der andeutete worauf es hinaus laufen würde. „Selbst im reaktionären München, selbst in Hamburg, in Kiel, in Schles­wig-Holstein – überall sind am 1. Mai die Demonstrationsverbote aufgehoben. Nur der Polizeipräsident Zörgiebel will unter der unbewaffneten Demonstration der Berliner Arbeiterschaft ein Blutvergießen am 1. Mai provozieren. Das Berli­ner Maikomitee spricht im Namen der Berliner Arbeiterschaft aus, daß die Beleg­schaften der Betriebe mit dem politischen Massenstreik am 2. Mai antworten wer­den, wenn Zörgiebel es wagt, am 1. Mai Arbeiterblut zu vergießen. . . . Volle Arbeitsruhe am 1. Mai! Rote Fahnen heraus! Straße frei für die Massendemonstrati­on!“

Die ersten Maitage des Jahres 1929 leben in der Erinnerung von Kommunisten als „Berliner Blutmai“ fort. Die Polizei registrierte über 30 Tote, 194 Verletzte 1228 Verhaftungen. Die schwersten Kämpfe tobten in der Hochburg der SPD, dem „roten“ Wedding. Dort wurden am Abend des 1. Mai Barrikaden er­richtet; in der Kösliner Straße schossen Demonstranten von Dachböden und Dächern auf die heranrückende Polizei. Ähnliche Szenen spielten sich am Hermannplatz in Neukölln ab. Die häufigsten Waffen, die auf Seiten der Kommunisten ein­setzt wurden, waren freilich nicht Pistolen oder Gewehre, sondern Flaschen, und Messer. Von einem systematisch vorbereiteten Putschversuch konnte keine Rede sein. Eine aktive Rolle der Komintern oder des von ihr kontrollierten Apparats der KPD läßt sich nicht nachweisen und ist eher unwahrscheinlich, ­da sonst der Polizei wohl mehr Waffen in die Hände gefallen wären. Unge­wiß ist weiter, in welchem Umfang die Behauptung des „Vorwärts“ zutraf, die Kommunisten hätten „Bundesgenossen gefunden, die am 1. Mai nach Eintritt der Dunkelheit aus der Tiefe der Großstadt emporgestiegen sind.“ Im Kern richtig ist sicherlich eine Feststellung, die der Vorsitzende des Kommunistischen Ju­gendverbandes, Walter Häbich, auf dem Weddinger Parteitag der KPD im Juni formulierte:. Bei den Maikämpfen hätten Jugendliche in den „vordersten Reihen“ gestanden ­und zu den „kühnsten und entschlossensten Kämpfern“ gehört. Bei arbeitslo­sen Jugendlichen dürften die Aggressionen gegenüber der Polizei am stärksten ge­wesen sein, und es ist zu vermuten, daß sie unter den Straßenkämpfern im Wedding und in Neukölln besonders zahlreich vertreten waren.

Die Polizei machte nicht nur vom Knüppel, sondern vielfach auch von der Waffe Gebrauch; sie setzte in Wedding wie in Neukölln Panzer­wagen und Maschinengewehre ein. Unter den Toten waren mehrere unbeteiligte Personen, aber kein Polizist; nur ein Polizist trug Schußverletzungen davon. Mit dem Haß, der den Ordnungskräften in den Arbeitervierteln entgegenschlug, war das Verhalten der Polizei allein nicht zu erklären. Ein erheblicher Teil der Verantwortung fiel auf den Berliner Polizeipräsidenten, der seinen Beamten offen­bar Anweisungen gegeben hatte, als ginge es vor allem darum, ein Exempel zu statuieren. Der liberalen „Frankfurter Zeitung“ drängte sich sogar der Eindruck auf, die Polizei sei .„von der militärischen Einstellung beherrscht gewesen, es mit einem schlechthin als Feind zu behandelnden Gegner zu tun zu haben, statt mit einer nur von Aufrührern ziemlich dünn durchsetzten Bevölkerungsschicht.“ Die KPD allerdings konnte von der Eskalation der Gewalt nicht überrascht sein. Daß sie Tote und Verletzte bewußt einkalkuliert hatte, ging aus dem Aufruf des Mai­komitees hervor. Die Überfälle, die am Vorabend des 1. Mai Jungspartakisten und Mitglieder des Roten Frontkämpferbundes auf Verkehrspolizisten an vielen Berliner Straßenkreuzungen verübten, deuten in dieselbe Richtung, ebenso kom­munistische Flugblätter vom 30. April, in denen behauptet wurde, das Demon­strationsverbot sei aufgehoben.

„Die Kommunisten, organisatorisch bankrott, von häßlichen Stänkereien durchwühlt, in leidenschaftlichen Kämpfen untereinander verwickelt, brauchten Tote“, erklärten am 3. Mai die Vorstände der SPD und ihrer Reichstagsfraktion. „Sie brauchten sie in Berlin, wo ein Sozialdemokrat Polizeipräsident ist. Die Sozialdemokraten mußten wieder einmal zu Bluthunden gestempelt werden. Dazu brauchte man Leichen und darum mußte das Lumpenproletariat mobil gemacht werden, das den Hauptteil der Kämpfe gegen die Polizei geleistet hat. Die Toten und Verletzten Berlins sind für die Kommunisten Agitationsmaterial und nichts anderes. Die Opfer sind auf Befehl der kommunistischen Zentrale gefallen! Das ist die Wahrheit! Der Aufruf schloß mit den Worten: „Nieder mit den kommuni­stischen Schädlingen der Arbeiterbewegung! Vorwärts und aufwärts mit und in der Sozialdemokratie!“

Die Äußerungen, die seit dem 2. Mai von der KPD zu hören waren, konnten den sozialdemokratischen Argwohn nicht entkräften, die Opfer der blutigen Un­ruhen seien den Kommunisten politisch gelegen gekommen. „Die Polizei des So­zialdemokraten Zörgiebel läßt auf die Berliner Arbeiterschaft schlagen, stechen, schießen“, erklärte das ZK am 2. Mai. „Tote und Verwundete des Berliner Prole­tariats klagen Zörgiebel, klagen die Sozialdemokratie, klagen die blutbefleckte Koalitionsregierung an . … Arbeiterblut wird vergossen! Arbeiterblut klagt an! Arbeiterblut fordert Vergeltung! … Zörgiebels Blutmai – das ist ein Stück Vor­bereitung des imperialistischen Krieges! … Zörgiebels Blutmai, der Blutmai der Sozialdemokratie – das ist der Auftakt für die faschistischen Diktaturpläne de Bourgeoisie und Sozialdemokratie. Wenn es nach dem Willen der Zörgiebel und Grzesinski, der Hermann Müller und Severing, nach dem Willen der Mörderpartei geht, sollen weiter Arbeiter niedergemetzelt werden … Nieder mit der Sozialdemokratie, der blutbefleckten Mörderpartei.“

Im Reichstag kam es am 2. Mai zu heftigen Auseinandersetzungen zwischen Kommunisten und Sozialdemokraten. Wilhelm Pieck verlangte die sofortige Beratung eines Antrags auf Aufhebung des Demonstrationsverbotes, weil die Arbeiterschaft darauf dränge, daß die Schuldigen zur Verantwortung gezogen würden und in den Betrieben bereits in den politischen Massenstreik eintrete, um „diesen Mordkerl“ Zörgiebel von seinem Platze zu verjagen. Der Sozialdemokratie warf Pieck eine „infame Mordhetze“ und eine „Blutschuld“ vor. Das Plenum lehnte seinen Antrag zur Geschäftsordnung jedoch ebenso ab wie einen weiteren, von dem kommunistischen Abgeordneten Geschke eingebrachten Antrag, der Reichstag möge seine Beratungen bis zum folgenden Tag aussetzen. Nach der zweite Abstimmung erhoben sich die Abgeordneten der KPD und begannen die Internationale zu singen. Der amtierende Vizepräsident, der deutschnationale Abgeordnete Graef, unterbrach daraufhin die Sitzung für eine halbe Stunde. Als die Kommunisten den Plenarsaal verließen, riefen sie im Chor: „Nieder mit den Mördern!“

Aus, Moskau trafen in den ersten, Maitagen zwei Telegramme in Berlin ein, die ihren Empfänger, die KPD, allerdings nicht erreichten, weil das Hauptpostamt sie unter Berufung auf den Welttelegraphenvertrag anhielt und statt der kommunistischen Parteizentrale der Reichsregierung zustellte. Im ersten Telegramm, das vom Zentralkomitee des sowjetischen Metallarbeiterverbandes unterzeichnet war, hieß es, Barrikaden und Blut Berliner Arbeiter würden „in der Geschichte der Revolution verewigt sein als Demonstration revolutionären Bereitschaft deutscher Arbeiterklasse und als empörender Akt des Verrates dreimal verfluchter Sozialdemokratie … Es lebe rücksichtsloser Kampf auf Leben und Tod gegen Bourgeoisie und ihre Hofhunde Sozialdemokraten.“ Das zweite Telegramm kam, wie Severing am 6. Mai dem Kabinett mitteilte, vom „Politischen Büro in Moskau“. Die Absender bezeichneten die Berliner Maidemonstrationen als „Weiterführung neuer revolutionären Taktik“. Hunderttausend Arbeiter unter revolutionären Führung hätten auf den Straßen Berlins „bewaffneten vereinten Kräften Bourgeoisie Reformisten Waffengang geliefert, der als Auftakt zu heranrückenden Kämpfen zu betrachten ist. Senken wir unsere Kampfesfahnen vor heldenhaften Opfern sozialdemokratischer Meuchelmörder …“

Die Botschaften aus der Sowjetunion bestärkten die regierenden Sozialdemokraten in der Ansicht, daß mit weiteren Gewaltaktionen, ja mit Putschversuchen der Kommunisten zu rechnen war. Preußens Innenminister Grzesinski drängte deshalb, unterstützt von Ministerpräsident Otto Braun, auf ein Verbot der KPD und ihrer Nebenorganisationen. So weit wollte Reichsinnenminister Severing nicht gehen. Ein solches Verbot sei, so erläuterte er am 6. Mai im Reichskabinett, nicht durchführbar und würde sich infolgedessen als Fehlschlag erweisen. Dagegen habe er dem Verbot des Roten Frontkämpferbundes und der ihm angegliederten Verbände, der Roten Jungfront und der Roten Marine, durch die preußische Regierung zugestimmt und den entsprechenden Erlaß den übrigen Landesregierungen zugeleitet. Er hoffe bestimmt, daß diese sich dem preußischen Schritt an­schlössen.

Der Rotfronkämpferbund wird verboten

Das Verbot des RFB in Preußen erging noch am gleichen Tag, dem 6. Mai 1929. Es wurde damit begründet, daß der Verband eine Gefahr für die Sicherheit und den Bestand des Deutschen Reiches darstelle. Als Rechtstitel des Verbots nannte der Erlaß Bestimmungen des Republikschutzgesetzes von 1922, des Entwaffnungsgesetzes von 1921 und des Reichsvereinsgesetzes von 1908. Dem preußischen Beispiel folgten sogleich Bayern, Sachsen, Hamburg, Lippe-Detmold und Mecklenburg-Strelitz. Andere Länder zögerten zunächst; die sozialdemokratisch geführten Staaten Hessen, Baden und Braunschweig hatten Bedenken dagegen, daß sich Grzesinskis Erlaß einseitig gegen einen Kampfbund der radikalen Linken richtete, rechte Organisationen wie den Stahlhelm und Hitlers SA aber fortbestehen ließen. Es bedurfte einer Reichskonferenz der Innenminister am 10. Mai in Berlin und eines förmlichen Ersuchens Severings, um das Verbot des RFB im ganzen Reich durchzusetzen. In Braunschweig mußte der Reichsinnenminister an Stelle der widerstrebenden Regierung selbst tätig werden: Am 15. Mai erklärte er die Ortsgruppen des RFB für aufgelöst.

Die Einwände der drei Staaten waren begründet. Zwar hatten Stahlhelm und SA keine Barrikaden gebaut, aber an Militanz standen sie dem kommunistischen Wehrverband nicht nach. Die SA freilich war in Norddeutschland bisher noch nicht so stark in Erscheinung getreten wie südlich des Mains, und der Stahlhelm konnte hoffen, daß sein Ehrenmitglied, Reichspräsident von Hindenburg, ihn vor einem Verbot bewahren würde. Das Verbot aller uniformierten Verbände, wie es Badens sozialdemokratischer Innenminister Adam Remmele forderte, war schon deshalb nicht durchsetzbar, weil eine solche Maßnahme auch das Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold getroffen hätte – und dazu war, angesichts des Fortbestehens der rechten Kampfverbände, kein anderer Sozialdemokrat bereit. So wenig daran zu deuteln war, daß es für das Verbot des RFB eine hinreichende juristische Begründung gab, der Eindruck der politischen Einseitigkeit war nicht zu verwischen.

Für die KPD bedeutete die Auflösung ihres paramilitärischen Verbandes, der zu diesem Zeitpunkt wahrscheinlich etwa 80000 Mitglieder hatte, organisatorisch einen Rückschlag. Eine Beschwerde beim Reichsgericht hatte keinen Erfolg, weil das Republikschutzgesetz, auf das der RFB sich berief, am 22. Juli 1929 mangels der für eine Verlängerung notwendigen qualifizierten Mehrheit im Reichstag erlosch. Um die Folgen des Verbots auszugleichen, verlegte sich die KPD Ende Juli auf eine Doppelstrategie: Der RFB sollte einerseits illegal weitergeführt werden; andererseits wies das ZK die Bezirke an, die Bildung legaler „antifaschistischer` Arbeiterorganisationen zu unterstützen. Solche Verbände entstanden zwischen Juli und Oktober 1929, wobei die Namen wechselten. Der Ende September 1930 gegründete Kampfbund gegen den Faschismus hatte den Zweck, diese Organisationen auf Reichsebene zusammenzufassen. Der RFB veranstaltete Ende Oktober 1929 nochmals Demonstrationen in einigen größeren Städten, so in Leipzig und Nürnberg. Aber nur eine Minderheit war bereit, den Weg in die Illegalität zu gehen. Im Sommer 1930 soll noch rund ein Drittel der früheren Mitglieder in den Reihen des RFB gestanden haben. Sie bildeten zugleich den harten Kern der neuen legalen Wehrverbände der KPD.`

Die Parole des Sozialfaschismus

Wenn das Verbot des RFB die KPD organisatorisch zurückwarf, so war es propagandistisch zunächst doch von unschätzbarem Nutzen für die Parteiführung. Zusammen mit dem „Blutmai“ bewirkte das Verbot des Roten Frontkämpferbundes einen gewissen Meinungsumschwung an der „Basis“ der KPD. Der frontale Kampf gegen die Sozialdemokratie hatte bislang bei den Mitgliedern, vielen Ressentiments gegen die „Bonzen“ zum Trotz, keine breite Resonanz gefunden. Jetzt hielten nicht wenige den Beweis für erbracht, daß die SPD wirklich in das Lager des bürgerlichen Klassenfeindes übergewechselt war, ja faschistische Züge angenommen hatte.

Die Parole des „Sozialfaschismus“ brauchte nicht erst erfunden zu werden. Im Zuge eines neuerlichen Kurswechsels der Komintern hatte Sinowjew bereits Anfang 1924 die Sozialdemokratie als einen „Flügel des Faschismus“ bezeichnet, und Stalin war im September desselben Jahres mit der These gefolgt: „Die Sozialdemokratie ist objektiv der gemäßigte Flügel des Faschismus … Diese Organisationen schließen einander nicht aus, sondern ergänzen einander. Das sind keine Antipoden, sondern Zwillingsbrüder.“ Seit dem Herbst 1925 wurde dann die Sozialdemokratie nicht mehr offiziell als „faschistisch“ bezeichnet. Das Etikett paßte nicht in eine Periode, in der die „Einheitsfront von unten und oben“ als ein zulässiges Mittel kommunistischer Politik galt. „Sozialfaschisten“ waren aus der Sicht der KPD wohl die Führer der 1926 gegründeten Altsozialdemokratischen Partei in Sachsen, nicht aber die Führer der Partei, von der sie sich getrennt hatten. Erst im Verlauf des Jahres 1928, und durch den maßgeblichen Einfluß von KPdSU und Komintern, wurde der Sozialdemokratie gegenüber wieder der Vorwurf erhoben, sie entwickle sich auf den Faschismus zu. Die Beschlüsse des Sechsten Weltkongresses ließen erkennen, daß die Sprachregelungen von 1924 eine neue Karriere vor sich hatten.

Auf dem 12. Parteitag der KPD, der vom 9. bis 16. Juni 1929 stattfand, wurde der Kampf gegen den „Sozialfaschismus“ zur offiziellen Parteilinie. Ursprünglich hatte der Parteitag vom 5. bis 10. Mai in Dresden stattfinden sollen. Nach den Berliner Unruhen wurde er um fünf Wochen verschoben und demonstrativ dorthin verlegt, wo die heftigsten Barrikadenkämpfe getobt hatten: in den Wedding.

Von einer ernsthaften Opposition gegen die Linie des ZK war auf diesem Parteitag, dem letzten in der Weimarer Republik, kaum etwas zu spüren. Nur fünf „Versöhnler“ kamen zu Wort, darunter Ernst Meyer, der zu den Maikämpfen kritisch anmerkte, die Überschätzung der eigenen Kraft der Partei habe dazu geführt, „daß man sich auf die Spontaneität der Massen verließ, und daß man glaubt, daß der bloße Aufruf der Partei zur Demonstration ohne entsprechende Organisation und ganz besonders politische Vorbereitung schon die Erfolge bringen werde.“ Vom Parteitag zur Unterwerfung aufgefordert, versicherte Ewert namens der „Versöhnler“ am Ende des Kongresses, seine Freunde und er verpflichteten sich, „keine Fraktions- und gruppenmäßigen Verbindungen einzugehen, zu der Taktik der Partei nur im Rahmen der für jedes Mitglied bestehenden Rechte und Pflichten Stellung zu nehmen und die Parteitagsbeschlüsse sowie die des ZK diszipliniert durchzuführen.“ Auf Vorhaltung Thälmanns hin ergänzte Ewert noch, daß die „Versöhnler“ eine den Delegierten unterbreitete schriftliche Darlegung ihrer Position nicht als Fraktionsplattform benutzen und nicht zur Diskussion in der Partei stellen würden.

Ernst Thälmann hatte auf dem Weddinger Parteitag ein leichtes Spiel. Die Delegierten feierten ihn laut Protokoll vor Beginn seines mehrstündigen Referates in einer Art, sie nur mit dem Wort „Führerkult“ beschreibbar ist: „Bravorufe, langanhaltender Beifall. der Parteitag bereitete Genossen Thälmann eine stürmische Ovation. Die Delegierten erheben sich und singen die `Internationale´. Die Jugenddelegation begrüßt den 1. Vorsitzenden der Partei mit einem dreifachen `Heil Moskau´.“

Quellen:
– Der Schein der Normalität, Arbeiter und Arbeiterbewegung in der Weimarer Republik (Verlag J.H.W. Dietz Nachf.)
– Weimarer Republik, eine Nation im Umbruch (Verlag PLOETZ)
– Faschismus Regime des Verbrechens (Staatsverlag der DDR)
– Die Weimarer Republik (Edition Zeitgeschehen)
– Propyläen- Weltgeschichte (Propyläenverlag)

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