Weder frustrierte Altlinke noch Zapata-Euphorie

1. Europäische Treffen für eine menschliche Gesellschaft und gegen den Neoliberalismus in Berlin

von Wolfgang Rüddenklau
aus telegraph 5/1996

Die Presseresonanz auf das Ereignis war denkbar gering. Für einen Kongreß von über 1000 Linken aus West- und zum ersten Mal in dieser Form auch aus Osteuropa hatte das „Neue Deutschland“ nur 20 Zeilen übrig. Die immer noch als „linksalternativ“ bezeichnete „tages- zeitung“ („taz“) berichtete erst am übernächsten Tag, auf immerhin 60 Zeilen. Am ausführlichsten war noch die kommunistische Tageszeitung „Junge Welt“, die sogar ein Foto brachte, obwohl sie sich in den Vortagen darüber beschwert hatte, daß hier die reine Lehre des Marxismus- Leninismus zersetzt würde, indem der Begriff des Kapitals durch den des Neoliberalismus abgelöst worden wäre.

Ganz offensichtlichlich hatte die traditionelle Linke in Ost und West ihre Schwierigkeiten mit dem neuen Paradigma, das nach dem Muster der zapastischen Revolte hier nach Europa transportiert wurde: Statt einer zentralen linken Ideologie – in Deutschland mittlerweile fast soviel Zentralen wie Linke – geht es hier um die Vernetzung von Kulturen, Szenen und Interessengruppen zu einer Gesellschaft von unten, einer Zivilgesellschaft. Statt geschlossener Parteiblöcke agiert hier der vielfätige Widerstand von lebendigen Strukturen. Und die Guerilla, die dieses unübersichtliche Gewimmel in Mexiko begleitet, will von vorherein nicht Führer, sondern bestenfalls Moderator eines Prozesses sein.

Daß die Genossen vom “Neuen Deutschland” sauer waren, ist begreiflich, hatte man dem angereisten PDS-Repräsentanten im Alte-Kämpfer-Look (Thälmann-Mütze und Lederjacke) doch in einer der Vorbereitungsrunden bedeutet, daß beim Kongreß nur Individuen, nicht Parteisklaven gefragt sind. Weit trauriger war, daß sich verschiedene Altlinke offenbar eigens zu dem Zweck im Vorbereitungskreis etabliert hatten, um ihr Unbehagen mit der neuen Richtung zu formulieren. Das schlug selbst auf die Internetseite “http://www.icf.de/YaBasta/ybdhome.htm” durch, in der der Kongreß und seine Inhalte vorgestellt wurden. Der Begriff Neoliberalismus, hieß es dort aus Kreisen des Vorbereitungskreises “birgt die Gefahr, als neues Schlagwort Unterschiede bzw. Ursache und Wirkung zu verschleiern. Der Begriff reduziert sich zu sehr auf Besitzverhältnisse – es wird nur in den Kategorien arm und reich gedacht und läßt z.B. die Kritik patriarchaler Herrschaftsverhältnisse außen vor.”

Fast sprengend wurde dann in der Tat der ideologische Monopolanspruch der autonomen Frauen- und Lesbenfraktion, die, wie üblißh geworden, forderte, daß nicht Analyse, Widerstand und Perspektiven gegenüber dem Neoliberalismus in jeder Arbeitsgruppe Hauptpunkt sein solle, sondern stattdessen der Hauptwiderspruch Patriarchat.

Immerhin wurde dann alles, alles gut und der winzigen Vorbereitungsgruppe gelang es innerhalb von drei Monaten, die vielfältigen Vorbereitungen für den Berliner Kongreß in den Griff zu bekommen. Die inhaltlichen Vorbereitungen liefen allerdings dezentral, in den verschiedenen Ländern ab. Übersetzung und Vermittlung zwischen den verschiedenen Nationen wurde in der Schweiz realisiert.

Vom Kongreß kann ich selbst nur authentisch berichten, was ich erlebt habe. Weil die Umwelt- Bibliothek Raum für zwei Arbeitsgruppen bot und ich die logistisch betreuen mußte, war ich im Wesentlichen dort fixiert. Interessant genug waren für mich die Widersprüche, die bei der Diskussion eines tschechisch-deutschen Wohnprojektes in Prag zutage kamen. Das Geld für Kauf und Umbau sollte aus deutschen Gruppen kommen, denen dafür anteilig ein Anrecht auf Aufenthalt im Tagungsteil des Hauses versprochen wurde. Die Tschechen sollten ihren Anteil in Arbeit leisten. Daß allerdings die Deutschen für 5- 6000 Mark einen lebenslangen Anteil erhielten, der zudem noch verzinst wird, stieß dann doch an die Grenze des Verständnisses der Tschechen. Zudem ist absehbar, daßdiein Aussicht genommene Einlage nur in den allerseltensten Fällen von politischen deutschen Gruppen geleistet werden kann, die derzeit bei steigenden Preisen und wegfallendem Staatssponsoring verzweifelt bemüht sind, ihre eigenen Projekte aufrechtzuerhalten. Es bleibt auch die Frage, ob eine – Kapitalvernetzung – wirklich die Grundlagefür eine gemeinsame Perspektive sein kann oder vielmehr die politischen Gruppen in die herrschende Ungerechtigkeit verstrickt.

Interessant war dann auch ein langer Abend über das Problem osteuropäischer Arbeitsmigrant- Innen. Wenn man das deutsche Problem in groben Umrissen kennt, wurde hier hier noch einmal gezeigt, daß es keine nationalen, sondern nur Probleme des internationalen Kapitalflusses und der ihm folgenden Menschenströme gibt. Neu waren beispielsweise die Berichte über die Situation ukrainischer Wanderarbeiter in Tschechien. Da es praktisch keine legale Möglichkeit zu legaler Anstellung gibt, sind die Ukrainer völlig von der Gnade der russischen Mafia abhängig, die für ihre Vermittlung 50% des ohnehin geringen Lohns kassiert. Die tschechische Regierung findet diese Verhältnisse bequem, weil sie sich je nach Konjunktur duldend oder repressivverhalten kann. Die rassistische Verachtung der Bevölkerung für die Billigarbeiter ist übrigens, wie versichert wurde, kaum geringer als in Deutschland. Eine anschließende Diskussion über Möglichkeiten zur Organisation von Arbeits- migrantlnnen in Deutschland stieß schnell an die Grenzen des Themas: Die Wanderarbeiter streben nicht nach Gleichberechtigung mit den einheimischen Arbeitern, sondern nehmen die schlechten Arbeitsbedingungen in Kauf, die für die Unternehmer diese Arbeit erst rentabel machen. In ihren Heimatländern ist auch ein Minimum des deutschen Lohns noch viel, wenn sie überhaupt einen Job bekommen. Die Diskussion von Perspektiven läßt sich angesichts des Elends und

der Atomisierung dieser Leute wahrscheinlich wirklich nur jenseits der gegenwärtigen Weltwirtschaftsordnung weiterführen. Ansätze bei dieser Arbeit hat die deutsche Wildcat-Gruppe geliefert. Berichte über die Arbeit beispielsweise des vietnamesischen Unterstützungsvereins “Reistrommel” hätten mich in diesem Zusammenhang interessiert. Aber das Thema war für einen Abend ohnehin zuviel und würde eine eigene Konferenz erfordern. Über den übrigen Verlauf des Kongresses kann ich, wie gesagt, wenig sagen. Ob man das Abschlußplenum am Sonntag, wie die “taz“ meint, als “wundervolles Babylon” empfunden hat, ist Geschmacksache. Boris Kanzleiter aus der Vorbereitungsgruppe sagte mir zur Einschätzung des Kongresses:

“Positivist, daß es gelungen ist, ein europäisches Treffen zu organisieren, bei dem nicht die Berliner oder die Deutschen dominant waren. Das Treffen wurde von den internationalen Gästen geprägt. Frankreich und Spanien waren mit jeweils 200 Gästen vertreten und sonst waren Leute aus fast allen europäischen Ländern dabei. Positiv war auch die Themenvielfalt in den Arbeitsgruppen und Diskussion. Sehr viele Arbeitsgruppen wollen weiter arbeiten, einige Treffen sind bereits verabredet. Es gibt Diskussionsbedarf. Die Stimmung war weder durch frustrierte Altlinke noch durch übertriebene Zapata-Eu- phorie geprägt. Schade ist, daß eine Diskussionsvernetzung zwischen den Arbeitsgruppen nicht zu

stande gekommen ist. Es gab eine große Themenvielfalt, aber eben deshalb die Gefahr des Ausfran- sens und der Beliebigkeit. Aber mehr zu erwarten war vielleicht auch zu viel für ein erstes Treffen. Es ist übrigens schon ziemlich sicher, daß es ein zweites Treffen geben wird, das in Paris oder Barcelona stattfinden kann.”

Vom 27. Juli bis 3. August wird in jedem Fall in Chiapas der Weltkongreß gegen den Neoliberalismus stattfinden. Entsprechend dem Ansatz gibt es keine Delegierungen von den Kongressen der Kontinente, sondern die Aufforderung an alle, die mitarbeiten wollen – und Mut hhaben, denn der Kongreß findet mitten in einem Bürgerkrieggebiet statt. Anmeldung mu ß bis zum 6. Juli, unter der Fax-Nummer 030 6926590 (Berliner Mexiko-Gruppe/ FDCL im Mehringhof) gemacht werden.

© telegraph. Vervielfältigung nur mit Genehmigung des telegraph