Radioaktivität kennt keine Grenzen

aus telegraph 6/1990
vom 30.03.1990

Anti-AKW-Demonstration bei Stendal

Nahe dem Dörfchen Dalchau/Kreis Stendal liegt die größte Baustelle der DDR:das KKW Stendal.Seit 1974 arbeiten hier etwa 10 000 Beschäf­tig­te. Bisher wurden zwei 150 m hohe Kühltürme errichtet,dabei soll Stendal einmal eine der größten Atomanlagen Europas werden: geplant

sind vier Reaktorblöcke,die jährlich insgesamt 4000 MW Strom produ­zieren sollen.32 Milliarden Mark sollen dafür aus dem Staatshaushalt der DDR fließen. Momentan ist allerdings unklar,ob die Sowjetunion in der Lage sein wird, die Reaktoranlagen zu liefern. Das und die Tat­sache,daß die Verantwortlichen dieses Landes offenbar bereit sind, an­gesichts der verheerenden Umweltbelastung durch die Braunkohlepro­duk­tion die „saubere“ Atomenergie als sorglose Alternative in großem Maßstab einzuführen,bereitet den westdeutschen Atomkonzernen den Boden für das Millionengeschäft: Preußen Elektra, KWU Siemens und die Bayern-Werke haben angeboten,die stagnierende Bautätigkeit mit ihren Lieferungen wiederzubeleben. Westliche Sicherheitstechnik für DDR-AKW soll den im eigenen Lande nicht mehr so recht zum Zuge kommenden Atommafiosis hier neue Märkte eröffnen.Die Aussicht, diese Ostexpan­sion der Kernenergiebetreiber zu verhindern, ist leider vorerst angesichts der einschläfernden Propaganda der Interessenten,die ihr gewissenlo­ses Unternehmen als wirtschaftliche und gar ökologische Alternative anbieten,nicht allzu groß.

Schon zu Beginn der Bauzeit gab es Hinweise,daß die Fundamente des Baus in dem völlig ungeeigneten Boden praktisch schwammen,es wurden Risse vorhergesagt (die inzwischen auch festgestellt worden sind).

Am 11.März hatten nun die Gegner des Baus erstmals vorort Gelegen­heit,ihren Protest öffentlich zu machen. Etwa 10 000 liefen in einem bunten Zug von Plakaten,Tranparenten und Luftballons, begleitet von einer Ramba-Samba-Band zur Baustelle. Die Demonstration war als Fortsetzung der gemeinsamen Proteste in Gorleben/BRD gedacht. Die deutliche Mehrheit der Teilnehmer kam aus Westberlin und der BRD.

Es fällt schwer,von einem beeindruckenden Auftakt der Anti-AKW‑ Bewegung in der DDR zu sprechen. Ob die Argumente der Gruppen,die oft schon jahrelang die Öffentlichkeit für die Gefahren der Kernenergie zu sensibilisieren versuchten, einen breiten Widerklang in der Bevölkerung finden werden, ist nicht abzusehen.

Einigkeit bestand bei den Rednern der Kundgebung vor dem Eingang der Baustelle in der konsequenten Ablehnung der Atomenergie und der Forderung nach der Nutzbarmachung regenerativer Energien sowie der Beschäftigten der AKW-Arbeiter in diesen Bereichen. Ein Pfarrer aus einer der umliegenden Gemeinden betonte auch gleich die Notwendigkeit der Abkehrung von den „gewaltausübenden“ Kräften. Ist die Spaltung der Bewegung, kaum im Entstehen begriffen, schon sichtbar? Die Bemerkung galt offenbar einigen jugendlichen Westdeutschen, die am Rande der Kundgebung auf das Dach eines am Eingang befindlichen Gebäudes geklettert waren und sich von dort aus anscheinend ein Wortgefecht mit Polizisten oder Beschäftigten lieferten. Wie jetzt behauptet wurde,ist daraus ein Dachschaden entstanden. Das ist für mich nicht ganz nachvollziehbar.An einigen Stellen wurde der offen­sichtlich symbolisch gemeinte Sicherheitszaun per Hand aufgebrochen. Als den Ein­dringlingen lediglich einige etwas nervöse Polizisten statt einer voll ausgerüsteten Hundertschaft entgegentraten, zogen diese -an ganz andere Umgangsformen gewöhnt – sich verblüfft zu­rück. Diejenigen, die sich nun die Kosten des kaputten Zauns belei­digt ausrechnen, seien damit getröstet,daß ein „anständiger“ Zaun ganz sicher das erste sein wird, womit KWU-Siemens die Baustelle ausrüsten wird. Unerträglich die Vorstellung,daß es innerhalb der Bewegung gerade in dieser bedroh­lichen Situation für unser Land zu Auseinan­dersetzungen an der Frage der Widerstandsformen kommen könnte. Gewaltlosigkeit ist einmal ein sehr dehnbarer Begriff (Blockaden und Sitzstreiks werden ja auch gern seitens der Mächtigen als Gewalt aufgefaßt und mit Staatsgewalt beendet). Zum anderen darf diese Widerstandsform kein Dogma sein, sch­on gar nicht,wenn es um Notwehr geht. Und gegen dieses Riesenexpe­riment mit dem Leben und der Gesundheit von Millionen anzugehen, kann sehr wohl als eine Maßnahme der Notwehr angesehen werden.

k.m.

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