Vorgestellt: Ermittlungsausschuß Westberlin

aus telegraph 6/1990
vom 30.03.1990

Wie im letzten Artikel zu sehen ist, können engagierte DDR-Bürger sehr schnell auch in die Hände der bundesdeutschen und Westberliner Polizei und Justiz geraten. Ganz davon abgesehen, daß derzeit die DDR-Polizei in intensivem Erfahrungsaustausch mit ihren westlichen Kollegen steht. Speziell bei Demonstrationen sind, nach Meinung der westlichen Polizeioberen, die Ost-Polzisten noch nicht in der Lage, größere Menschenansammlungen zu „bewältigen“. Das werden sie jetzt lernen. Damit werden auch friedliche Demonstranten in der DDR der westlichen Polizeitaktik ausgeliefert werden.

In Westberlin ist, als Gegenwehr gegen diese Art von Be- bzw. Überwältigung von Bürgern, 1980 aus der Hausbesetzerbewegung der Ermittlungsausschuß (EA) entstanden. Als Strukturbestandteil der im weitesten Sinne autonomen Szene bzw. außerparlamentarischen Linken machen die Mitglieder des EA Telefondienst während Demonstrationen und anderer polizeirelevanter Ereignisse, notieren Festnahmen, sammeln Zeugen- und Festnahmeprotokolle und Fotos, nehmen Kontakt zu Anwälten auf und decken, wenn die Spenden reichen, Prozeßkosten.

Vor Anlässen, bei denen Festnahmen zu befürchten sind, versuchen sie, unter anderem über Flugblätter, immer wieder auf das angemessene Verhalten bei Festnahmen hinzuweisen. Im Folgenden ein Handzettel des Ermittlungsausschusses:

Umgang mit der Polizei

Du bist zur Angabe folgender Personalien verpflichtet: Name, Geburts­datum und -ort, Adresse. Minderjährige (unter 18) brauchen nicht die Adresse der Eltern angeben, wenn sie dort nicht gemeldet sind. Sonst nichts! Mache außer diesen Angaben keine Aussagen – wenn Du wieder entlassen bist, hast Du einen klaren Kopf, Deine Aussagen zu überle­gen. Laß Dich auf keine Diskussionen ein, Du bist in einer für Dich ungewohnten Situation, für Deine Gegenüber (Polizei), ist das Routine! Aber: Laß nicht einfach alles mit Dir machen! Du hast folgende Rechte – bestehe darauf!

Du hast das Recht,

  1. den Grund deiner vorläufigen Festnahme zu erfahren;
  2. alle weitere Aussagen zu verweigern (sowohl gegenüber der Polizei, als auch dem/der Haftrichter/in und der/dem Staatsanwältin/Staatsan­walt); 3. nichts zu unterschreiben!
  3. ein/n Anwältin/Anwalt und nächste Angehörige anzurufen!

5.. gegen eine Erkennungsdienstliche Behandlung schriftlich Wider­spruch einzulegen (das einzige Papier, das Du ruhig unterschreiben darfst/kannst)

  1. Im Falle einer Verletzung eine/n -rztin/Arzt zu verlangen und Deine Verletzung attestieren zu lassen!
  2. auf ein schriftliches Protokoll der beschlagnahmten Sachen (Helme, Autowerkzeug etc.), das Du nicht nterschreiben solltest!!!! Wirst Du mit anderen zusammen verhaftet, tauscht Eure Personalien aus. Dann kann der/diejenige, der/die zuerst entlassen wird, beim EA Bescheid sagen; falls es zu Prozessen kommt, kann frau/mann sich gegenseitig Zeugen/-Zeuginnen benennen. Quatsch aber nicht über Ereignisse, die von irgendeiner Seite gegen Dich oder andere benutzt werden können! Manchmal sitzt der Spitzel neben Dir!

Merke Dir die Telefonnummer des Ermittlungsausschusses oder eine/r Bekannten, der/die auch erreichbar ist, um Deine Festnahme mitzutei­len.

Beachte Deine Umgebung: Kommt es neben Dir zu einer Festnahme, versuche den Namen des/der Festgenommenen zu erfahren und melde ihn beim Ermittlungsausschuß oder bei zentralen Stellen (z.B. Lautspre­cherwagen). Wirst Du selbst festgenommen, versuche Umstehenden Deinen Namen mitzuteilen. Du kannst auch einen Zettel mit Deinem Namen und Anschrift bei Dir tragen und weitergeben. Damit ein/e Anwalt/Anwältin für eine/n Festgenommenen aktiv werden kann (herausfinden, wo sich der/die Festgenommene befindet, auf schnelle Entlassung drängen, etc.) muß der/die Anwalt/Anwältin den Namen wissen!

Verhalten bei Festnahmen

Immer häufiger kommt es vor, daß Leute bei der Ausübung des Demon­strationsrechtes, bei Kundgebungen und Protestaktionen von der Polizei vorläufig festgenommen werden. Wir wollen hier einige Tips für diese Situation geben, die es Dir einfacher machen sollen, Dich im Fall einer vorläufigen Festnahme richtig zu verhalten.

Bedenke: Die Polizei kann jede/n bis zu 48 Stunden festhalten, d.h. Du verbringst unter Umständen bis zu 48 Stunden auf einem Polizeire­vier, danach kannst Du wieder nach Hause (Ausnahme: Du wirst dem/der Haftrichter/in vorgeführt – wenn nicht, mußt Du Deine Vorführung verlangen!)

Deshalb: Nimm überall hin ein paar Dinge mit, die Du für diesen Zeitraum brauchst (Personalausweis, Kleingeld zum telefonieren (2×23 Pfennig), Medikamente, die regelmäßig eingenommen werden müssen!) Laß Adressen und Telefonverzeichnisse, Fotos und alles zu Hause, was von der Polizei für weitere Informationssammlungen benutzt werden könnte! Lauf nicht mit Drogen in der Tasche herum! Freu Dich, wenn Du draußen bist, aber vergiß nicht:

  1. Dich beim EA oder bei dem/der Rechtsanwältin/-Rechtanwalt oder bei Deinen Freunden zurückzumelden!
  2. Gleich am nächsten Tag ein Gedächtnisprotokoll für Dich anzuferti­gen (dahinein sollte Ort und Zeit der Festnahme, was Du vorher gemacht hast; mit wem Du zusammen warst (ZeugInnen); wer Deine Festnahme gesehen hat; was auf dem Polizeirevier ablief, ob Dich ein Polizist beleidigt, beschimpft, bedroht oder geprügelt hat; bei Verletzungen, wie sie entstanden, sowie ob und wie sie behandelt wurden.
  3. Verletzungen noch einmal von dem/der Arzt/-rztin, zu dem Du Vertrauen hast, attestieren lassen!!

WICHTIG!

Bist Du Zeuge einer Festnahme geworden, melde dich unbedingt beim Ermittlungsausschuß, berichte, was Du gesehen hast (Umstände der Festnahme, Verhalten der festnehmenden Polizisten). Hast Du den Namen des/der Festgenommenen nicht erhalten können, merke Dir sein/ihr Aussehen, ihre/seine Kleidung. Fotos und Gedächtnisprotokolle bitte sofort beim EA vorbeibringen (wenn es nicht anders geht, ausnahmswei­se mal per Post), da für die Betroffenen viel davon abhängt (bekannt­lich ist die Erinnerung vieler Polizisten oft sehr einseitig und teilweise getrübt).

Alle Infos werden vom EA vertraulich behandelt!!!

Bist Du nach einer Festnahme wieder zu Hause, kann zweierlei passie­ren: Entweder Du hörst nie wieder etwas von der Polizei, oder es wird ein Ermittlungsverfahren gegen Dich eingeleitet (wegen Verstoß gegen irgendein Gesetz). Bis Du davon wieder etwas erfährst und zu einer polizeilichen Vernehmung vorgeladen wirst, kann eine lange Zeit vergehen. Deshalb schreib Deinen Bericht/Gedächtnisprotokoll auf jeden Fall sofort! Suche Zeuuginnen für Deinen Aufenthalt vor und während der Situation Deiner Festnahme innerhalb der nächsten Tage! Laß Deine Verletzungen von einer/einem -rztin/Arzt Deines Vertrau­ens! In einem Jahr einnert sich keine und keiner mehr genau.

Vor jeder polizeilichen oder staatsanwaltlichen Vernehmung melde Dich beim EA oder bei deiner/deinem Rechtsanwältin/Rechtsanwalt!

good luck, kids! Sonderkonto Klaus Schmidt, Postscheck 20610-106 BLZ 100 100 10

Ermittlungsausschuß im Mehrinhof, Gneisenaustr.2, 1000 Berlin 61, Tel: 692 22 22, Dienstag von 20-22 Uhr, bei Demos und einen Tag danach ab 18 Uhr erreichbar

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