„Das brauchen wir für uns!“

Die Einführung der Computertechnik in der Ostberliner Oppositionsszene

von Wolfgang Rüddenklau
aus telegraph 6/1996

Für den bekannten sowjetische Massenmörder Josef Wassirionnowitsch Stalin war die Kybernetik „eine bürgerlich-idealistische Pseudowissenschaft“. Das war einer der Gründe dafür, daß die RGW-Staaten in den siebziger und achtziger Jahren ein immer größeres Technologie- und Produktivitätsdefizit auf dem Weltmarkt hatten und zusehends in die Rolle der Rohstofflieferanten zurückfielen. Andererseits hatte der sowjetische Selbstherrscher wohl ganz richtig die Lehre der russischen Geschichte begriffen, daß mit westlicher Technologie unweigerlich auch westeuropäische Ideen eindringen und die Grundfesten des despotischen Systems gefährden würden. Auch die Tatsache, daß die DDR, seit dem Ende des 2. Weltkriegs der westlichste Vasallenstaat des russischen Imperiums, sich in den achtziger Jahren ernsthaft vorgenommen hatte, den Vorsprung des Westens auf dem Bereich der Mikroelektronik einzuholen, beschleunigte nur ihren Untergang. Einerseits übernahm sie sich mit den irrsinnigen Investitionssummen, die für eine solche technische Revolution notwendig waren, endgültig, andererseits beschleunigte die dadurch notwendige weitere Öffnung nach dem Westen die Zersetzung von Ideologie und Moral.

Der Staatssicherheitsdienst, zentraler Nachrichtendienst, Geheimpolizei und politische Polizei in einem, versuchte vergeblich der Auswirkungen des allgemeinen Einbruchs Herr zu werden. Wegen immer höherer Kreditverschuldung im Westen mußte man diesem gegenüber ein zivilisiertes Gesicht zeigen und konnte zur Disziplinierung der Untertanen nicht mehr zum probaten Mittel des Terrors greifen. Andererseits verstand auch Stalin nur teilweise das Kunststück, die notwenigen technischen Experten durch Terror einerseits zum politischen Wohlverhalten, andererseits zur Produktivität zu ermuntern. Und leider erwies sich eben gerade die wissenschaftliche Intelligenz, die man brauchte, oft zugleich als die Quelle der Unruhe, die man eigentlich dringend beseitigen mußte.

Ein beredtes Beispiel dafür war Dr. Thomas Klein, Jahrgang 1948, Ökonom und Kybernetiker, zugleich aber seit den siebziger Jahren Mitglied von Oppositionsgruppen, dafür eineinhalb Jahre in Bautzen und in den achtziger Jahren unverdrossen oppositioneller Theoretiker. Eine Arbeitsplatzbindung, die ihm die Staatssicherheit im Ostberliner Möbelwerk „Parat“ verschafft hatte, sollte eigentlich dazu dienen, ihn von der oppositionellen Arbeit abzuhalten. Dummerweise wurde Klein seit der Einführung von Bürocomputern in seinem Betrieb zur unentbehrlichsten Arbeitskraft. Gerade er hatte die Motivation, sich in diese unheimlichen Maschinen aus dem Westen hineinzudenken und schrieb für den Betrieb die Anwenderprogramme, die erst den Einsatz rentabel machten. (1), (2), (3) Die Staatssicherheit war bestens davon informiert, daß Klein und seinesgleichen anstrebten, einen Computerarbeitsplatz für die Opposition zu schaffen (4) und veranlaßte die SED-Bezirksleitung Berlin, zu beschließen, daß Klein nicht Koordinator für die PC des Betriebes werden dürfe (5). Aber Kleins Fähigkeiten wurden, wenn die Möbelwerke produktiv sein wollten, gebraucht und verschafften ihnen sogar noch horrende Einnahmen über den Weiterverkauf der Software. Im Betrieb kämpften die Kräfte, die Kleins Produktivität nutzen und ihm dazu entsprechende Entwicklungsmöglichkeiten verschaffen wollten mit den von der Staatssicherheit beauftragten Inoffiziellen Mitarbeitern (IM) und Gesellschaftlichen Mitarbeitern (GMS), die alles taten, um seine Freiräume einzuschränken. Das gipfelte dann in so dummen Witzen wie dem, daß die Personalabteilung des Betriebes im Auftrag der Stasi im Oktober 1988 dem gesuchten Computer- und Softwareexperten die Teilnahme an einem Computerkurs verbot. (6)

Ganz gegen die Absichten der wie Thomas Klein in den Traditionen der kommunistischen DDR-Opposition stehenden Kreise, die sich immer als Meister der Konspiration verstanden, sind wir durch die Spitzel und die Berichte des Staatssicherheitsdienstes praktisch über jedes Detail von deren Tätigkeit informiert. Zumal die Einführung von Computern in Oppositionskreisen bei der Stasi auch die irrationalen Ängste auslöste, die Paranoiker immer bei brachialer Veränderung der gewohnten Realität ergreift.

Thomas Klein war es, wie gesagt, der in die hinter dem Ostberliner Friedenskreis Friedrichsfelde stehenden mehr oder weniger konspirativen Zirkel den Gedanken hineintrug, die neue Technologie zur Optimierung von Analysetechnik, insbesondere aber der oppositionellen Druckmöglichkeiten zu nutzen. Sein politischer Dialogpartner und technischer Jünger war dabei Wolfgang Wolf, zugleich (was Thomas Klein damals nicht wissen konnte) der IM „Max“, ein Stasispitzel zwar, aber mit einem in dieser Art einmaligem idealistischen Ansatz (7). Wolf glaubte, er könne durch zweckentsprechende Berichte und auch theoretische Abhandlungen über seinen Führungsoffizier direkt die Staats- und Parteiführung der DDR erreichen und beeinflussen. Dementsprechend berichtete der IM „Max“ durchaus nicht über alles, was er durch seine Aktivität in der Opposition erfuhr, sondern jeweils besonders über Leute, die ihm nicht in den Kram paßten. Angesichts der hochkarätigen Informationen, die der IM „Max“ dennoch brachte und der anderen Inoffiziellen, die über das Verschwiegene ausführlich genug berichteten, ließ ihm sein Stasi-Führungsoffzier seinen Willen und seinen Irrtum. (4)

Zunächst nutzte Thomas Klein den Computer seines Betriebes auch zum Verfassen von theoretischen Arbeiten. Der IM „Andreas“ notierte im März 1987 aufgeregt den ersten Einsatz des Computers in der Oppositionsszene. Er habe von Reinhard Schult eine Stellungnahme zur Parteitagsinitiative der Intiative Frieden und Menschenrechte zum Lesen bekommen: „Es handelte sich dabei um ca. 11 Seiten A4 auf Computerpapier in Computerschrift!“ (8) Der IM „Jahn“ berichtet von einem betrieblichen Gespräch mit Klein über Computerprogramme im März 1987. Klein habe sich besonders für Textverarbeitungssoftware interessiert. Das Farbband des an seinem Computer angeschlossenen Druckers sei völlig abgenutzt gewesen, obwohl, wie der IM weiß, mit einem Band ca. 400 Blatt beschrieben werden können. Klein bewahre den Schlüssel für den Computerraum an seinem Schlüsselbund auf. Der IM schließt nicht aus, daß Klein den Drucker bereits außerhalb des Betriebes benutze, da er Bekannte erwähnte, die einen Rechner, aber keinen Drucker hätten. (9)

Alarmsignale löste bei der Stasi die Information aus, daß Klein im September 1987 von seinem Betrieb die Genehmigung erhalten habe, seinen Rechner nach 20 Uhr zu benutzen. „Angeblich“, notiert ein Major Rudolph, „soll Klein auf ihm sehr viel für den politischen Untergrund drucken.“ Während einer Redaktionssitzung des Infoblattes des Friedrichsfelder Friedenskreises, des „Friedrichsfelder Feuermelders“ am 28.10. wird, wie IMS „Jacky“ berichtet, verkündet, daß der „Feuermelder“ in Zukunft in Computersatz hergestellt werden soll. Damit könne die optische Qualität wesentlich verbessert werden. (10)

Von der HA XX/2 wurde Anfang November eine konspirative Durchsuchung von Kleins Arbeitsplatz vorgeschlagen, um durch Auffinden entsprechender Materialien die private Nutzung des Betriebscomputers durch Klein nachzuweisen. Weil sich die Genossen mit Hard- und Software nicht so gut auskannten, ist die Hinzuziehung von Computerspezialisten aus dem Stasi-Rechenzentrum geplant. (11) Offensichtlich aber kam der Fehlschlag der Verhaftungsaktion gegen die Leute der Ostberliner Umwelt-Bibliothek in der Nacht vom 24. zum 25. November 1987 dazwischen. Angesichts der internationalen Aufmerksamkeit für die Zionsaffäre mußten die Genossen vorerst aufsehenerregende Aktionen vermeiden. Als schwache Ersatzhandlung wurde schließlich Anfang Dezember der GMS „Dieter“ beauftragt, den Papierkorb Kleins auf Material zu überprüfen, das auf einen privaten Mißbrauch des Betriebsrechners schließen lasse. (23)

Aber inzwischen hatte die Stasi durch die List der Geschichte selbst dafür gesorgt, daß ein von Kleins Betrieb unabhängiger Computerarbeitsplatz entstand. „Mit dem Aufkommen der ersten Computer in der Szene“, erzählt der Führungsoffzier von Wolfgang Wolf, Hauptmann Kappis, „entstand auch beim IM „Max“ der Wunsch, einen Computer zu besitzen. Da seine Ehefrau aus rein physischen Gründen den Kauf in Berlin (West) und den Transport ablehnte … und der IM zu diesem Zeitpunkt noch keinerlei Kenntnisse im Umgang mit Computern hatte, bat er mich zu prüfen, ob unser Organ ihm beim Erwerb eines Computer behilflich sein könne. Ich trug dieses Anliegen meinem Vorgesetzten vor, da ich ebenfalls mit dem Sachgebiet Computer nicht vertraut bin.“ (13) Laut Treffbericht vom 15.4.87 mit dem IM „Max“ übergab dieser 1000 DM zur Beschaffung eines Computers an den Führungsoffizier. Der IM „Bersarin“ (22), der gewöhnlich für die Abteilung XX/4 einen schwunghaften Computerhandel betrieb, kaufte am 25.5.87 einen Kaypro 2 (einen Vorläufer der heutigen DOS-Rechner) und einen Robotron Matrix-Drucker. (4) Allerdings war dieser erste in Westberlin gekaufte Computer von „Max“ defekt und wurde deshalb im November 1987 durch den IM „Bersarin“ gegen einen Kaypro 4 umgetauscht. (4)
In Zukunft tauschten Wolfgang Wolf und Thomas Klein lebhaft Disketten mit eigenen Elaboraten und Schriften der Opposition aus. Ausgedruckt wurde in Kleins Betrieb und bei Wolfgang Wolf zu Hause. Der IM „Andreas“ berichtet, daß ein Papier „Jesus kommt von unten“, das während einer Feier des Friedrichsfelder Friedenskreises am Infostand verkauft wurde, auf dem Nadeldrucker von Wolfgang Wolf hergestellt wurde. Klein werte auf seinem Computer auf Arbeit eine Analyse aus, die offensichtlich vom Friedenskreis angefertigt wurde. (12) Bei einer Zusammenkunft der Anti-IWF-Gruppe beklagte sich Wolfgang Wolf, daß die Wachsmatrizen auf seinem Drucker nicht mehr richtig durchdrucken. (14)

Am Computer in seinem Betrieb in der Brunnenstraße begann Thomas Klein am 11.5.88 einen ersten konspirativen Computerkurs mit dem IM „Andreas“. Klein brachte dem IM am dortigen PC 1715 die ersten Bedienschritte und den Umgang mit dem Textprogramm TP („Textprozessor“) bei, einer DDR-Raubkopie des US-Programms Wordstar. Der IM berichtet seinem Führungsoffizier: „Als ich der Krone von den ungemeinen Vorzügen des Textprozessors, so lautet der Name des Programms, berichtete, war sie gleich Feuer und Flamme und sagte etwas wie: Das brauchen wir auch für unseren Feuermelder.“ (15)

Im Mai 1988 erschien dann auch richtig die erste von einem Computerdrucker auf Ormig-Matrizen ausgedruckte Ausgabe des „Friedrichsfelder Feuermelders“. In der Folge wurden alle weiteren Ausgaben, abgesehen von einer Sonderausgabe zur Tagung des IWF und der Weltbank in Westberlin im September 1988, auf dem Computer produziert.
Schon aus einer Information von Reinhard Schult im internsten Kreis wußte die Staatssicherheit, daß von 3000 Westmark, die (wie man erst heute weiß), aus den Kreisen Westberliner Autonomen gespendet wurden, ein Computer für den „Feuermelder“ gekauft werden solle, der zur Technik von Klein und Wolf passe. (16) Und die Hauptabteilung XX/2 erfährt auch sofort am 22.7.88, daß Reinhard Schult jetzt im Besitz von 2000 DM für den Kauf eines Computers sei. (17) Einen ausführlichen Bericht gibt es natürlich auch darüber, wie Schult Anfang August zusammen mit Martin Schramm im Intershop einen Schneider-Computer, einen Monitor und einen Nadeldrucker für 2600 DM kaufte. Schults ehemaliges Arbeitszimmer sollte zum Computerkabinett umfunktioniert werden, zu dem nur bestimmte Leute Zugang haben, unter anderem der IM „Andreas“. (18) In Zukunft wurde der „Feuermelder“ von Tina Krone und dem IM „Andreas“ (Mathias Heinrich) in diesem „Kabinett“ in den Computer getippt und dort ausgedruckt. Der „Feuermelder“ blieb bis zur Wende bei den schlecht lesbaren Ormig-Matrizen („Spirit-Umdruck-Verfahren“), weil bei Wachsmatrizen die Logistik schwierig war, jedenfalls unangebrachte Abhängigkeiten zum Westen schaffte und die Ormig-Matrizen beliebig oft auf dem Computerdrucker ausgedruckt werden konnten, so daß die Auflage des „Feuermelders“ bequem steigerbar war. (19)

Über eigene Computer verfügten in der Oppositionsszene Ende 1988, neben der Gruppe um Schult, Wolf und Klein, wie der IM „Andreas“ zu melden weiß, Professor Reich und Joachim Hürtgen. (24)

Seit ihrer ersten Nummer im Juli 1988 wurde auch die „Arche Nova“ des grün-ökologischen Netzwerks Arche auf einem Computer produziert. In diesem Fall wurde der Text von zwei Frauen in einem wissenschaftlichen Schreibbüro heimlich in ein Textverarbeitungsprogramm getippt und auf Wachsmatrizen ausgedruckt. (19)

Thomas Klein hatte indessen auf eine andere Technik gesetzt. Durch seinen Bruder hatte er von einer damals spektakulären Neuentwicklung, dem Amiga 500 der Firma Commodore Kenntnis erhalten und ließ sich – unwissentlich wieder über einen IM der Staatssicherheit – im Februar 1988 einen Amiga im Westen kaufen.(20) Der Amiga war völlig unabhängig von den DOS-Rechnern entwickelt worden und zeichnete sich dadurch aus, daß das Betriebssystem zum Teil schon in der Hardware vorhanden war, so daß mit dem Laden nur einer Diskette eine benutzerfreundliche grafische Oberfläche in der Art des heutigen Windows entstand. Überdies war auch die übrige Software relativ speichersparsam, so daß etwa das sehr komfortable Textverarbeitungsprogramm Wordperfect mit einer einzigen Diskette zu laden war. Der Amiga war relativ kostengünstig und als ein für das Kinderzimmer gebautes Gerät ziemlich robust, so daß er eher als die teuren und anfälligen DOS-Rechner den Bedürfnissen der DDR-Opposition angepaßt schien.

Diese Option wurde dann aber nur von der Umwelt-Bibliothek wahrgenommen. Dort war seit deren Gründung im September 1986 der damals ziemlich junge Martin Schramm, Jahrgang 1968, beteiligt. Schramm gehörte seit 1982 zur kleinen Ostberliner Computerszene und beschäftigte sich insbesondere seit 1987 mit dem Schreiben von Programmen für Windkraftmaschinen, mit dem nie verwirklichten Ziel, einen Betrieb für Alternativtechnik aufzubauen. Die Leute des Vorläuferkreises der Umwelt-Bibliothek hatte er während der Friedenswerkstatt 1986 kennengelernt, Thomas Klein wahrscheinlich bei dem von der Umwelt-Bibliothek 1986 veranstalteten Berliner Ökoseminar zu Atomkraft und Alternativer Energienutzung. (19)

Während wir über jeden Schritt beispielsweise von Martin Schramm in den Kreisen um den Friedrichsfelder Friedenskreis durch Staatssicherheitsunterlagen vollkommen informiert sind, und ich bisher die Fülle des aus Stasiunterlagen vorhandenen Materials im Interesse der Lesbarkeit stark zusammenfassen mußte, bin ich im Fall der Umwelt-Bibliothek in der merkwürdigen Verlegenheit, daß aus der entscheidenden Zeit seit Mai 1988 kein Material vorliegt und ich auf Erinnerungen der Beteiligten angewiesen bin. Demzufolge kann ich keine genauen Daten mehr angeben und auch die übrige Darstellung ist nur eine ungefähre Rekonstruktion aus dem Gedächtnis. Dieser Mangel an den sonst so reichlich zur Verfügung stehenden Quellen hat natürlich zum einen den Grund, daß die Ablagen der Umwelt-Bibliothek als noch in Bearbeitung stehende 1989 als erste vernichtet wurden. Aber in gleichartigen Fällen findet sich dennoch in anderen Operativen Vorgängen, IM-Unterlagen und Zentralen Materialablagen eine Menge von IM-Berichten, die eine fast vollständige Rekonstruktion solcher vernichteten Akten ermöglichen. „Leider“ haben wir versehentlich und ganz ohne solche Absicht im Mai 1988 den letzten Inoffiziellen Mitarbeiter aus dem Kreis geschmissen und seitdem ist es tatsächlich keinem dieser Leute mehr gelungen, vollständig unser Vertrauen zu erringen. Das ist ein besonderer Witz, wenn man bedenkt, daß uns aus Kreisen um Reinhard Schult und Thomas Klein immer der Vorwurf gemacht wurde, wir seien als Anarchisten zu chaotisch und nicht in der Lage, konspirativ zu arbeiten. Tatsächlich weiß die Staatssicherheit über die Computer- und Drucktechnik der Umwelt-Bibliothek seit Mitte 1988 immer nur etwa folgenden stereotypen Spruch zu berichten: „Mit den in den Räumen der „UB“ befindlichen Computer-Drucktechniken werden eine Vielzahl illegal in Umlauf befindlicher Schriften gefertigt.“ (21)

Den Erinnerungen der Teilnehmer zufolge erreichte uns etwa im Februar 1988 die Nachricht, daß ein Westberliner Rechtsanwalt über die Alternative Liste 2000 Westmark für die Umwelt-Bibliothek spenden wolle. Wir sollten in dieser Höhe einen Wunsch äußern. Martin Schramm begann uns zu agitieren, daß die Anschaffung eines Computers, und zwar eines Amiga das für die Weiterexistenz der Gruppe vordringlichste Projekt sei. Es gab in der Umwelt-Bibliothek eine Regelung, daß illegale Aktionen im Sinne des Kreises, aber von denjenigen zu entscheiden waren, die für die Abwicklung verantwortlich waren. Dementsprechend wurde zunächst nur ein kleiner Teil des Kreises in das Vorhaben eingeweiht und stimmte schließlich zu.
Wann der Computer in die DDR eingeschmuggelt wurde, ist mindestens zur Zeit nicht zu klären. Martin Schramm meint, daß er etwa ein viertel Jahr gebraucht habe, um sich einzuarbeiten und im August 1988 erschien die erste Ausgabe der „Umweltblätter“, die auf dem Computerdrucker ausgedruckt war. Im Unterschied zu anderen Blätter der DDR-Opposition hatten wir dank des optionsreichen Textverarbeitungsprogramms Wordperfect und des damals optimalsten Nadeldrucker NEC P6 eine wesentlich kleinere aber besser lesbare Schrift als die der DOS-Rechner und konnten den Text zudem noch in beliebig vielen Spalten drucken.
Die ersten Probleme mit der neuen Technik waren typischerweise nicht technische, sondern menschliche. Martin Schramm, der von allen Mitgliedern der Umwelt-Bibliothek allein das technische Know How hatte, hatte den Amiga mit nach Hause genommen und in seiner Wohnung aufgebaut. Weil er sich zu dieser Zeit in den verschiedensten Ansprüchen, die an ihn gestellt wurden (beispielsweise einem Computerkurs im Schult-Kreis), verzettelte, kam er nicht mehr zum Eintippen der „Umweltblätter“ und die nächste Ausgabe erschien erst im Oktober 1988. Davon abgesehen wurde Thomas Klein bei einer Festnahme am 28.10.88 nach seinem Computer befragt und schlug vor, neben seinem und Wolfgang Wolfs auch den Computer der Umwelt-Bibliothek in ein ihm zur Verfügung stehendes Versteck auszulagern.

Von den Leuten der Umwelt-Bibliothek wurde jedenfalls eine Auslagerung zum einen und die Verallgemeinerung der Computerkenntnisse zum anderen für notwendig angesehen. In einer konspirativen Wohnung in der Konrad-Wolf-Straße in Berlin-Marzahn wurde im November und Dezember 1988 für alle, die den Gebrauch der Maschine lernen wollten, ein konspirativer Computerkurs durchgeführt. An dem Kurs nahmen Wolfgang Wolf, Thomas Klein, Bodo Wolff, Tom Sello, Uta Ihlow ,ich selbst und anfangs auch Herbert Mißlitz teil. Martin Schramm wies ein. Im Unterschied zum ersten Computerkurs in der Szene, wo uns jeder Termin und jedes verdammte Detail bekannt ist, findet sich über die Konrad-Wolf-Straße nichts. Daß der IM „Max“, Wolfgang Wolf, nach all dem, was bisher sonst bekannt ist, der Stasi nichts über dieses Ereignis berichtet hat, scheint mit seinem persönlichen Interesse zusammengehangen zu haben.
Natürlich gab es zwischen den Leuten der Umwelt-Bibliothek einerseits und Thomas Klein und Wolfgang Wolf andererseits Meinungsverschiedenheiten über die zukünftige Unterbringung des Computers. Thomas Klein bestand weiterhin auf der Auslagerung in ein angeblich nur ihm bekanntes Versteck. Er und Wolfgang Wolf wollten in Zukunft das Abtippen und Layout nicht nur der „Umweltblätter“, sondern auch der anderen Ostberliner Untergrundblätter besorgen. Das ist auch aus heutiger Sicht lachhaft, denn die Staatssicherheit war von einem IM gut darüber informiert, daß Klein vorhatte, seinen Computer in die Wohnung Jutta Brabants auszulagern. (20) Demgegenüber wurde bei einer Sitzung der Umwelt-Bibliothek im engsten Kreis (im Keller bei laufender Heizungspumpe) beschlossen, den Computer in der Umwelt-Bibliothek unterzubringen. Für den Fall, daß Thomas Klein und Wolfgang Wolf über den Computer verfügen, wurde in Fällen von schwerwiegenden Meinungsverschiedenheiten Zensur oder Schlimmeres erwartet. Der beste Schutz für den Computer sei, stellten wir fest, die öffentliche Bekanntheit der Umwelt-Bibliothek und in der Tat ist es bis zur Wende zu keinem Versuch gekommen, die Umwelt-Bibliothek wieder zu stürmen.

Dennoch wurde nicht auf Sicherungsmaßnahmen verzichtet. Ein weiterer Kellerraum neben dem Druckraum sollte ausgebaut werden. Beide Räume waren nur durch eine Eichentür zugänglich, die mit einem westlichen Safeschloß ausgerüstet wurde. Die Fenster waren bis auf einen kleinen Lüftungsschacht, der mit einem Ventilator versehen war, zugemauert. Die Temperatur und Luftfeuchtigkeit wurde, für die Umwelt-Bibliothek blamabel, aber den konspirativen Bedingungen geschuldet, mit einem Ölradiator geregelt. Nur diejenigen Mitglieder des Kreises, die direkt mit Redaktion und Druck der „Umweltblätter“ zu tun hatten, hatten Zugang zu Druck- und Computerraum. Der Amiga zog wahrscheinlich Ende Dezember 1988 oder im Januar 1989 in den neu ausgebauten Raum ein. Die erste in der Umwelt-Bibliothek auf dem Computer produzierte Ausgabe der „Umweltblätter“ ist die von Ende Januar oder Anfang Februar.

Jetzt erwies sich, daß wir mit dem Commodore-Computer eine für unsere Verhältnisse ausgezeichnete Wahl getroffen hatten. Welcher andere Computer hätte in einem feuchten Keller unter ständigen von den Maschinen aufgewirbelten Schwermetallstäuben überlebt? Die Software war billig und zudem noch deshalb einfach zu beschaffen, weil in den mit Thomas Klein in Verbindung stehenden DDR-Programmiererkreisen ein großer Fundus an gecrackter Software zur Verfügung stand. So erwies es sich, als wir feststellten, daß unser Druckertreiber nur neun der 24 Nadeln des Druckers ansteuerte, als unproblematisch, einen neuen Treiber zu beschaffen. 1989 gelang es ein einziges Mal einem Inoffiziellen Mitarbeiter (IMB „Sebastian“, Kostja Münz, der heute allen Infos an die jüdische Gemeinde zum Trotz das jüdische Kulturzentrum in Berlin leitet) in unsere geheimsten Räume einzudringen, indem er sich Martin Schramms Vertrauen verschaffte. Den Lama-Virus, der daraufhin unwiderbringliche Archivdisketten zerstörte, konnten wir schnell mit Hilfe eines über unsere Westberliner Unterstützergruppe beschafften Virusprogramms beseitigen.

Computer- und Druckraum der Umwelt-Bibliothek blieben, von der besagten Ausnahme abgesehen das, was sie sein sollten, die geheimsten Orte der DDR und das trotz ungebremster Öffentlichkeitsarbeit in unserer Galerie und Bibliothek, die nur wenige Meter entfernt lagen. Auf unserem Computer und in unserer Druckerei wurde bis Ende Oktober 1989 fast alles gedruckt, was in der DDR an Broschüren, Zeitschriften und Flugblättern unterwegs war, von der Agitation gegen den Wahlbetrug über die Zeitschrift der Arche bis zu Parteiprogrammen der neugegründeten SDP. Für Arbeiten, die unserem politischen Anliegen nicht direkt nahe lagen, verlangten wir eine mäßige Aufwandsentschädigung, so daß wir Leute für die immer steigende Arbeitslast freistellen konnten, die sonst mit dem Gelderwerb bei irgendwelchen Jobs beschäftigt gewesen wären.

Das eigentliche Problem lag nicht in diesen technischen Diversa, sondern in einem schon 1988 gefaßten Arbeitsteilungsbeschluß, nach dem angesichts der wachsenden Arbeitslast und der zunehmend professionellen Ansprüche an die Arbeit die Umwelt-Bibliothek in Galerie, Bibliothek und Redaktion/Druckerei geteilt wurde. Wenn zuvor über die Diskussion der Artikel der „Umweltblätter“ im Gesamtkreis eine ständige Grundsatzdiskussion möglich war, trieb der Großteil der Gruppe seitdem ohne eigene Orientierung in den Gezeiten der politischen Stimmungen und fiel nach dem Ende der Hochstimmungen der Wende sehr schnell auseinander. Sinnvoll wäre es gewesen, dem realen Auseinanderfallen der Arbeitsgebiete mit eigenständigen Plenas in den jeweiligen Gruppen zu antworten. So aber fühlten sich beispielsweise zwei unserer Drucker sonst eher zur Kirche von Unten als zur Umwelt-Bibliothek gehörig und sahen nicht recht, was sie in einem Gesamtplenum zu suchen hatten, vor dem ohnehin fast alles, was in Druckerei und Computerraum gemacht wurde, nicht offen diskutiert werden konnte oder irrelevant war.

Interessant mag noch die Anmerkung sein, daß auch Wolfgang Wolf, der IM „Max“ sich einen Amiga 500 zulegte. Die ZAIG der Staatssicherheit bemerkt in einer Auswertung: „Ein weiterer Computer (Amiga 500 und NEC-Drucker P5) wurde vom IMB „Mutter“ (nämlich Wolfgang Wolfs Frau) in Westberlin gekauft und deren Teile per Post in die DDR geschickt bzw. persönlich mitgebracht. Mit diesem Computer soll es möglich sein, bzw. ermöglicht werden, mit dem von der „Alternativen Liste“ Westberlin an die Szene gelieferten Computer zu kommunizieren.“ Die ZAIG klagt: „In den IM-Unterlagen sind zur Beschaffung der Computer und vor allem zu deren Nutzung durch feindlich-negative Kräfte des politischen Untergrundes keine Dokumentationen vorhanden. Dazu erforderliche Abstimmungen mit der HA XX und notwendige gemeinsam durchzuführende Überprüfungsmaßnahmen wurden nicht realisiert. Trotzdem wurde der IMB durch Hauptmann Kappis beauftragt, den sogenannten „Zentralcomputer“ der feindlich-negativen Kräfte des politischen Untergrundes zu finden, um dort die gespeicherten Erkenntnisse zu löschen.“(4)

Der Schneider-Computer des Schult-Kreises wurde nach der Wende der im Januar 1990 gegründeten Zeitschrift des Neuen Forums, „Die Andere“ zur Verfügung gestellt, wurde dort allerdings wegen fehlender Festplatte bald nicht mehr verwendet. Wir in der Umwelt-Bibliothek kauften uns sehr bald für den Amiga 500 eine Festplatte nach. Aber der unter DDR-Bedingungen so bewährte Amiga genügte, auch als wir über Spenden ein Nachfolgemodell, den Amiga 2000 bekamen, nicht mehr den steigenden Bedürfnissen an Layout und Druckbild. Durch unsere Erfolgsstrecke verwöhnt, klammerten wir uns drei weitere Jahre an die Hoffnung, über eine Mac-Emulation das Gerät an unsere Bedürfnisse anzupassen. In diesem Zusammenhang haben wir 6-7000 Mark fehlinvestiert, beispielsweise in einen Amiga 4000, der jetzt immer noch eine finstere Ecke unseres Redaktionsraumes ziert und nach der Pleite der Firma Commodore und auch der Aufgabe der Produktlinie durch den Nachfolger ESCOM praktisch unverkäuflich ist.

Seit 1993 haben wir endgültig zu IBM-kompatiblen Computern gewechselt und fluchen permanent über hohe Empfindlichkeit, über die steigende Speicheraufwendigkeit der Software und den permannten Servicebedarf. Letzteres Problem würde normalerweise Unsummen kosten, wird von uns aber mit hohem Zeitaufwand und der Hilfe politisch befreundeter Experten geregelt. So können wir auch seit Mai den „telegraph“ über Telefonleitung an unsere Druckerei in Münster schicken und dementsprechend noch kurzfristige Änderungen realisieren. Und nachdem es schon jetzt eine Internetseite gibt –

„http://ourworld.compuserve.com/homepages/samisdat/teleinfo.htm“, auf der zumindestens ein Inhaltsverzeichnis des „telegraph“ und ein ausgewählter Artikel zur Verfügung stehen, werden wir demnächst eine eigene Homepage haben und dort wird jeweilig aktuellen „telegraph“ umsonst abrufbar sein. Solange die Internetprovider jeweils 1 Megabyte kostenlos einräumen und unsere Arbeitskraft zur Verfügung steht, gibt es für eine solche Netzausgabe, im Unterschied zu der auf Papier, praktisch keine Produktionskosten.
Zu Maschinen sollte man ein unsentimentales Verhältnis haben. Es sind Werkzeuge mit Vorzügen, Nachteilen und unbeabsichtigten Nebenwirkungen. Aber wenn ich jemals eine Maschine liebgewonnen habe, so ist das die „Freundin“, der Amiga 500. Aber das hat wahrscheinlich mehr mit dem zu tun, was man in den letzten Jahren der DDR trotz ihrer beknackten Obrigkeit und der nicht minder fehlgeleiteten Bevölkerung als Oppositioneller an Möglichkeiten entwickeln konnte. Immerhin wird unser Amiga 500 demnächst im Museum zu sehen sein, in der DDR-Ausstellung der Antistalinistischen Aktion – wenigstens solange die die Miete für ihre Räume weiter zahlen kann.

(1) Matthias Domasck-Archiv (MDA); OV „Korn“, HA XX/2, Bd. VII, S. 86-88, unzusammenhängender Bericht eines GMS, nur teilweise erhalten
(2) MDA; OV „Korn“, HA XX/2, Treffbericht vom 6.3.87 mit dem IM „Forster“
(3) MDA; OV „Korn“, HA XX/2, Vermerk vom 21.10.87 über ein Gespräch des GMS „Dieter“ mit dem Genossen Keil
(4) MDA; Anhang zum Kontrollbericht der ZAIG, Bereich 2, BV Berlin Abteilung XX, Operativ zu beachtenden Hinweise zu einzelnen IM der ABT. XX, BV Berlin, S. 4 f., 1.2. Beschaffung und Nutzung von Computern. Dies ist eine Untersuchung aus dem Jahre 1988 über die Machenschaften der Abteilung XX/4 der Bezirksverwaltung Berlin, die aus dem Ruder gelaufen war, unter anderem einen lebhaften Ost-West-Handel mit Computern führte und deshalb umstrukturiert wurde. Wertvoll ist dieser Bericht wegen seines zusammenfassenden Charakters und in diesem speziellen Fall, weil mir nur ein kleiner Teil der IM-Akte des „Max“ direkt zugänglich war und hier ein Exzerpt aus der IM-Akte vorliegt.
(5) MDA; OV „Korn“, HA XX/2, Information der XX/2 vom 16. März 1987
(6) MDA; OV „Korn“, HA XX/2, Treffbericht vom 26. Okober 1988 mit dem GMS „Förster“
(7) Siehe auch „telegraph“ 1/2/19, S. 66 ff., Ein Leninscher Parteisoldat – Leben und Werk des Stasi-Spitzels Wolfgang Wolf
(8) MDA; OV „Korn“, HA XX/2, Treffbericht vom 25.3.87 mit dem IM „Andreas“
(9) OV „Korn“, HA XX/2, Treffbericht vom 31.3.87 mit dem IM „Jahn“
10) MDA; OV „Korn“, HA XX/2, Vermerk über eine Absprache zum OV „Korn“ zwischen HA XX/2 und Abteilung XX/4 der BV Berlin
11) MDA; OV „Korn“, HA XX/2, Notiz vom 1.10.1987 eines Major Rudolph
(10) MDA; OV „Korn“, HA XX/2, Treffbericht vom 5. November 1987 mit dem IMS „Jacky“
(11) MDA; OV „Korn“, HA XX/2, Vorschlag für eine konspirative Durchsuchung vom 10.11.87
(12) MDA; OV „Korn“, HA XX/2, Treffbericht vom 2.10.87 mit dem IM „Andreas“
(13) MDA; In einer Zusammenfassung der Zersetzungstätigkeit der
Abteilung XX/4 der Bezirksverwaltung der Staatssicherheit Berlin seit Anfang der achtziger Jahre aus dem Jahre 1989, die uns nur fragmentarisch und ohne Anfang und Schluß überliefert ist. Offensichtlich berichten Mitarbeiter der Abteilung aus dem Gedächtnis, in diesem Fall wohl der Führungsoffizier des IMB „Max“, Hauptmann Kappis.
(14) MDA; OV „Korn“, HA XX/2, Information der KD Friedrichshain vom 21. April 1988
(16) MDA; OV „Korn“, HA XX/2, Treffbericht vom 14. April 1988 mit dem IM „Andreas“
(17) MDA; OV „Pazifist“, BV Berlin, Abt XX/4, Information der HA XX/2 vom 22.7.88
(18) MDA; OV „Pazifist“, BV Berlin, Abt XX/4, Treffbericht vom 8. August 1988 mit dem IM „Andreas“
(19) Mündliche Information von Zeitzeugen aus aktueller Sicht: Reinhard Schult, Carlo Jordan, Bodo Wolff, Fritz Kühn, Silvia Müller, Tom Sello, Martin Schramm sowie meine eigenen Erinnerungen. Der zweite Teil des Aufsatzes stammt, wie hinreichend gekennzeichnet, vollständig aus Berichten von Zeitzeugen
(20) OV „Korn“, HA XX/2, Operativinformation der Kreisdienststelle Weißensee vom 24. Februar 1988
(21) ZMA 10049, Anlage zur Information Nr. 66/69
(22) Der Klarname des IM „Bersarin“ ist Horst Willenberg
(23) MDA; OV „Korn“, HA XX/2, Vermerk vom 7.12.87 über ein Gespräch mit dem GMS „Dieter“
(24) OV „Korn“, HA XX/2, 4. Januar 1989, Abschrift eines Treffberichtes mit dem IM „Andreas“

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