von Wolfgang Rüddenklau
aus telegraph 6/1996
Dem Kampf gegen die DDR-Nostalgie hat sich die letzte Nummer der historischen Zeitschrift des Bürgerkomitees „Horch und Guck“ gewidmet. Und mal abgesehen von dieser oder jener recht willkürlichen Recherche (z.B. Uwe Bastian „PDS und Ex-Stasi“) sind die Artikel wichtig und ernst zu nehmen. Beispielsweise eine ebenso evidente wie erschreckende Untersuchung über die Fremdenfeindlichkeit der DDR-Bürger von Freya Klier. Im Mittelpunkt des Blattes ein brilliant durchdachter Artikel des Mitglieds des Unabhängigen Historikerverbandes, Stefan Wolle, über die „Sehnsucht nach der Diktatur“. Wolle knüpft an die Dostojewskische Legende vom Großinquisitor an. Dieser nämlich hatte im spanischen Sevilla des 16. Jahrhunderts den widererstandenen Christus verhaftet und machte ihm allerlei Vorhaltungen. Jesus nämlich hätte den Menschen die Qual der Freiheit gegeben. Aber die Kirche liebte die Menschen und habe sie von diesem Übel befreit und sich ihnen als Vormund vorangestellt. Diese vom Großinquisitor gepriesene Diktatur aus Liebe, meint Wolle, sei durchaus grundlegend für unsere Erfahrungen mit den Diktaturen des 20. Jahrhunderts. Und auch die DDR-Führung bevormundete ihr Volk stets aus Liebe und war rasch eifersüchtig, wenn diese Liebe nicht erwidert wurde.
Das Glück dieser verordneten Unmündigkeit nun sei es, schlußfolgert Wolle durchaus sehr einleuchtend , nach dem sich die ehemaligen Untertanen heute zurücksehnten. Und er führt beredte Beispiele an, Phänomene, die auch von den Wissenden selten erklärt werden, weil sie einfach zu banal sind, die Ostschrippenlüge beispielsweise. Dieser Artikel, heutzutage ein Mythos ehrlicherer Zeiten, wurde damals von Privatbäckern aus schlechtem Mehl und überlagerter Hefe in uralten Backöfen aus Gründen der Planauflagen zubereitet. Diese Schrippen waren in der Tat billig, bei wirklichen Meistern der Bäckerkunst manchmal sogar gut, mußten aber in langen Warteschlangen erstanden werden und waren spätestens gegen 9 Uhr morgens ausverkauft. Fast bis zum Ladenschluß gab es die industriell gefertigte Konsumschrippe zum gleichen Preis, alt, pappig, zäh wie Fliegenleim und oftmals unverkennbar durch Zusatz von Wasser aufgefrischt. Ebenso mythisch verklärt wird nachträglich das Verhältnis des Volkes zur Führung, das aber eben, wie Wolle meint, die „Vertraulichkeit von Domestiken“ war, die sich gelegentlich im privaten Kreis auch mal erlaubten, in der Bettwäsche der Herrschaft herumzuschnüffeln. Der ständige Mangel an Konsumgütern machte die Verwalter der Waren zur tatsächlich herrschenden Schicht der DDR, die von den Kunden die Befolgung der skurrilsten Rituale verlangte. Und Handwerker waren in den meisten Fällen nur gegen Devisen und Servilität unterster Güte zu bekommen. Nichtsdestoweniger aber war, weil eben alles von der Wiege bis zur Bahre verordnet und vorgeplant war, das Leben, wenn man sich auf die Umstände einrichtete, ruhiger und liebevoller, ließ zu Kunst und Philosophie Zeit. Und weil die Obrigkeit wie so mancher Vater ihre widerspenstigen Kinder am meisten liebt, wurden auch die Oppositionellen mit viel Ernst und Aufmerksamkeit bedacht. Aus der Unfreiheit resultierte, meint Wolle, Dostojewski folgend, tatsächlich eine Art Geborgenheit. „Die sozialistische Schattenwirtschaft war ihrem ökonomischen Wesen nach eine vormoderne Tauschgesellschaft und führte zwangsläufig zu einer Wiederbelebung von Elementen der Gentilordnung.“
So weit, so richtig. Tatsächlich neige auch ich in der Erinnerung immer ein wenig zum Vergessen der tristen Zustände dieses perversen Traumreiches DDR und in wirklich fast allen Punkten teile ich den Haß von Stefan Wolle auf die ewige vormundschaftliche Einöde der größten DDR der Welt. Erst die letzten Jahre in der Opposition, als wir, im Unterschied zu vielen anderen unserer ein- oder ausgesperrten Vorgänger, Erfolg auf Erfolg gegen diese Operettenobrigkeit verbuchen konnten, waren erfrischend und diesen Geschmack am Sieg über einen bis an die Zähne bewaffneten und dennoch ohnmächtigen Gegner will ich nicht leugnen. Daß ich „ein eingeschworener Feind unserer Gesellschaft“ und nichtsdestoweniger „schwer einzusperren“ bin, habe ich schriftlich von Oberstleutnant Zeiseweis und habe mir diese zusammenfassende Beurteilung aus meinen Stasiakten kopiert und an die Wand gehängt und bin ein wenig stolz darauf. Revolutionszeiten (und es war eine Revolution) sind eben gute Zeiten und mit Recht erzählt man noch Jahrzehnte davon.
Aber bezeichnend erscheint mir doch, daß Wolles scharfer Blick für die Tristesse der Verhältnisse aufhört, sobald die Rede auf die Gegenwart kommt. Im Westen gibt es eben jeden Tag etwas Neues, alles ist unsicher, ständig auf der Wage. Das, scheint Wolle zu meinen, denn direkte Ausführungen macht er nicht, sei eben der Preis der Freiheit. Und ich will ihm, obwohl das eine stupide Formel ist, da zunächst nicht mal widersprechen. Es macht eben einen Unterschied, ob man hündischen Blickes vor dem „Sie werden plaziert“-Schild in der Gaststätte auf eine herablassende Aufmerksamkeit des Kellners wartet, oder ob man sich zwischen einer Reihe von Gaststätten entscheiden kann und die schließlich gewählte dann selbstverständlich betritt, um freundlich bedient zu werden. Die Zwänge werden sozusagen im Vorfeld und im Hintergrund geregelt – das ist taktvoll und läßt Raum für einen im Westen eingeübten Selbstbetrug. Ich werde mir aber natürlich nach dem Maßstab meiner gesellschaftlichen Bewertung überlegen müssen, ob ich mir diese oder jene Kneipe oder Speise leisten kann und der Kellner bedient mich freundlich, weil ich für ihn ein Barvermögen verkörpere, das ihm die weitere Anstellung ermöglicht. Gegenüber einem Stadtstreicher in entsprechender Kleidung läßt diese Freundlichkeit deutlich nach. In der neuen Gesellschaft werde ich natürlich nicht als Mensch geachtet, sondern nach dem Maßstab meiner Geldbörse. Fast alles regelt sich im neuen Deutschland nach dem Gesetz von Angebot und Nachfrage und da auch Wolle demnächst aus dem Rahmen des Wissenschaftler-Integrationsprogramms herausfällt (siehe den Artikel über die Opferverbände im letzten „telegraph“) wäre es schon sehr masochistisch, wenn er diesem Prinzip aus vollen Herzen zustimmen würde. Aber nicht verzweifeln: Diesem Gesetz von Angebot und Nachfrage unterliegen natürlich nicht gewisse Großaufträge an gewisse große Firmen von Seiten der Regierung. Keine der großen Parteien hat bisher das Energiemonopol in Frage gestellt, zumindestens CDU und CSU verstehen sich immer noch als Sachwalter der Atomindustrie, die nur rentabel ist, weil der Allgemeinheit die Kosten der Entwicklung und der Entsorgung aufgebürdet werden. Die deutsche Schwertindustrie wird erst zusammen mit der Bundesrepublik Deutschland ihren Bankrott anmelden müssen. Deshalb auch der Transrapid und andere Investruinen, die die von allen gewählten Besten für uns auf der Pfanne haben.
Natürlich gibt es mehr Rechtssicherheit in der Bundesrepublik Deutschland als in der DDR, wenn die auch durch ständige Verschärfung der Sicherheitsgesetze in Frage gestellt wird. Natürlich gibt es mehr Mitbestimmungsmöglichkeiten, wenn die auch im Filz der herrschenden Parteien absorbiert werden. Naürlich gibt es einen Fortschritt an Meinungsfreiheit, wenn die auch durch die Konzentration der Medien in immer weniger Händen und durch die gar nicht freiheitliche Äther- und Telekommunikations-Gesetzgebung eingeschränkt wird. Aber die Macht in diesem Land liegt doch nicht in den Händen der Einzelnen, sondern in der von ganz wenigen Wirtschaftsbossen, die sich diese Freiheitsspielräume für die Mitbürger leisten, solange sie sich das noch leisten können. Und angesichts dieser wenig befriedigenden Verhältnisse kann ich doch die Sehnsucht von vielen Mitbürgern nach einer anderen Art von Gesellschaft verstehen, in der nicht ständig diese Hast und Unsicherheit herrscht, die letztendlich nichts anderes bringt als Magengeschwüre. Natürlich hat das verklärte DDR-Bild sehr viel mit der Verdrängung der damaligen Unmündigkeit zu tun, es kann aber auch als Traum von einer Gesellschaft mit Freiheit und Menschenwürde verstanden werden, die es in der Bundesrepublik Deutschland nicht gibt. Emanzipationsbewegungen – und das waren wir doch – haben stets versucht, die Träume der Völker in Gedanken und Modelle umzusetzen. Warum versuchen wir das nicht erneut, statt zu erklären, daß diese Träume Hirngespinste sind?
Das Motiv von Freya Klier in ihren durchaus einleuchtenden Ausführungen über die Fremdenfeindlichkeit scheint mir eben nicht nur Wahrheitsliebe, sondern auch Haß auf Verhältnisse zu sein, unter denen sie ganz persönlich, als Oppositionelle, im Januar 1988 versagt hat, als sie in den Westen ging. Und ein in der gleichen Nummer erschienener Aufsatz über die Anbiederung von DDR-Kirchenfürsten an den Staat vergißt den ganz wichtigen Punkt, daß eine Anzahl evangelischer Pfarrer den Begriff „Kirche im Sozialismus“ emanzipatorisch verstanden haben und froh waren, daß diese Kirche in der DDR nur eine einzige Machtmöglichkeit hatte, die der besseren Moral. Man kann sich natürlich seitenlang über den Byzantinismus auslassen, mit dem evangelische Bischöfe wie Mitzenheim vor Walter Ulbricht krochen. Es wäre aber nicht unwichtig, den Folgerungen, die Moritz Mitzenheim aus der Zwei-Reiche-Lehre gezogen hat einen ebenfalls bekennenden Lutheraner, den Braunsdorfer Pfarrer Walter Schilling, gegenüber zu stellen. Bei Schilling wird die lutherische Theologie – und das mitten in der DDR – plötzlich zum Ausgangspunkt einer Lehre von Selbstbestimmung und aufrechtem Gang. So etwas war eben gar nicht so selten und ein aufrechter Ex-Bischof wie Gottfried Forck nimmt noch heute an den Kämpfen der Freien Heide gegen die Bundeswehr teil. Diese authentischen DDR-Traditionen einer fast anarchistischen Interpretation des Evangeliums werden natürlich in einer gesamtdeutschen evangelischen Kirche, die wieder Herrschaftskirche geworden ist, nur noch schwer fortzusetzen sein.
Nein, ich kann diesen logischen Kobolz nicht mitvollziehen, der mir permanent in den Kreisen von Bürgerkomitees und Opferverbänden begegnet: Aus der Tatsache, daß man die verflossenen Verhältnisse in der DDR schlimm findet, zu folgern, man lebe jetzt in der besten aller Welten und die Zwänge, denen man auch in der neuen Gesellschaft begegnet, seien eben natürliche. Von Seiten von Leuten, die in der DDR mit Anstand mehr oder weniger harte Repressionen, Gefängnis und Ausweisung bewältigt haben, erlebt man plötzlich eine Unterwürfigkeit unter die herrschenden Gewalten, die sie früher mit Entrüstung von sich gewiesen hätten. Werden sie alt und bequem oder sind sie letztendlich auch von der Botschaft des Großinqisitors überwunden worden? Bei Wolle und seinen Freunden scheint das eingetreten zu sein, was in Orwells „1984“ so ausgedrückt wird: „Er hatte den Sieg über sich selbst errungen. Er liebte den großen Bruder.“
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