Mediales

Neues aus der Bücherwelt – oder: Mythen in Tüten.

von Knobi
aus telegraph 6/1996

Berlin im Taumel von Großereignissen: Das erste öffentliche Rekruten-Gelöbnis gerade hinter uns – hoffentlich war es auch das letzte – kommt schon der Papst angerollt (auch der letzte?) mit Gegendemo und allerorts setzten sich Fußballfans vor Videogroßbildleinwände und schwenken Fähnchen. Aber zum Glück gibt es ja auch erfreuliche Dinge, wie z.B. die Fühjahrsneuerscheinungen auf dem Buchmarkt. Und da Urlaub ansteht und Tage und Nächte voller Wärme und Erlebnisdrang sollte eine gute Lektüre nicht fehlen.

Zunächst gibt es einige interessante Zeitschriften: Die Aktion – Zeitschrift für Politik, Literatur, Kunst Heft 152/156 (Ed. Nautilus Hamburg / 98 S. / 12,–DM) wartet als Schwerpunkt mit einem André Breton Dossier auf und einem längeren Artikel von Maximilien Rubel: Marx als Theoretiker des Anarchismus. (Zu diesem Thema möchte ich mich eigentlich nicht mehr äußern. In der Zeitschrift „Utopie kreativ“ Heft 63 / Jan. 1996 plädiert sogar Lothar Bisky für einen „libertären Sozialismus“. Unsere Definitions-Nöte werden immer größer – bitte sprechen sie deutlich!). Dieses Problem der Definition scheint auch der Begriff Neo-Liberalismus für die neuen kapitalistischen Strategien zu unterliegen. Der Kapitalismus war und wird nie liberal sein. Trotzdem nimmt sich dieses Thema Die Beute 2/96 (Ed- ID-Archiv / 141 S. / 16,–DM) vor, neben einer 23seitigen Auseinandersetzung mit (West)Fernsehkommissaren – Derrick: „Harry reichst du mir mal die Kaffeetasse…“ Harry: „Die Kaffeetasse?“ Tja, schließlich heißt die Zeitschrift in ihrem Untertitel: Politik und Verbrechen. Außerdem wartet der neue Schwarze Faden 2/96 (Trotzdem Verlag Grafenau / 66 S. / 8,–DM) mit einem Chomsky-Interview auf, einen Artikel zur Männerdiskussion und über die spanische Anarchogewerkschaft CNT aus der Zeit des Spanischen Bürgerkrieges, u.v.m.

Mythen des Spanischen Bürgerkriegs (Hrsg. Th. Kleinspehn und G. Mergner) ist auch der Titel eines Buches aus dem Trotzdem Verlag (168 S. / 26,–DM), der jetzt zum 60. Jahrestag in zweiter Auflage erschien. Nichts ist gefährlicher, als geschichtliche Ereignisse blind zu glorifizieren. Namhafte AutorInnen wie Rudolf de Jong, Patrick von zur Mühlen, Michael Rohrwasser, Wolfgang Haug, Friederike Kamann, Karin Buselmeier u.a. versuchen hier den Mythos zu knacken.

Ein Mythos ist auch das Mittelalter. Geschichte ist nicht spannend und vor allem sind die Menschen unfähig aus der Geschichte zu lernen. „Die Arschlöcher, die im zehnten Jahrhundert ein kroatisches Reich aufbauten, waren nicht besser als heute Tudjman, der sich auf sie beruft. Genauso war´s mit Otto, Kohl und ihrem heiligen römischen Reich II, beziehungsweise der EU…“ Mit solchen starken Worten leitet p.m. (als Rodulf von Gardau) seines neustes Werk Die Schrecken des Jahres 1000 (Rotpunktverlag Zürich / 312 S. / 38,–DM) ein. Ein weiteres Meisterwerk des Autors von bolo’bolo, das auf 5 Bände angelegt ist und ein Lesevergnügen ersten Ranges darstellt. Nach dem Motto: unsere Vorfahren haben auch nur das unterlassen, was wir heute auch unterlassen – den Wille zur Veränderung. Ein Plädoyer für eine matriarchale Gesellschaft hier und jetzt.

Die Anarchisten lieben Mythen und deshalb gibt es auch endlich eine Bakunin-Ausstellung (NGBK, Oranienstr. 25 in Berlin-Kreuzberg vom 15. Juni – 28. Juli, tägl. von 12 – 18 Uhr 30) und den dazu gehörigen Katalog Bakunin – ? Ein Denkmal! (Kramer Verlag Berlin / 268 S. / 48,–DM). In verschiedenen Arten und Weisen wird sich hier mit dem Thema Kunst und Anarchismus auseinandergesetzt, wobei recht originelle Vorschläge für ein Bakunin-Denkmal entstanden sind.

Ohne Moos nix los, oder der Mythos vom bedruckten Papier und den kleinen, meist runden Metallstückchen: Bar-Geld-Los (Konkusbuch 31 im gleichnamigen Verlag / 239 S. / 19,80) mit so illusteren AutorInnen, wie Bert Papenfuß, Cora Stephan, Kurt Tucholsky, Gertrude Stein u.v.a. geht es rund um das Thema Mäuse, Kohlen, Moneten, Peanuts und dergleichen mehr.

Weniger mythisch, als real-existent war der Leidensweg von Juden, und das nicht nur unter Hitler, sondern auch Juden, die als Kommunisten in Moskau Exil suchten, traten oft einen langen Leidensweg an. Nathan Steinberger; Berlin – Moskau – Kolyma und zurück (Ed. ID-Archiv / 142 S. / 24,–DM) heißt dieses biographische Gespräch über Stalinismus und Antisemitismus, das Barbara Broggini hier dokumentiert.

Legendär sind die Krimis der Schwarzen Serie aus den 30er und 40er Jahren, und nachdem in Deutschland ein Leo Malet bekannt gemacht wurde, traut sich der Nautilus Verlag jetzt auch weitere Franzosen dieses Genres zu präsentieren: André Hélèna; Dem lieben Gott ist es scheißegal (221 Seiten / 28,–DM). Verraten, betrogen und gejagt, so sind sie die Helden mit Schlapphut auf regennassen Straßen, vorbei an dampfenden Gullideckeln…

Weder mythisch noch legendär sind Rechtsextremisten. Heiko Langanke; Die extreme Rechte in der Bundesrepublik – Ideen, Ideologien, Interpretationen (Argument Verlag Berlin/Hamburg / 140 S. / 24,–DM) ist eine gut lesbare Einführung in das Thema – wo Mythen und Legenden zu einer braunen Suppe werden.

Unter der Rubrik „einfallsreich“ kann der Versuch des kleinen, aber bekannten Maro Verlages, der sich seit Jahrzehnten z.T. erfolgreich für die US-amerikanische Untergrund-Literaturszene eingesetzt hat und Autoren wie Charles Bukowski u.a. zum Durchbruch half, genannt werden. Der Autor Gilbert Sorrentino wurde von der Presse hochgelobt, aber die Bücher verkaufen sich nicht umwerfend gut. Der Verlag plant jetzt, nach „Steelwork“, „Die scheinbare Ablenkung des Sternenlichts“ (beide gibt es inzwischen auch als Taschenbuch) und „Nehmen wir an, daß es wirklich stimmt“, ein weiteres Werk namens The Mulligan Stew ins Deutsche zu übersetzen und herauszugeben. Das Werk umfaßt allerdings ca. 800 Seiten. Nun sollen sich Sponsoren finden, die eine Vorzugsausgabe (100 Ex.) von diesem Buch erwerben zum Preis von 360,–DM. Ferner gibt es 26 Exemplare für HelferInnen, wie z.B. GraphikerInnen, DruckerInnen, BinderInnen, KorrekturleserInnen usw. Die Vorzugsausgaben werden von allen Beteiligten signiert, also vom Autor, Verleger bis zu dem Menschen, der die Bücher einschweißt. Zum Mulligan Stew – Projekt gibt es einen Sonderprospekt bei: MaroVerlag, Riedingerstr. 24 in 86153 Augsburg. Es ist doch schön zu sehen, wie sich engagierte Verleger für ihre Autoren einzusetzen vermögen. Von dieser Stelle aus viel Glück für Euer Projekt.

Bis dann Knobi

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