Brief eines Bereitschaftpolizisten an seinen Seelsorger (Oktober 89)

aus telegraph 7/1989
vom 04. November 1989

„Aufgrund der Ereignisse der letzten Tage hier in Dresden möchte ich,Dir schreiben.
Ich stehe ja nun wegen meiner Inkonsequenz vor der Einberufung als Christ auf der anderen Seite. Glaube mir, daß sich die Sache so entwickelt, wollte niemand von uns Wehrpflichtigen. Wir sind nur leider die, die den Kopf hinhalten müssen. Für uns gibt es nur zwei Möglichkeiten, entweder Befehle ausfahren, oder für sehr lange Zeit nach Scbwedt ins Militärgefängnis zu gehen. Am Mittwoch und am Donnerstag war die Situation noch eine ganz andere. Dort standen uns Leute gegenüber, die die Polizei mit Steinen, Brandflaschen und Säureflaschen bewarfen. Unser Zug war am Mittwoch mit dabei, als der Hauptbahnhof belagert wurde, und am Donnerstag auf der Prager Straße. Uns holte man erst relativ spät und stellte uns zuerst dorthin, wo es am gefährlichsten war. Wir hatten nur Angst. Auf unsere Schilde prasselten Steine, vor uns schlugen Brand- und Säureflaschen auf den Asphalt. Zwei Mann von uns kippten um. Steine hatten ihre Visiere durchschlagen.

Danach wurden wir aus der ersten Reihe herausgenommen und mußten unsere Schilde ablegen. Dann wurden wir zu Fünfergruppen aufgeteilt und wurden in die Massen reingejagt, um die Steinewerfer herauszuholen. Unsere Offiziere, die Schutzpolizei und die-Stasi blieb in sicherem Abstand hinter der Sperrkette. In diesen Minuten hatte ich das erste und bis jetzt das einzige Mal in meinem leben das Gefühl von Todesangst. Vor uns die wütende Menschenmasse und hinter uns Offiziere, Stasi und in der Kaserne der Militärstaatsanwalt. Das; was wir dort. drinnen (in der Menschenmenge) gemacht haben, taten wir aus Angst und einfach aus Überlebenswillen.

Was sich aber in den letzten Tagen abspielte und auch schon seit den ersten von bestimmten Gruppen der Schutz- und Sicherheitsorgane praktizierte wurde; ist für jeden noch normaldenkenden Menschen abstoßend und erschütternd. So werden unbeteiligte Zuschauer und gewaltlos demonstrierende Menschen von „Leuten“ des Strafvollzuges in der Kaserne genauso „empfangen“ wie die Leute, die mit Brandflaschen geworfen haben. Besonders erschütternd ist, wie von diesen „Leuten“ (es können keine Menschen sein) Frauen, Mädchen und ältere Menschen geschlagen werden. Nicht nur mir schwindet langsam im Angesicht solcher Aktionen die Angst vor dem Staatsanwalt. Das ist auch der Grund, warum ich Dir diesen Brief schreibe. Ich bitte Dich bloß um eins: Bete für mich und vergib mir, wenn Du kannst Verließ diesen Brief bitte in der Jungen Gemeinde und zeige ihn jedem, der wissen möchte, wie es in uns Wehrpflichtigen aussieht, die zu solchen, eines sozialistischen Staates unwürdigen Aktionen gezwungen werden.“

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