Eine Kundgebug als Plebiszit

aus telegraph 7/1989
vom 04. November 1989

Hinsichtlich der Menschenmenge die sich am Sonnabend, den 4. November in Berlin zur Demonstration für die Artikel 27 und 29 der Verfassung traf, sind wir immerhin auf die Schätzung der Westmedien angewiesen – eine halbe Million, die größte Demonstration in der Geschichte der DDR. Sonst aber waren Berliner in einer nie gekannten Weise eigenständig geworden, zwar in einer offiziell genehmigten Demonstration, aber immerhin. Dieses kleine verschlafene Land ist endlich aufgewacht und nicht mehr wiederzuerkennen, meinte einer der Redner der Kundgebung. Sinnfällig unterschied sich, diese Kundgebung von jeder anderen, die zuvor in der Hauptstadt der SED stattgefunden hatte. Die Gedanken der Redner fanden entweder durch entsprechende Plakate in der Menge und die Resonanz der Zuhörenden Bestätigung oder standen im hörbaren und sehbaren Kontrast zu den Berlinern, am ärgsten der Berliner Parteichef Schabovskyi der ausgepfiffen wurde. Kennzeichnendes Bewußtsein für die neue Entwicklung, sagte Christa Wolf, ist der oft wiederholte Sprechchor: ‚Wir sind das Volk“. Dieses Volk, dem Egon, Krenz und sein Politbüro noch am Freitag Abend eilfertig die letzten, diesmal wirklich schwergewichtigen Rücktritte und Versprechen kühnster Art mitgeteilt hatte, will offensichtlich Demokratie und Selbstbestimmung. Eine neue DDR-Identität ist entstanden, die Identität einer gewaltlosen Revolution.

Mindestens die Berliner Bevölkerung hat in diesem Zusammenhang auch offensichtlich nichts gegen einen neuen Versuch zu einen wirklichen Sozialismus, jedenfalls nach einem freundlichen Beifall zu urteilen, den auf eine entsprechende Bemerkung Stephan Beym erhielt. Andere Leute, die von Sozialismus sprachen, wie ein ehemaliger Offizier der Staatssicherheit und, wie gesagt, Bezirksparteichef Schabovsky, wurden ausgepfiffen, weil ihnen gegenüber und gegenüber der SED eine durch Jahrzehnte begründetes Mißtrauen besteht. Leute, die, wie Christa Wolf sagte, gestern die Krallen zeigten und heute ein Samntpfötchen zum Dialog reichen, Egon Krenz zum Beispiel, der auf einer allgemein belachten Karrikatur beim Grinsen seine riesigen Zähne zeigt. Darunter die Frage: „Großmutter, warum hast Du so große Zähne.“ Lautstark ausgepfiffen wurde denn auch die Hervorhebung des Schulterschlusses zwischen Krenz und Gorbatschow, durch Schabowsky. Diese Art von, „Wende“-Politikern, die eben nur gewendet sind, können niemand mehr befriedigen. Statt Vertrauen zu fordern muß, wie es auf einem Plakat hieß, erst einmal Vertrauen geschaffen werden.

Am liebsten wollen diese Leute endlich selbst regieren, auf keinen Fall wollen sie sich wieder von einer Partei fahren lassen, deren Versagen für jeden deutlich auf der Hand liegt. Niemand hat etwas gegen eine Regenerierung der SED und SED-Mitglieder , die das versprachen, bekamen freundlichen Beifall. Aber daß eine so durch und durch vermorschte und korrumpierte Partei die Frechheit besitzt, jetz noch von ihrem Führungsanspruch zu schwatzen, stieß auf allgemeine Empörung.

Meine bange Frage war in den letzten Tageni ob die Bevölkerung durch so lange Jahrzehnte Diktatur nicht so dissozialisiiert, so unselbstständig und führungsabbängig geworden ist, daß sie sich nur in die Arme neuer, mehr oder weniger schlimmer Anführer wirft. Die ohnehin schon starke Minderheit, die statt kausalem Denken eher nationalistische Projektionen bevorzugt, wurde von den Herrschenden in den vergangenen Tagen mit Pressemeldungen bedient, daß Ausländer den DDR-Bürgern alles wegkaufen. Wir hörten von progromartigen Exzessen gegen Ausländer und farbige DDR-Bürger. 60% der in die BRD geflüchteten DDR-Bürger sind nach Umfrageergebnissen CDU-Wähler. In dieser Hinsicht war die Berliner Demonstration ermutigend. Abgesehen von einigen Leuten, die ihren Wunsch zur Übersiedlkung in die BRD völlig legitim mit schwarz-rot-goldener Fahne zum Ausdruck brachten; gab es nur einen Hinweis auf nationalistische Gesinnung: ein Flugblatt über kaufhausplündernde Ausländer das schon Ende vorigen Jahres in der DDR kursierte. Zu bedenken bleibt, daß die Demonstration natürlich insofern nicht repräsentativ war, als hier der aktivste und eigenständigste Teil der Bevölkerung vertreten war. Die anderen, die Inaktiven, könnten aber in Momenten politischer Irritation eine entscheidende Bedeutung gewinnen und gerade an der Wahlurne, wo nicht gedacht werden muß, sondern eben nur eine simple Entscheidung zwischen vorgegebenen Programmen nötig ist.

Schon deshalb mußte es unbehaglich stimmen, wie auf der Tribime die Vertreter der legalen und demnächst zu legalisierenden gesellschaftlichen Vereinigungen, von der LDPD über die Berliner Künstler zum Neuen Form sich die Bälle zuspielten. Der eine hatte die „Wende“ in Gang gebracht, der andere hatte sie gestiftet, der dritte wollte sie schon immer. Und alle auf der vertretenen Reform-Plattformen und -Parteien steuerten stracks auf das Wahlklosett zu, für das sie gewissermaßen schon. vorbeugend Wahlkampf betrieben. Ohne in Bauchnabelschau zu verfallen – es war schon eigenartig, wie gänzlich die Gruppen unerwähnt blieben, die seit Jahren eine Veränderung vorgedacht und gefordert haben, und zwar ohne sich selbst als neue Führende anheischig zu machen. Überlegt und probiert wurde vielmehr in den aktiven Friedens-, Umwelt- und anderen Basisgruppen, wie Selbstbestimmung und Eigenverantwortung möglich ist, ohne das Denken bei einem Vertreter abzugeben. Und genau diese Leute, die seit Jahren für die anderen Kopf und Kragen riskiert haben, gelten immer noch als verdächtig und anrüchig. Natürlich, denn sie sind selbstständig und daher unkalkulierbar und werden wohl kaum verzückt und sprachlos den Worten eines Herrn Gerlach oder eines Sprechers des Neuen Forums folgen.

Nicht nur, weil dann eben jener „schweigende“, weil noch kausalitätsunfähige Teil der Bevölkerung, schverer-wiegen wurde, wär es schade, wenn diese große schöne Bewegung im Wahlklosett enden würde.

Demokratieformen könne nicht einfach unreflektiert aus Westen oder Osten übernommen werden, sondern müssen darauf abgeklopft werden, wieweit sie dem Selbstregierungsbedürfnis und der Selbstregierungsfähigkeit der DDR-Bevölkerung gerecht werden. Eine solche Entscheidung darf nur in einer gesamtgesellschaftlichen Debatte gefällt werden, wie sie beispielsweise vielerorts in den Basisgruppen des Neuen Forum geführt wird, aber nicht nur dort. Hoffnungsvoll stimmt z.B. die Bürgervertretung in Dresden und Leipzig oder Initiativen zur Gründung unabhängiger Gewerkschaften und Studentenvertretungen. Es komme halt nicht auf den Namen des Forums an, sondern darauf, inwieweit Demokratie dort tatsächlich realisiert wird. Wenn die SED, wie es ganz offensichtlich der Meinung der überwiegenden Mehrheit des Volkes entspricht, ihren Führungsansspruch aufgeben muß, sollte das zugunsten der Bevölkerung, nicht zum Nutzen neuer führenden Parteien geschehen.

r.l.

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