Proteste auch im Gesundheits- und Sozialwesen

aus telegraph 7/1989
vom 04. November 1989

Verwunderung kam bei uns auf, als wir von einer ganz von selbst von oben eingeleiteten Reform des Gesundheitswesens hörten. Mittlerweile wissen wir, daß dem entsprechender Druck von unten vorrausging.

Die Ärzte der Stadt Halle sprachen von einem Versagen des Gesundheits- und Sozialwesens in der DDR. Die medizinische Grundversorgung sei nicht gewährleistet, der Krankenstand steige, die Lebenserwartung sinke. Es gebe weder genügend Alten- noch Pflegeheime. Auch unverzichtbare Medikamente seien oft nicht verfügbar. Die Wartezeit für dringende Untersuchungen und Operationen verlängern sich ständig. Die technische Ausstattung sei veraltet, die Bürokratie behindere die Arbeit an den Patienten. Neben Personalschwäche, insbesondere nach der Ausreisewelle, werden einseitige Ausbildung und ständige Bevormundung durch fachfremde Organisationen beklagt. Ethik und Selbstverständnis der Ärzte sei schwerer Schaden zugefügt worden.

Gefordert werden demokratische Strukturen auch im Gesundheits- und Sozialwesen, Versammlungsfreiheit und breite Diskussion auf allen Ebenen, Pressefreiheit auch für medizinische Fachliteratur, neue Wege zur Beseitigung des Pflegenotstands, Verminderung von Verschwendung durch Abschaffung der zentralen Planvorgaben, Kontrolle und Offenlegung von gesundheitsschädlichen Auswirkungen der Industrie.

In einem „Appell an alle Mitarbeiter des Gesundheitswesens“ sprechen 26 Erstunterzeichner aus dem Klinikum Berlin-Buch und dem Krankenhaus Berlin-Friedrichshain über die Ursachen der Fluchtwelle unter medizinischen Mitarbeitern. Die Ursachen seien nicht nur in materiellen Gründen zu suchen, sondern auch in der Verdrossenheit über administrative Befehlsstrukturen und Geheimniskrämerei über gesellschaftlich relevante medizinische Probleme.

Die Mitarbeiter des Gesundheitswesens werden aufgefordert, im Lande zu bleiben und sich für die Beseitigung der Mißstände einzusetzen. Insbesondere wird zum Kampf gegen die Bürokratisierung, Anordnungsmedizin aufgefordert und die Offenlegung medizinisch relevanter Daten des Wirtschafts- und Ökosystems verlangt. Die Mitarbeiter rufen auf, Widerstand gegen die Regulierung sozial-politischer Spannungen mit medizinischen Mitteln (z.B. zentrale Vergabe zur Senkung des Krankenstandes) zu leisten. Angeklagt wird die Bevorzugung der Sportmedizin und der Privilegierten-Versorgung.

Das Papier setzt sich für den Einsatz von Wehrdienstverweigerern in Krankenhäusern und die Reformierung der Gewerkschaft Gesundheitswesen ein. Die Ärzte werden gebeten, anonymisierte Berichte über Verletzungen während der Demonstrationen um den 7. Oktober zu sammeln und einem unabhängigen Sachgremium zugänglich zu machen.

Auch in diesem Papier werden zum Abschluß die Rede-, Presse-, Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit als Vorraussetzung demokratischer Strukturen gefordert.
r.l.

© telegraph. Vervielfältigung nur mit Genehmigung des telegraph