von Wolfram Kempe
aus telegraph 7/8 1996 (#90)
In Mecklenburg-Vorpommern rottet sich abends die angesoffene männliche Dorfjugend zusammen, stürmt Zeltplätze und verprügelt wehrlose Urlauber. Die Kollegen von Presse und Funk stürzen sich auf die Ereignisse; tagelang erzählt der Betreuer einer westdeutschen Jugendgruppe mit verschwollenem Gesicht in den Hauptnachrichtensendungen aller Fernsehkanälen von den Ereignissen in der Nacht des Grauens. Der Innenminister des Landes bricht seinen Urlaub ab, Polizisten dürfen nicht mehr mit der Presse reden, Schaden vom Urlaubsland Mecklenburg-Vorpommern sei abzuwenden, das öffentlich-rechtliche Frühstücksfernsehen schickt eine geistig minderbemittelte Reporterin „vor Ort“, die „hautnah“ über die Situation der Jugendlichen im Norden des Ostens Deutschlands berichten soll (man bedenke: morgens um halb neun!) – und ich sitze vor dem Apparat oder wahlweise mit eine Tasse Kaffee vor der Morgenzeitung und verstehe die Welt nicht mehr.
Seit ich als Halbwüchsiger die ersten Zelttouren an die Ostsee oder die Müritz unternommen habe, weiß ich, daß es besser ist, sich nicht mit der männlichen Dorfjugend anzulegen. So betrachtet findet in Mecklenburg – für mich als gelernten DDR-Bürger – nichts Ungewöhnliches statt. Um nicht falsch verstanden zu werden: zwei neue Qualitäten haben diese Wochenendauseinandersetzungen schon. Eine wird auch weidlich von den Meinungsführern der Bundesrepublik ausgeschlachtet: heutzutage gehören die Schläger alle der sogenannten rechten Szene an. Betrachtet man ihre Erscheinung und hört auf ihre Sprüche, ist das objektiv unbestreitbar. Trotzdem habe ich das Gefühl, daß diese Schublade der in (West-)Deutschland veröffentlicheten Meinung gerade recht kommt: Daß der Osten Deutschland von Nazis bevölkert ist, wissen westdeutsche Journalisten ohnehin schon längst. Während also über die Täter alles mögliche in Erfahrung gebracht und veröffentlicht wurde – vom zerstörten Elternhaus bis zur fünfzigsten Bewerbung um eine Lehrstelle – blieben die Mitteilungen über die Opfer der Übergriffe merkwürdig spärlich. Man mußte schon genau zuhören, um zu erfahren, daß sie allesamt aus dem Westen Deutschlands stammten. Daß in diesem Schweigen Methode liegt, wurde klar, als eine Woche später Schlägereien zwischen Mecklenburgern und Campern aus Frankfurt/Oder, Berlin, Halle oder Chemnitz zu „Übergriffen“ hochstilisiert wurden. Die zweite neue Qualität derartiger Schlägereien im Vergleich zur Vergangenheit liegt nämlich genau darin, daß nahezu ausschließlich Westler die Jacke voll kriegen.
Einzig der Komentator der taz, Eberhard Seidel-Pielen, hat dies erkannt und sich auch zu sagen getraut. Seidel-Pielen, eigentlich ausgewiesener Jugendforscher, hatte auch schnelle Erklärungen für den von ihm – scheinbar – erstmals benannten Umstand zur Hand. Die PDS und alle, die in ihrem Fahrwasser nach wie vor auf der Eigenständigkeit der DDR oder einer wie auch immer gearteten DDR-Identität beharrten, wären die geistigen Anstifter dieser Schlägereien. Das ganze aus dem Osten kommende Identitäts-Geschwafel, so Seidel-Pielen weiter, sei nichts anderes als Nationalbolschewismus, der wiederum, wie jeder aufgeklärte Linke wissen müsse, eine der Wurzeln der Hitler-Diktatur war und eine der Wurzel des neuen deutschen Nationalismus bleibe.
Der Vorwurf, nationalbolschewistisches Gedankengut zu propagieren, ist Linken im Osten nicht neu. Schon 1992 verdächtigten alteingesessene Kreuzberger Kiezaktivisten die im Prenzlauer Berg entstandene Initiative W.B.A. („Wir bleiben alle“) in diesem Sinne. Damals wie heute wundert man sich dieseits der Demarkationslinie, daß derartige Vorwürfe ausgerechnet von Leuten kommen, die in der Vergangenheit für das Recht auf Selbstbestimmung noch des letzten Bergbauernstammes in den südostasiatischen Gebirgen eingetreten waren; Leuten, die sich noch heute selbst zu dem Massakern der Roten Khmer unter Pol Pot in Kamputschea nur halbherzig äußern.
Indem sich die westdeutsche Linke mehr oder weniger kritiklos die These vom „wiederzuvereinigenden“ Deutschland, die jahrezehntelang von den deutschen Ultrakonservativen hochgehalten wurde, nach der tatsächlichen sogenannten „Wiedervereinigung“ zu eigen gemacht hat, hat sie sich mit dem „Staat BRD“ ausgesöhnt und so gleichsam das Lager gewechselt. Westdeutsche, von den linksradikalsten Autonomen bis hin zum rechten Rand der CSU, treten in der ehemaligen DDR als Kolonialherren auf. Das ist eine bedauerliche Tatsache. Sie festzustellen, heißt in den Augen westdeutscher Altachtunsechziger, die heute zu Oberstudienräten mutiert sind, Faschisten den Weg zu bereiten.
Ehrlich gesagt: Seit 1977 habe ich etliche Sommer am ungarischen Balaton verbracht, und es hat mir damals schon oft in den Fingern gejuckt, den Westdeutschen, die zu diesen Zeiten dort einen Billigurlaub am „Plattensee“ verbrachten und sich Kraft ihrer harten Währung wie Herren benahmen, eins in die Fresse zu hauen.
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