Die Untersuchungskommission

aus telegraph 8/1989
vom 16. November 1989

Begonnen hat es in Kreisen des Berliner Kontakttelefons, wo die Betroffenenberichte aus der Zeit der Polizeiübergriffe um den 7. Oktober zusammengestellt wurden. Alle empfanden die Notwendigkeit, die Berichte öffentlich zu machen und öffentlich zu untersuchen. Es entstanden in dieser Frage erste Kontakte mit dem Künstlerverband, dem Schriftstellerverband, der Akademie der Künste, Ärzten und Rechtsanwälten, die ebenfalls Protokolle gesammelt hatten und die Situation kannten. Eine Pressekonferenz am 23. Oktober sollte für Öffentlichkeit, für die Sicherheit der Betroffenen und für die Sicherheit der Untersuchungskommission sorgen. Es ging natürlich zunächst nicht, wie Schabowsky in obigem Mitschnitt vermutet, um einen Angriff auf Krenz, sondern um die Klärung der Verantwortlichkeit. Konsistorialpräsident Stolpe versuchte, wie aus obigem Bericht bereits hervorgeht, erfolglos die Pressekonferenz abzudrehen. Der Verlauf der Veranstaltung am 23. Oktober in der Fennpfuhlgemeinde dürfte aus den Berichten der Ost- und Westmedien bekannt sein.

Zusammen mit den Künstlerverbänden fand die erste arbeitsfähige Sitzung des Berliner unabhängigen Untersuchungsausschusses am 3. November um 16 Uhr im Verband bildender Künstler statt. Bereits am Vormittag aber hatte die Berliner Stadtverordnetenversammlung auf öffentlichen Druck und um dem unabhängigen Ausschuß zuvorzukommen einen eigenen Untersuchungsausschuß gebildet. Aber auch in diesem staatlichen Ausschuß waren bereits mehrere Mitglieder der unabhängigen Untersuchungskommission ohne deren Wissen kooptiert worden. Sie erfuhren es meist aus dem Radio. Offenbar bestand von Seiten der Stadtverordnetenversammlung ein hohes Bedürfnis, ihrem Verein durch Aufnahme einiger Mitglieder des unabhängigen Untersuchungsausschusses wenigstens den Anschein von Wahrhaftigkeit zu geben. Aber die Unabhängigen stellten Bedingungen:

-Kooptierung des gesamten unabhängigen Untersuchungsausschusses
-Ausscheiden der für die Übergriffe mitverantwortlichen Personen aus dem Untersuchungsausschß der Stadtverordnetenversammlung
-Wiederherstellung aller Rechte der Betroffenen und Opfer und ihre Entschädigung
-Ermittlung und Bestrafung der politisch Verantwortlichen
-Aufklärung der Befehlsstruktur
-Überprüfung der beteiligten Institutionen

Diese Forderungen entsprachen einem Kompromiß innerhalb des unabhängigen Untersuchungsausschusses. Einige hatten nicht nur die Entfernung mitschuldiger Personen, sondern auch von mitschuldigen Institutionen gefordert: Polizei, Abteilung Inneres und FDJ.

Während der denkwürdigen Sitzung der Stadtverordnetenversammlung von Berlin am 9. Oktober kam es, zunächst noch ohne Stimmkraft der Mitglieder des unabhängigen Untersuchungsausschusses zur Abstimmung über die neue Zusammensetzung des offiziellen Ausschusses im Rahmen der Forderungen der Unabhängigen. Von vornherein fiel der Chef der VPI Prenzlauer Berg, der Anfang Oktober ständig im Einsatz war. Als mitschuldig erwies sich auch der Stellvertretende Polizeipräsident von Berlin, zuständig für Havariefälle. Im Gegensatz dazu blieb der Stellvertretende Oberbürgermeister für Innere Angelegenheiten, Hoffmann, der behauptete, am 7. Oktober zum Empfang im Palast der Republik und am 8. Oktober zu Hause gewesen zu sein. Die Entdeckung, daß der Mann, der für die Sicherheit der Stadt verantwortlich war, zu Hause saß und von nichts wußte, löste erste Verwunderung aus. Viele meinten, daß der Fehler offenbar darin läge, daß keine klaren Verantwortlichkeiten beständen. Die Mitglieder des Unabhängigen Untersuchungsausschusses, Marianne Birtler, Werner Fischer und Walter Schilling verließen unter Protest den Saal. Um weitere Austritte der Unabhängigen zu verhindern, versprachen die Stadtverordneten, daß jedes Mitglied des Untersuchungsausschusses, dessen Mitschuld klar würde, ausgeschlossen würde und jegliche Verdunkelung und Behinderung des Ausschusses unterbleibt. Unter diesen Vorbedingungen wurden die noch verbliebenen Mitglieder von der Stadtverordnetenversammlung im Block bestätigt.

Auf Antrag des Untersuchungsausschusses gaben die Abgeordneten den Ärzten des Ausschusses die Kompetenz zur Abfrage sämtlicher Stellen des Gesundheitswesens, vor allem von Krankenhäusern und Rettungsstationen nach Opfern der Übergriffe um den 7. Oktober.

Erstmals in diesem Lande wurde bei der Anhörung des Generalstaatsanwalts, Dr. Simon, ein neuer Ton eingeführt. Der Routinier leierte eine vorbereitete Rede herunter, wurde aber brachial von einem Mitglied des Untersuchungsausschusses unterbrochen und auf die neue Lage der Dinge hingewiesen: „Sie sitzen hier vor einem Untersuchungsausschuß, dem sie rechenschaftspflichtig sind.“ Durch die ungewohnte Befragung geriet Dr. Simon völlig außer Fassung.

Gebildet wurde vom Untersuchungsausschuß eine Redaktionskommission, die neue Gedächtnisprotokolle zusammenstellt, eine Arbeitsgruppe Rekonstruktion der Ereignisse, eine Arbeitsgruppe zur Erfassung der Verletzten und eine Arbeitsgruppe zu den Befehlsverweigerungen bei den Sicherheitsorganen. Die Arbeitsgruppen begannen sofort zu arbeiten.

Am Mittwoch, dem 15. November, wurde die Anhörung und Befragung des Generalleutnant Friedhelm Rausch, Polizeipräsident von Berlin und Generalmajor Hänel, Chef der Bezirksverwaltung Berlin des MfS durchgeführt. Rausch, der offenbar kurz vor der Absetzung steht, zeigte sich offen, reumütig und gab dem Untersuchungsausschuß alle verlangten Antworten und Unterlagen. Rausch versicherte glaubhaft, daß er nur Befehlsempfänger war und einer völlig falschen politischen Einschätzung der Ereignisse unterlag. Wiederum erwies sich aber hier die tatsächliche Befehlsstruktur als fraglich. Rausch ließ durchblicken, daß der tatsächliche Befehlsgeber sein Stellvertreter Dietze, ein MfS-Mann, war. Unklar blieb auch, von welcher Stelle die Befehle kamen. Rausch deutete an, daß die Verantwortlichen sehr weit oben stehen.

Im Gegensatz zu Rausch war Generalmajor Hänel aussageunwillig. Er behauptete, daß seine StasiLeute nur für den Schutz von Personen und Objekten, des Brandenburger Tors und der Grenze und für den Schutz der Fahr- und Protokollstrecken zuständig gewesen seien. Auf konkrete Anfrage zum Beispiel über Zwischenfälle mit Stasi-Leuten in der Stargader Straße am 8. Oktober wußte er angeblich nichts.

Am Mittwoch wurde auch in Anwesenheit der Presse von der Untersuchungskommission der Tonbandmitschnitt der SED-Fraktionssitzung abgehört, aus dem wir oben einen Ausschnitt brachten. Die Erschütterung war auch bei den Offiziellen sichtlich. OB Inneres Hoffmann rief Schabowsky an, der eigenartigerweise nach 5 Minuten mit einem vorbereiteten Manuskript erschien. Seine Rede auf dem Mitschnitt, so Schabowsky, bezog sich auf die von Sicherheitschef Herger. Er, Schabowski wolle und unterstütze die Untersuchungskommission. Im Übrigen sei er während der blutigen Ereignissen zu Hause gewesen und habe erst am 9. Oktober davon erfahren.

Daraufhin beantragte der Untersuchungsausschuß bei Schabowsky die Unterstützung der Volkskammer für die Ausweitung der Untersuchung auf die gesamte Republik. Zur Klärung der tatsächlichen Verantwortungsstruktur sei auch die Anhörung eines Mitglied des Nationalen Verteidigungsrates nötig. Schabowsky versprach, sich zu bemühen. Auf die Frage, ob, wie sich zunehmend andeute, tatsächlich die Verantwortung für die Übergriffe beim Nationalen Verteidigungsrat liege, antwortete Schabowsky mystisch: „Sie werden verstehen, daß ich darauf nicht antworte.“

Die Untersuchung geht weiter.

r.l.

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