Urabstimmung über eine unabhängige Studentenvertretung an der Humboldt-Universität Berlin

aus telegraph 8/1989
vom 16. November 1989

Wir hatten bereits in den vergangenen Nummern über die Durchsetzung einer unabhängigen Studentenvertretung geschrieben. Es gelang den Sudenten bisher, sich gegen den elastischen Widerstand der Universitätsleitung und die Versuche der FDJ zu wehren, die Dinge unter ihre Kontrolle zu bringen.

Kurz vor der angesetzten Urabstimmung über die unabhängigen Studentenvertretung erklärte dann der Rektor der Humboldt-Universität diese Abstimmung für nicht mehr notwendig und sagte, er könne die unabhängige Studentenvertretung jetzt auch so akzeptieren. Das stiftete unter den StudentInnen erst mal einige Verwirrung, denn die Vorbereitungen waren im vollen Gange. Man entschied sich aber, die Abstimmung trotzdem zu machen, um der Studentenvertretung eine endgültige Legitimation zu geben. Am 8.11. und 9.11. wurde also abgestimmt. Bei der Auszählung am 10.11.89 fehlten dann aber die Ergebnisse einiger „grenznaher“ Sektionen, denn … Naja, auch die Studenten leben ja im bis dahin mauerbekrenzten Berlin. Die Zahlen bis Montag, den 13.11.89:

Wahlbeteiligung (von ca. 13.000): 6.935
Ja-Stimmen: 4.028
Nein-Stimmen: 678
Stimmenthaltungen: 191
Der Rest: ungültige Stimmen

Die relativ niedrige Wahlbeteiligung ist einerseits auf die Ängste vieler ausländischer StudentInnen zurückzuführen und darauf, daß sie sich offensichtlich von den Zielen der Studentenvertretung (Stuve) nicht so stark angesprochen fühlen, obwohl auch eine der neugebildeten Arbeitsgruppen mit ihren Problemen beschäftigen soll. Andere Nichtwähler sind offensichtlich Studenten der höheren Studienjahre, die schon in der Praxis sind und deshalb von den Vorgängen an der Uni nicht mehr so viel mitbekommen.

Arbeitsgruppen existieren jetzt zu allen für StudentInnenen wichtigen Problemen, wie z.B. soziale Frage, Studienablauf, Absolventenlenkung, juristische Fragen, Infokreis usw.. Eine weitere Gruppe arbeitet an einer unabhängigen Studentenzeitung. Leider sind dort Fragen der Finanzierung und des Drucks weitestgehend ungeklärt, obwohl es an interessanten Artikeln bis jetzt nicht mangelt.

Um Verbindungen zwischen StudentInnen aller Unis, Hoch- und Fachschulen der DDR herzustellen, wurde eine Autonome Studentenunion gegründet.

Alle diese Initiativen stecken aber sowohl politisch als auch organisatorisch noch in den Anfängen. Problematisch dabei ist, daß die Hauptarbeit, wie bei so vielen Initiativen bisher, auf relativ wenigen lastet. Zwar hat die überrschende Maueröffnung auch dazu beigetragen, daß sich haufenweise Kontakte zur FU und TU* Westberlin ergaben, sie hat aber auch dazu geführt, daß die Beteiligung an Diskussionen und Arbeitskreisen zurückging. Schade, schade, denn es muß gerade jetzt weitergehen, wo der berechtigte Aufruhr an der Uni Früchte trägt.
Die ersten Ergebnisse der Studentenbewegung liegen seit Mittwoch, den 15.11. vor.

1) Die Lehrprogramme werden ab jetzt von den Wissenschaftsbereichen, bzw. Hochschullehrern selbst verantwortet. Erhöhungen der Stundenzahlen sind bis auf Ausnahmen unzulässig. Die StudentInnen haben die Möglichkeit, aus dem Angebot auszuwählen.
2) Die obligatorische ZV-Ausbildung an der Uni entfällt. Dafür werden StudentInnen des 2. Studienjahres im Frühling des Semesters in der Charite arbeiten. Diese Arbeit ergibt sich aber nur aus der momentan angespannten Situation im Gesundheitswesen und soll nicht Tradition werden. Reserveoffiziere werden nur noch auf freiwilliger Basis verpflichtet. Schon abgegebene Verpflichtungen können zurückgenommen werden.
3) Die Sportausbildung an der Uni ist fakultativ
4) Die Sprachausbildung ist wahlweise, auch in der Form. Russisch ist auch für Lehrer nicht mehr obligatorisch.
5) Die Marxismus-Leninismus-Ausbildung wird wahlweise obligatorisch.

Lehrveranstaltunungen laufen in Eigenverantwong der Lehrer. Es gibt keine Zensierung mehr, nur noch eine Bestätigung der Teilnahme. Regelungen für die Zukunft existieren noch nicht. Vorgeschlagen wurde aber, daß jede StudentIn 3 Semester lang wahlweise soziologische oder gesellschaftswissenschaftliche Kurse belegen soll.

außerdem:
– Die Sektionsdirektoren sollen weitergehende Befugnisse erhalten (wie z.B. Freistellung von Studenten bis zu 3 Tagen)
– Studentenwohnheime sollen eventuell unter Studentenselbstverwaltung gestellt werden.

Diese Verlautbarungen sind aber bisher noch nicht gesetzlich legitimiert. Das soll demnächst passieren. Näheres dazu in der bald erscheinenden Nr. 1 der unabhängigen Studentenzeitung.

d.k.

* FU und TU: „Freie Universität“ und „Technische Universität“

© telegraph. Vervielfältigung nur mit Genehmigung des telegraph