aus telegraph 8/1989
vom 16. November 1989
Von unten gesehen
Ein Lieblingsthema der Medien, vor allem aber von Partei- und Staatsfunktionären im sogenannten Dialog mit der Bevölkerung ist neuerdings wieder die Durchsetzung des Leistungsprinzips – ein im Grunde alter Hut aus der Mottenkiste der Abteilung Agitation und Propaganda. Wieder einmal soll versucht werden, den Werktätigen die Schuld für die Wirtschaftskrise in die Schuhe zu schieben: Wenn es nämlich bergab geht, wenn nicht genügend Waren in den Geschäften zu haben sind oder wenn die DDR zunehmend weniger auf dem Weltmarkt zu bieten hat, dann haben eben die Werktätigen nicht genügend geleistet.
Das klingt zunächst ganz plausibel, denn wahrhaftig läßt sich nur verbrauchen, was zuvor hergestellt wurde, kurz: wir leben heute, wie wir gestern gearbeitet haben , und leben wir miserabel, haben wir uns das demnach selbst zuzuschreiben. Und in der Tat wissen die meisten von uns, daß – auch abgesehen von schlechter Organisation der Produktion, Materialmangel usw., durchaus mehr geleistet werden könnte. Manch einer hat sogar ein schlechtes Gewissen deswegen. Sind wir also selbst schuld, wenn die Karre jetzt im Dreck steckt?
Von unten gesehen hat diese auf den ersten Blick recht einleuchtende Argumentation ein paar kräftige Haken:
1.) Trotz der vielgepriesenen „zweiten Lohntüte“ – s.h. der Subventionen für Grundnahrungsmittel, Mieten usw. – sind wir im internationalen Vergleich auf dem Weg zum Billiglohnland. Das zeigt sich u.a. darin, daß auf dem bundesdeutschen Arbeitsmarkt Leiharbeiter aus der DDR gerne gesehen sind jedenfalls bei Unternehmern! Für die Kollegen drüben bedeutet das zusätzliche Konkurenz und wachsenden Druck auf ihren Lebensstandard.
Erhalten aber unsere Werktätigen weniger Lohn und sollen dennoch das gleiche leisten, heißt das, sie werden unterbezahlt oder mit anderen Worten, die Ausbeutungsrate ist höher als anderswo, ganz gleich, ob sie im In- oder Ausland eingesetzt werden. Wenn daher bei uns geringe Leistungsbereitschaft herrscht, entspricht das nur der geringen Bezahlung.
Soll jetzt die im Ganzen zu geringe Lohnsumme unter den Leuten nur anders verteilt werden, wachsen damit lediglich Neid und Mißgunst zwischen den Kollegen, bresonders wenn sie diese Aufteilung nach neueren Modellen auch noch selbstständig unter sich vornehmen sollen. Mag sein, ein Teil von ihnen wird dadurch zu höherer Leistung angeregt, aber diejenigen, die nun noch schlechter wegkommen, werden auch noch weniger Grund sehen, ihr Bestes zu geben. Diese Wirkungen heben sich gegenseitig auf; unterm Strich bleibt die Gesamtleistung so, wie zuvor.
Wer also volle Leistung verlangt, der muß sie auch voll bezahlen und als Maßstab gilt nicht, was sich irgendein Politbürokrat an seinem Schreibtisch ausgedacht, oder was er in der dritten Welt abgeguckt hat; als Maßstab gilt, was im Weltdurchschnitt für vergleichbare Arbeit gezahlt wird.
2.) Höherer Lohn ist aber nur die eine Seite der Medaillie. Mit Geld ist nämlich herzlich wenig anzufangen, wenn es nichts oder zu wenig dafür zu kaufen gibt. Ob aber Waren des täglichen Bedarfs in ausreichender Menge hergestellt werden oder nicht, hängt zu allerletzt vom Fleiß der Werktätigen ab. Die Planer – letztlich Partei und Regierung – bestimmen, wieviel von der vorhandenen Produktionskapazität auf Konsumgüter für die eigene Bevölkerung verwendet wird und was dagegen in Produktionsmittel, Export, Luxusgüter, Militär, Staatssicherheit usw. angelegt wird. Und da stehen die Bedürfnisse der Regierung ganz oben und die der Werktätigen stehen ganz unten.
Wenn also hierzulande weniger geleistet wird, als möglich wäre, liegt das nicht allein an der zu geringen Bezahlung, sondern vor allem an der miserablen Versorgung. Zudem darf sich niemand wundern, wenn ein Teil der Arbeitszeit dafür draufgeht, den enormen Mehraufwand zu verringern, den der DDRBürger, verglichen mit anderen Industriestaaten, leisten muß, will er sich Lebensmittel, Kleidung, Reparaturen usw. beschaffen.
3) Die Menge der verfügbaren Konsumgüter allein ist auch nicht entscheidend. Ihre Qualität fällt erheblich ins Gewicht und die läßt sehr zu wünschen übrig. Niemand ist bereit, ausgezeichnete Arbeit zu leisten, um sich für seinen Lohnen Schund und Pfusch andrehen zu lassen, weil alles, das irgendwie brauchbar ist, in den Export geht oder von den Herrschenden selbst verpraßt wird. Auf die Dauer kann man von den Werktätigen also nicht verlangen, daß sie nach Maßstäben, die das Weltniveau setzt, produzieren und nach den Maßstäben von vorindustriellen Hinterwäldlern konsumieren.
4) Über Jahre hinweg wurde nun versucht, die mangelnde Leistungsbereitschaft vor allem in volkswirtschaftlich wichtigen Bereichen mit sogenannten ökonomischen Hebeln zu steigern. Durch Sonderzahlungen und direkte Lohnerhöhungen kam so mehr Geld in Umlauf, ohne daß eine entsprechend größere Menge an Konsumgütern eingeplant und in den Verkauf gebracht wurde. Wenn aber mehr Zahlungsmittel als Ware vorhanden sind, verliert das Geld an Wert. Seit geraumer Zeit trägt man dem Rechnung, indem nach und nach die Preise erhöht werden. Das zusätzliche Geld von gestern wird heute durch die verdeckte Inflation „aufgefressen“. Was aber noch schlimmer ist, die Preise beginnen allmählich schneller zu wachsen, als die Löhne und das bedeutet, der Lebensstandard sinkt. Von dieser Entwicklung zu erwarten, daß nicht weiter Resignation um sich greift, sondern die Leistungsbereitschaft auch noch steigt, verlangt schon ein gehöriges Maß an Einfälltigkeit oder Weltfremdheit. Durchsetzung des Leistungsprinzips kann daher nur bedeuten,die Versorgungslage drastisch zu verbessern und die Entlohnug der z.Zt. bereits verlangten, aber von den Werktätigen zurecht verweigerten Leistung,anzupassen. Dies wäre allerdings nur ein erster Schritt zur Entkrampfung der politischen und wirtschaftlichen Lage. Mit Sozialismus hätten solche Maßnahmen dagegen noch immer nichts zu tun, solange den Werktätigen im Grunde nur übrig bleibt, ihre Arbeitskraft zu verkaufen, ganz gleich, ob nun der Käufer Privatkapitalist heißt oder schlicht und einfach Staat.
Die Bereitschaft der Werktätigen, sich nach Kräften in den gesellschaftlichen Produktionsprozeß einzubringen könnte allerdings auch auf einem anderen Weg entstehen,wenn sie ein eigenes Interesse an ihrer Tätigkeit in der Produktion entwickeln könnten,wenn also jeder Spielraum für ihre freie Initiative gegeben wäre und die dadurch erzielten Veränderungen unmittelbar den Werktätigen selbst zugute kämen, z.B. indem wachsende Produktivität der Arbeit zu stets sinkender Arbeitszeit führte. Aber es ist ja gerade das große Dilemma diese angeblichen Sozialismus, daß jede Initiative, die nicht von oben kommt, mit aller Konsequenz erstickt wird – das ist die Grunderfahrung, die hier jeder von Kindesbeinen an immer wieder machen muß, bis er sich abgewöhnt hat Initiative zu zeigen oder durch „Abstimmung mit den Füßen“ das alles hinter sich gelassen hat.
Ohne daß sich an diesem Problem etwas grundlegendes ändert, hat die DDR wirtschaftlich nicht die geringste Chance, sich zu behaupten sondern wird dem internationalen Großkapital in die Hände fallen, um, ähnlich einem Entwicklungsland,ausgepreßt zu werden wie eine Zitrone. In diesem Sinne könnten die Werktätigen tatsächlich die Verantwortung für die weitere Entwicklung des Landes übernehmen, indem sie sich den nötigen Spielraum für ihre umfassende Initiative erobern. Dann wird sich zeigen, wie überflüssig die ganze Politbürokratie bereits für die heutige und erst recht für eine künftige Produktionsweise ist und welches ungeheuere Produktionswachstum überhaupt aus der Überwindung der Herrschafts- und Knechtschaftsverhältnisse entspringt.
u.b.
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