aus telegraph 9/1989
vom 29. November 1989
(Ein Redebeitrag von Mitglieder der autonomen und antiimperialistischen Bewegung Westberlins, der auf der Demonstration von Studenten der Ostberliner Humboldt-Universität nicht gehalten werden konnte)
Wenn wir heute als ein Teil der autonomen und antiimperialistischen Bewegung Westberlins zu Euch sprechen, so stehen wir zuerst vor dem Problem, daß Ihr über unsere Kämpfe, unser Leben zumeist nur etwas über die Westmedien kennt und das etwa genauso verfälschend ist wie das, was wir über Euch das durch das Neue Deutschland bis vor kurzem erfahren konnten. Wir müssen also zuerst eine gemeinsame Sprache finden, unsere unterschiedlichen Erfahrungen in den beiden Herrschaftssystemen auszutauschen.
Für euch ist vielleicht schwer nachvollziehbar, warum wir in einem der reichsten Länder der Welt des Kapitalismus so entschieden das Gesellschafts- und Herrschaftssystem bekämpfen. Für uns wiederum ist die Dimension eures Kampfes gegen Stalinismus und Parteiherrschaft schwer nachzuvollziehen, weil wir nicht seit 40 Jahren damit konfrontiert sind. Dabei müssen wir zugeben, daß die autonome und antiimperialistische Bewegung in Westdeutschland eine Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit in den realsozialistischen Ländern zum Teil aus falsch verstandener Solidarität nicht geführt hat. Der Leninismus und Stalinismus war unter uns jahrelang kein Thema. Nicht nur an diesem Punkt können wir wohl einiges von euch lernen.
Vielen von uns ist in den letzten Tagen das Blut in den Adern gefroren. Natürlich finden wir es toll, daß ihr jetzt reisen könnt, wie ihr wollt, nur haben nach der Öffnung der Mauer die Westmedien und die bürgerliche Presse versucht, weite Teile der westdeutschen Bevölkerung in einen Wiedervereinigungstaumel zu stürzen. In den Köpfen besonders der Rechten, der CDU und der faschistischen Republikaner wächst die Vision eines geeinten Deutschlands. Sie wollen euch „heim ins Reich“ holen. Zugleich sprechen die Reaktionäre von einem Sieg der freiheitlichen Demokratie. Ein CDU-Politiker meinte vor kurzem, daß Sozialismus und Kollektivität den Menschen widernatürlich sei.
Eine andere, nicht weniger beachtenswerte Variante fährt derzeit die Bonner SPD. Brand, Vogel, Momper und auch Außenminister Genscher setzen eher auf ein Europa ohne Grenzen, von Portugal bis Polen. Wobei sie mit „ohne Grenzen“ vor allem freien Kapital- und Handelsverkehr meinen. Sie bieten der polnischen Regierung gemeinsame Unternehmen in Gdansk oder Warschau an, mit bundesdeutschem Kapital und Management und polnischen Arbeitern und Arbeiterinnen. Mit diesem Konzept soll auch die Wirtschaft in der DDR in eine noch stärkere Abhängigkeit vom kapitalistischen Weltmarkt gebracht werden. Das bundesdeutsche Großkapital ist dabei besonders scharf auf die niedrigen Löhne und die Qualifikation eurer Facharbeiter und Facharbeiterinnen. Davon wollen sie profitieren. Aus den DDRArbeitern und Arbeiterinnen wollen sie noch mehr Gewinne herauspressen, als das bei den Westdeutschen derzeit möglich ist – und das ist auch nicht wenig.
Polen und Ungarn sind das neue Leitbild der Konzernbosse. Eine Gewerkschaft, die mit in der Regierung sitzt und damit die Arbeiter und Arbeiterinnen von Streiks abhalten soll, Subventionsabbau allerorten und freier Kapitalverkehr. Die polnische Arbeiterklasse und bald auch die der DDR soll Milliarden Dollar an Auslandsschulden weiter abarbeiten, wie es vor einem Jahre ein westdeutscher Minister während des IWF-Kongresses sagte. Das ist die Freiheit, die die Herrschenden meinen, wenn sie von der neuen Freiheit reden, die ihr euch gerade erkämpft. Es ist vor allem die Freiheit für das westdeutsche Großkapital, für die Deutsche Bank. Das Kapital ist dabei, das Erbe des Stalinismus anzutreten, der die Vision von einer freien und sozialistischen Gesellschaft systematisch zerstört hat.
Schon die ersten Diskussionen und Gespräche mit Einzelnen von euch haben gezeigt, wie unterschiedlich ihr und wir Begriffe verwenden und verstehen. Wir hören, daß bei euch von vielen die Forderung Bezahlung nach Leistung diskutiert wird. Für euch heißt das unter anderem, daß Verdienst und soziale Vergünstigungen nicht von der SED-Mitgliedschaft abhängig sein darf. Wir verstehen das als Forderung nach Brechung der Privilegien der Parteibonzen.
Wir aber hören von kleinauf, daß nur Leistung zählt; in der Schule, Ausbildung, Uni, Betrieb, überall. Wir verbinden damit Erfahrungen von gnadenloser Auswahl und Disziplinierung. Ein Großteil unseres Kampfes richtet sich gegen diesen Leistungsfetisch und die damit verbundene Hierarchie in allen Lebensbereichen. Leistungsgesellschaft in der BRD heißt, daß Frauen und Männer in der Fabrik, als Verkäuferinnen, auf dem Bau 40 Stunden und mehr arbeiten müssen, aber sie bedeutend weniger verdienen als Vorarbeiter, Manager, Ärzte oder Akademiker, die dafür bestimmt nicht mehr leisten. Wir erfahren, daß Hautfarbe, Geschlecht, soziale Herkunft, Beziehungen, auch bei uns das richtige Parteibuch einer nur scheinbar objektiven Leistungsbemessung vorgeschaltet sind. Von daher kämpfen wir genau gegen diesen Begriff von Leistung. Dagegen versuchen wir Strukturen von Selbstorganisation und Selbstbestimmtheit zu schaffen. Zum Beispiel durch kollektive Wohnformen herkömmliche Strukturen von Familie und Ehe zu ersetzen. Das heißt für uns auch Organisation von unten gegen Partei, Gewerkschaften und Kapital. Das reicht von autonomen Betriebsgruppen über Stadtteilorganisation und Kollektivbetriebe bis zu überregionalen Zusammenschlüssen wie beispielsweise beim langjährigen Kampf gegen Atomkraftwerke, ohne daß dabei von oben, von irgendeiner Parteileitung die Parole oder Losung vorgegeben wird. Natürlich stoßen wir dabei auf enorme Schwierigkeiten. Rückschläge, Desorganisation, Zersplitterung in unzählige Gruppierungen, die sich nur mühsam wieder zusammenfinden, sind an der Tagesordnung.
Ein entscheidender Moment unserer Bewegung ist die ständige Thematisierung des Zusammenhangs von Unterdrückung bzw. Gewalt und Patriarchat bzw. Männerherrschaft. Keine gesetzliche Regelung, noch so schön klingende Formulierungen wie „Gleichberechtigung“ können diese Tatsache verdecken. Von der Familie über die Arbeit bis in politische Organisationen, immer stehen Frauen einige Stufen unter den Männern, müssen unbezahlte Mehrarbeit leisten und sind von fast allen Entscheidungen ausgeschlossen. Aber viele Frauen ließen und lassen sich das nicht gefallen und versuchen den Kampf gegen Gewalt von Männern, Sexismus in jeder Form, auch im Alltag anzugehen. Unser Widerstand gegen den kapitalistischen Normalzustand, gegen Parteienherrschaft und bürokratische Bevormundung ist von eurem Widerstand bisher noch ziemlich verschieden. Aber wir denken, daß wir durchaus gemeinsame Interessen haben. Bei den Massenstreiks an den Westberliner Unis letzten Winter haben auch wir für eine unabhängige Vertretung gegen diue Professoren und den Westberliner Senat gekämpft, ohne aber unser Ziel zu erreichen. Auch bei uns haben Studis, die sich im Unistreik letztes Jahr engagierten, mit staatlichen Repressionen zu rechnen, wie zwangsweise Exmatrikulation. Wenn auch vieles bei uns noch mit einem demokratischen Mäntelchen umgeben ist, so darf das nicht darüber hinwegtäuschen, daß zum Beispiel die Berufung von Professoren und Professorinnen auch hier vom Parteibuch abhängig ist. Von daher unterstützen wir euren Kampf an den Universitäten nach eigener, parteiunabhängiger Organisierung.
Ein anderer, wichtiger Ansatzpunkt für unseren Kampf in der BRD und Westberlin ist unsere Vorstellung von Internationaler Solidarität.
Wir haben im letzten Jahr einen breiten Widerstand gegen den Kongreß von IWF und Weltbank in Westberlin mitorganisiert. Dabei haben wir versucht, den Zusammenhang deutlich zu machen zwischen unseren Kämpfen gegen die Macht der Konzerne mit den Kämpfen der Männer und Frauen in den Elendsvierteln von Sao Paulo oder der Guerilla in El Salvador. Wenn von der europäischen Linken ein Früchteboykott gegen das Rassistenregime in Südafrika mitorganisiert wird, so aus der Erkenntnis, daß wir Solidarität mit den Unterdrückten in Südafrika am effektivsten hier im Herzen der Bestie leisten können, indem wir ihre Kaufhäuser denunzieren und angreifen, welche Waren aus Südafrika verkaufen.
Dieser Redebeitrag kann nur ein Anfang sein für gemeinsame Diskussionen und Aktionen.
(Red: Wegen irgendwelcher Sachzwänge durfte dieser Redebeitrag während der Demonstration nicht gehalten werden)
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