oder Martin Jander’s Abwicklung der DDR – Opposition Teil 2
von Bernd Gehrke
aus telegraph 9/1996 ( #91 )
Jander’s Kritik an der IUG
Obgleich Jander in seinem Buch1 eine Fülle von Ereignissen und Fakten über die Initiative Unabhängige Gewerkschaften (IUG) und das betriebliche und gewerkschaftliche Geschehen in der “Wende” zusammenträgt, kommen die Verhältnisse, unter denen sie wirkte, dennoch nicht vor. Die von ihm dargestellten Ereignisse können zwar chronologisch verortet werden, es fehlt jedoch nicht nur ein Überblick über die Gesamtbewegung in den Betrieben, sondern selbst die Darstellung der sich in der Zeit (der “Wende”) verändernden politischen und ideologischen Kräfteverhältnisse in den Betrieben. Diese bildeten aber gerade die konkreten Bedingungen der Diskussionen innerhalb der IUG, wie ihrer Aktivitäten nach außen. Soweit politische Entwicklungen in der “Wende” in Jander’s Buch vorkommen, treten diese nicht als Rahmenbedingungen der IUG auf der betrieblichen oder überbetrieblichen -also auf der für die IUG unmittelbar relevanten- Ebene hervor, sondern entweder nur als bloße “Ereignisse” oder im Kontext allgemein politischer Auseinandersetzungen außerhalb des Handlungsrahmens der IUG. So erfahren die Leserinnen und Leser zwar, daß sich nach der faktischen öffentliche Etablierung oppositioneller Gruppen und dem Beginn der Arbeit des Runden Tisches Anfang Dezember 1989 die politischen Konstellationen “fundamental” verschoben hatten, indem auf den Montagsdemonstrationen die Forderungen nach der “Wiedervereinigung” immer stärker zunahmen, während international die “Kohl-Intiative” zur deutschen Vereinigung bestimmend wurde. Aber dieser Prozeß findet lediglich im Zusammenhang mit der politischen Differenzierung der bisherigen Oppositionsgruppen, die sich eben nicht für eine neue Gewerkschaftsbewegung engagierten oder ihrem Verhalten zu SED, Rundem Tisch usw. Erwähnung (S.190). Welche Bedeutung diese Vorgänge für das Geschehen in den Betrieben hatten, wird jedoch nicht einmal erwähnt, geschweige denn untersucht. So ist es dem Autor denn auch keinerlei Überlegung wert, daß der von ihm an Hand der Ereignisse herausgearbeitete Selbstverständigungsprozeß innerhalb der Initiativgruppe der IUG darüber, was denn unter einer unabhängigen Gewerkschaftsbewegung verstanden werden soll, überhaupt erst nach dem Fall der Mauer begonnen wurde. Das Problem, daß erst nach dem Mauerfall und der damit verbundenen drastischen Veränderung der politischen Verhältnisse in der Gesellschaft, die ja letztlich in dem überwältigenden Votum der Arbeiterschaft der DDR für die schnellste Art der “Wiedervereinigung” mündete, überhaupt eine -wenn auch nur relativ bescheidene und auf der betrieblichen Ebene verbleibende- Bewegung für neue Interessenvertretungen der Beschäftigten zustande kam, taucht in diesem Buch denn auch nicht einmal auf. Das heißt, weshalb sich im Dezember, nach dem anfänglichen Mißerfolg, das Büro der IUG füllte und sich Briefkontakte in alle Gebiete der DDR entwickelten, entsteht für Jander nicht einmal als Frage! So werden die Leserinnen und Leser in diesem Buch auch vergeblich danach suchen, Hinweise darauf zu finden, wie sich das Verhalten der Betriebsleitungen in der Wende als Rahmenbedingung und als Motiv gewerkschaftlicher Aktivitäten auf die betrieblichen Entwicklungen allgemein und auf die der IUG im besonderen Einfluß nahmen. Soweit das Verhalten der Betriebsleitungen -also gerade im westlichen Sinne das Gegenüber per sé- vorkommt, so wird es immer nur als bloße Repräsentation der SED-Kommandowirtschaft dargestellt. Daß die Betriebs- und Wirtschaftsleiter in der hier analysierten Zeit eine höchst aktive Rolle spielten, die für das Problem der Herausbildung unabhängiger Interessenvertretungen der Beschäftigten nach der Maueröffnung von wesentlicher Bedeutung ist, darauf verschwendet Jander keinen Gedanken. Doch gerade die Agonie des stalinistischen Regimes hatte den Betriebsleitern die Möglichkeit geboten, sich aus Befehlsempfängern innerhalb der stalinistischen Kommandowirtschaft in echte Unternehmer zu verwandeln. Die Maueröffnung hatte sie zum Teil sogar dazu gezwungen, um das Überleben der von ihnen geleiteten Betriebe zu sichern. So fanden denn auch massenhaft Geheimverhandlungen der Betriebs- und Wirtschaftsleitungen mit westlichen Unternehmen hinter dem Rücken der und ohne Kontrolle durch die Belegschaften statt, während Entlassungen und Verschärfung des Arbeitsregimes bereits angekündigt wurden. So bildete sich im Dezember auch sehr schnell ein “sozialistischer” Unternehmerverband, ohne daß es auf betrieblicher wie überbetrieblicher Ebene Interessenvertretungen der Beschäftigten gab, während sich die Wirtschaftsministerin der SED/ PDS-Regierung Christa Luft umgehend hinter die Direktoren stellte. Andererseits -und dies unterschlägt Jander, obwohl er darum sehr wohl weiß2– haben zahlreiche Betriebsleitungen von sich aus die Bildung von kooperationswilligen Betriebsräten organisiert, weil es mit dem Wegbrechen von SED- und FDGB-Strukturen im Betrieb häufig keinerlei Ansprechpartner aus den Belegschaften für die Umstrukturierungen der Betriebe gab.
Zumindest diese -für die Darstellung der IUG und jeglicher Aktivitäten auf betrieblicher Ebene in der “Wende” wesentlichen- Vorgänge hätten dem Autor als relevante Bezugsgröße für die Debatten und Entscheidungen innerhalb der IUG ins Auge springen müssen – zumal das Einschwenken der offiziellen SED/PDS-Politik auf die Bildung von Betriebsräten ab Mitte Dezember 1989 hinzu kam. Eben von diesen Entwicklungen waren auch die Debatten in der IUG und insbesondere die über Tempo und Notwendigkeit einer eigenen Organisation entscheidend mitgeprägt.
Durch die konsequente Ausblendung der Entwicklungen aller dieser Bedingungen auf der betrieblichen Ebene als sich verändernde Kontexte der Auseinandersetzungen innerhalb der IUG erspart sich der Autor grundsätzlich die Mühe aufzuzeigen, welche der Handlungen der von ihm dargestellten Akteure aus ihren von politischen Überzeugungen gespeisten Absichten resultieren und welche auf eben diese Umstände zurückzuführen sind. Solche Unterscheidungen, Differenzierungen überhaupt, sind für Jander allerdings auch nicht notwendig, denn seine Kritik an der IUG und die Erklärung ihres Scheiterns ist ganz einfach und reduziert sich auf einen einzigen Punkt, der alles erklären soll: ihre Initiator/innen hatten die falschen Ideen eines “Sozialismus von unten” im Kopf! Ihr Grundfehler war, daß sie einer marxistischen Tradition entstammten, die sich zwar im Konflikt mit der SED befand und diese auch nicht reformieren wollte, aber durch ihren sozialistischen Ansatz und ihr “Selbstverständnis” in eine “Handlungsblockade” unter den gegebenen Umständen führte (S.191f). In diesem Selbstverständnis des Kerns der IUG-Gründer/innen sieht Jander denn auch die Hauptursache des Scheiterns der IUG. Zwar erwähnt er einmal in einem relativierenden Nebensatz, daß es auch andere Ursachen gegeben haben soll (S. 191), aber im ganzen Buch wird man deren Darstellung und Analyse vergeblich finden.3 Die einzige Funktion der Darstellung aller ansonsten so ordentlich zusammengetragenen Ereignisse und Fakten der IUG-Geschichte besteht ausschließlich im Nachweis dieses einzigen Gedankens.
Jander stellt zwar am Schluß seines Buches eine Reihe kritischer Fragen an die IUG: Warum überwarf sich die IUG mit der zunächst weitgehendsten unabhängigen Betriebsgruppe im Gerätewerk Teltow über der -von dieser Gruppe erhobenen- Forderung nach dem Einsatz westlichen Kapitals in der DDR?4 Weshalb wurde von der IUG keine Kampagne gegen Eigentum und Dienstleistungen des FDGB losgetreten, die zu dessen Delegitimierung wichtig war? Weshab lehnte die Gruppe das westdeutsche Gewerkschaftsmodell genauso ab, wie den FDGB? Weshalb verwarf die Gruppe gerade die Betriebsräte, “die einen Neuaufbau betrieblicher Interessenvertretungen unabhängig vom FDGB ermöglichte”? Weshalb wurde solange gezögert, dem Aufbau nach einer neuen Gewerkschaft entgegenzukommen? Und warum entwarf man eine basisdemokratische Satzung, obgleich doch schon von Besucher/innen der Sprechstunden daran Kritik geübt wurde und auch sonst nichts auf eine basisdemokratische Bewegung hinwies? (S. 206f). Doch bei Jander dienen diese durchaus notwendigen Fragen nicht einer konkreten und detaillierten Analyse, die die unterschiedlichen Aspekte, die damit verbunden sind enthüllen, sondern sie weisen schon durch ihren sichtlich unterschiedlicher Charakter darauf hin, daß sie nur rhetorisch gemeint sind und dazu dienen, über einen Kamm geschoren zu werden. Denn die Antwort war schon seit dem Vorwort klar und sie zieht sich durch das gesamte Buch: die DDR-Oppositionellen hatten halt nicht begriffen, wo’s lang zu gehen hat. Doch hier am Schluß des Buches erhält sie eine andere Nuance, indem Jander seine eigene Geschichtsauffassung auf den Punkt bringt: “Diese ‘Rätsel’ aber sind durchaus verstehbar, wenn man die Geschichte der IfUG5 zurückbezieht auf die Geschichten ihrer Gründer” (S.207 – Hervorhebung B. G.). Hier formuliert Jander präzise, daß er die Geschichte einer Organisation reduziert auf die Geschichten eines Teils des Gründungskerns! Doch die Geschichten “der Gründer” zeigen nicht etwa zum Beispiel, daß -abhängig von der Bezugsgröße- mindestens die Hälfte, wenn nicht mehr “der Gründer” aus Gründerinnen bestand, ein bei diesem Thema wohl relativ außergewöhnlicher Vorgang, der einer näheren Betrachtung wert sein sollte. Diese “Geschichten” werden vielmehr ihrerseits reduziert auf eine reine Ideengeschichte, die sich als allgemeine Wunschvorstellung von DDR-Oppositionellen nach einer besseren DDR darstellt (S.207).
Die Geschichte des Aufbruchs- und Abbruchs der Initiative für unabhängige Gewerkschaften findet bei Jander also in der (allerdings auch nur: vermeintlichen!) sozialistischen Ideengeschichte ihrer Gründer/innen ihre ausschließliche Auflösung. Dieser schlichte Blick auf die Geschichte soll nun erklären, warum sich in der “Wende” keine unabhängige Gewerkschaftsorganisation als Alternative zum FDGB bildete. Die Geschichte des Scheiterns der IUG als einer Alternative zum FDGB reduziert die gesamte Problematik auf deren kleinen Initiativkern. Und wir erinnern uns, es waren ihrer zunächst acht, dann zwölf Menschen, die die IUG ins Leben riefen. Von ihnen wiederum hatten einige gar nichts oder nur in höchst relativierter Weise etwas mit einer marxistischen Konzeption eines “Sozialismus von unten” zu tun, wie im Verlauf des Buches zu erfahren ist (S. 192). So werden denn die “falschen” Ideen von vielleicht sechs bis acht Menschen, die nicht einmal über ein vorher ausgearbeitetes marxistisches Konzept für eine unabhängige Gewerkschaftsbewegung verfügten, geschweige denn eine straff organisierte Kadertruppe waren, und die ihre konkreten Vorstellungen einer unabhängigen Gewerkschaftsbewegung überhaupt erst nach dem Mauerfall im Rahmen der öffentlichen Selbstverständigung in den Sprechstunden und damit der öffentlichen Debatte der IUG erarbeiteten (siehe oben, S. 106), zum wesentlichen Erklärungsgrund für die Nichtentstehung einer unabhängigen gewerkschaftlichen Alternative zum FDGB gemacht! Jander’s eigene Darstellung des realen Selbstverständigungs- und Bildungsprozesses der IUG zeigen zudem, daß die von ihm aufgestellte Behauptung der Krise der IUG als einer Selbstverständniskrise ein rein ideologisches Konstrukt ist.
Eine solch schlichter Begriff geschichtlicher Abläufe ist nur der Ausdruck von Jander’s Glauben, daß sich die Geschichte in die richtigen oder falschen Ideen ihrer Akteure oder, wie im vorliegenden Fall, sogar einzelner ihrer Akteure auflösen läßt. (Man erinnert sich: die großen Männer machen die Geschichte! Hier allerdings verhindern sie diese, obwohl sich die Männer als Frauen darstellen! Oder eben deshalb?!) Soweit denn bei Jander die inneren Widersprüche der IUG ins Auge fallen, so stellen sich diese konsequenter Weise ausschließlich dar als Konflikt zwischen den sozialistischen Utopist/innen im kleinen Kern der Initiator/innen und den dann hinzukommenden Besucher/innen und Realist/innen aus den Betrieben.
Doch lediglich festzustellen, daß sich im Jahre 1989/90 sozialistische Vorstellungen nicht durchsetzten und mit den Ansichten der Mehrheit kollidierten, ist banal. Erklärungsbedürftig ist vielmehr deren konkrete Widersprüchlichkeit. Und: gerade bei einem so reduzierten Erklärungsansatz, wie dem von Jander, müßte dann doch gezeigt werden, weshalb eine so kleine Gruppe von Menschen mit “falschen”, marxistischen Ideen in der Lage war, “das Richtige”, also eine gewerkschaftliche Alternative nach Jander’s Duktus zu verhindern? Doch mitnichten findet sich in Jander’s Buch der Versuch einer solchen Erklärung. Das Banale ist schon die Erklärung! Man ist fast geneigt zu vermuten, im Hinterkopf des Autors habe sich immer noch der Leninsatz festgeklammert, daß der Marxismus allmächtig ist. Solche Macht scheint er jedenfalls selbst einer Gruppe von nicht-leninistischen Marxist/innen verliehen zu haben, daß sie in der Lage waren, gegen alle realistischen Ideen “die gewerkschaftliche Alternative zu verhindern”. Schließlich müßte auch umgekehrt danach gefragt werden, warum sich nicht innerhalb oder außerhalb der IUG genügend Träger/innen und Verkünder/innen der “richtigen, realistischen Ideen” fanden, die Willens und in der Lage waren zur Verwirklichung all der von Jander angemahnten Positionen. Warum waren denn die von Jander als “realistisch” eingeschätzten Kräfte etwa in Dresden oder Jena nicht in der Lage, Jander’s Vorstellungen zu verwirklichen? Warum haben sich nicht in Leipzig oder in Berlin neben der und gegen die IUG konkurrierende Vereine zu diesem Zweck gebildet? Doch all diese Fragen, die erst eine differenzierte Analyse der IUG und ihrer Gründer/innen vor dem Hintergrund der Entwicklung der Rahmenbedingungen ermöglichten, stellen sich Jander nicht! Dabei wäre nicht nur die Herausarbeitung des wirklichen Charakters der stattgefundenen Bewegung, sondern auch der objektiven wie subjektiven Grenzen der IUG, wie auch der davon zu unterscheidenden Fehler im Rahmen dieser Grenzen von Interesse.
Doch eben solche Ziele verfolgt Jander nicht. Denn er will mehr: für ihn ist das Scheitern der IUG infolge des “sozialistischen Utopismus” ihrer Initiator/innen nur ein Fallbeispiel für die gesamte DDR-Opposition. “Die exemplarische Nachzeichnung des Versuchs einer Gruppe von politischen Dissidenten aus der DDR soll Probleme und Strukturen sichtbar machen, die ähnlich für alle anderen Gruppen der DDR-Opposition stehen” (S.17). Da zu diesem Zweck alles über den ideologischen Leisten der Abrechnung mit dem sozialistischen Utopismus der DDR-Opposition gebrochen wird, tut es diesem Zweck auch keinen Abbruch, daß ausgerechnet die für die DDR-Opposition am wenigsten “typische” Gruppierung dafür herhalten muß. Wer denn glaubt, bei Jander’s Arbeit handele es sich vorrangig um eine Darstellung betrieblicher und gewerkschaftlicher Themen, irrt. Fast die Hälfte des Buches wird von allgemeinen Erörterungen über die Geschichte und Ideologie der Opposition in der DDR und in Osteuropa, über die Darstellung der Entwicklungen am Runden Tisch oder über ähnliche Problemfelder eingenommen. Diese haben zwar zumeist nichts mit dem untersuchten Gegenstand, der IUG und der konkreten Bewegung in den Betrieben zu tun, sollen aber dem eigentlichen Ziel: der Abrechnung mit der DDR-Opposition, dienen. So finden sich ellenlange Darstellungen über die Hilflosigkeit der DDR-Opposition am Runden Tisch, doch der Zusammenhang zum Problemfeld Betriebe und Gewerkschaften im allgemeinen wird ebensowenig thematisiert, wie zur IUG, die überhaupt nicht am Runden Tisch vertreten war oder sich auch nur um eine Teilnahme bemühte. Das einzige, was bei solchen Erörterungen den Leserinnen und Lesern mitgeteilt wird, sind einfachste Analogieschlüsse der Art, daß die oppositionellen Gruppen am Runden Tisch in eine “Selbstverständniskrise” gerieten und die IUG-Gründer/innen auch (vgl. etwa S. 186f und 191f). Doch während die “Selbstverständniskrise” der Opposition am Runden Tisch im Zusammenhang mit dem Wiedervereinigungsdruck ausgiebig dargestellt wird, wird die wirkliche Krise der IUG bei ihrer Gründungsdiskussion als Selbstverständniskrise nur behauptet (S. 205f).
So beschäftigen sich alle sieben Kapitel des Buches auch stets mit der DDR-Opposition im allgemeinen und sind auch so benannt. “Opposition in der DDR”, “Die Formierung”, die “Herausforderung”, “Anerkennung” und “Krise” “der” Opposition sind etwa die Themen. Die Darstellung einer Entwicklung der IUG muß unter dem Wust ideologischer Erörterungen im allgemeinen herausgefiltert werden, während, wie oben festgestellt, eine Zusammenfassung der realen Entwicklungen für neue Interessenvertretungen in den Betrieben eben ganz und gar fehlt.
Abwicklung der DDR-Opposition
Die Eigentümlichkeit von Jander’s Untersuchungsgegenstand IUG bringt es nun mit sich, daß weder in den Reden, noch in den Papieren der IUG vom Ziel des Sozialismus überhaupt die Rede ist. Im Gegenteil: obgleich sich die von Jander so herausgestellten Initiator/innen als Anhänger/innen des Marxismus begriffen, verfolgten sie eine praktische Organisationspolitik, die dem sogenannten und von den meisten Menschen auch so verstandenen “real existierenden Sozialismus” konsequent entgegengesetzt war, ohne daß zugleich die Fahne eines “anderen Sozialismus” vor sich her getragen wurde. Jander kann denn den spezifisch sozialistischen Charakter des Utopismus seiner Anti-Helden in ihrer praktischen Politik an keiner Stelle seines Buches nachweisen. Es sei im Gegenteil daran erinnert, daß die Initiator/innen im Gründungsaufruf, der am 4. November 1989 während der Millionendemonstration auf dem Berliner Alex von Heiner Müller vorgelesen wurde, aus Gründen des Realismus sogar auf die wesentliche und für sie selbstverständliche Forderung nach dem Streikrecht verzichteten, um “die Werktätigen nicht zu überfordern”, die keine “polnischen Verhältnisse” wollten. Jander hatte sogar berichtet, daß selbst der Aufruf der Initiatoren der Gewerkschaft “Reform” viel politischer war, als der der IUG (S. 89).
Bei genauem Hinsehen findet sich, daß der Marxismus der IUG-Initiator/innen zwar deren persönliche Ansicht war, aber nicht etwa im Kampf für eine “sozialistische Richtungsgewerkschaft” seinen Ausdruck fand, wie es sie in verschiedenen Ländern der Welt schließlich gibt. Das real praktizierte Gewerkschaftsprojekt, welches von den Initiator/innen im Laufe des Selbstverständigungsprozesses der IUG erarbeitet und von Jander als utopistisch abgekanzelt wird, ist das Projekt einer basisdemokratischen, an Bürgerbewegungen orientierten Gewerkschaftsbewegung.6 So kann Jander nur darauf verweisen, daß die sozialistischen Auffassungen des kleinen Kerns der IUG-Gründer/innen sich eben in diesem basisdemokratischen Ansatz und in nichts anderem ausdrückten. “Die Vorstellung eines ‘Sozialismus von unten’, oder wie Marx gesagt hätte, die ‘freie Assoziation der Produzenten’ blieb konturenlos, er richtete sich, radikal in der Kritik am zentralistischen FDGB, radikal auch gegen alle anderen Formen von institutionalisierter Interessenvertretung, solange sie nicht von ‘Arbeiteraktivs’ basisdemokratisch selbstbestimmt wurden (S. 205 – Hervorhebung B.G.). In diesem Satz wird sowohl ausgedrückt, daß es jenseits dieses basisdemokratischen Gewerkschaftskonzeptes gar keinen “Sozialismus von unten” gegeben hat, wie ebenfalls, daß sich die Verweigerung des IUG-Kerns durchaus nicht gegen Institutionalisierungen schlechthin richteten, sondern gegen solche, die auf der Institutionalisierung von Stellvertreterpolitik beruhten. Doch eben diese Gleichsetzung von Repräsentation und Institutionalisierung durchzieht ansonsten Jander’s Arbeit ebenso durchgängig, wie die zwischen einer abstrakten demokratischen Republik “an sich” und der bürgerlich-kapitalistischen. Diese Gleichsetzung beginnt auch sofort wieder im nachfolgenden Satz zu dem eben zitierten. “Anti-Institutionalismus” ist einer der zentralen Vorwürfe gegenüber der IUG, wie gegenüber der DDR-Opposition insgesamt.
Daß das basisdemokratisch-bürgerbewegte Konzept der IUG-Initiator/innen 1989/90 in der DDR gescheitert ist, steht fest und muß den Ausgangspunkt jeglicher Untersuchung bilden. Warum es gescheitert ist, ob ein solches Konzept überhaupt und wenn ja welche Perspektiven es enthält, ist das eigentliche zu beantwortende gewerkschaftspolitische Problem, welches Jander hätte beantworten müssen.. Zu dessen Klärung hätte es einer schonungslosen, aber differenzierten Analyse bedurft, die die konkreten Bedingungen der DDR in der “Wende” in ihre besonderen und allgemeinen Züge hätte auflösen müssen. Doch bei Jander findet eben eine solche Analyse nicht statt, weil er die ideologische Keule des Anti-Sozialismus als Vehikel benutzt, um alle basisdemokratischen Politik-, Bewegungs- und Organisationsansätze mit dem Bannfluch des Utopismus zu belegen. Zwar will er die Fragestellung seiner Arbeit auf “die Vorerfahrungen, Traditionen und Umstände” richten, “die dazu geführt haben, daß oppositionelle Gruppen in der Wende eine selbstkonstituierte Alternative zur totalitären DDR nicht hervorbringen konnten” (S.52). Doch wie bei der IUG im besonderen ist die Auflösung dieses Rätsels im allgemeinen wiederum ganz einfach: weil die oppositionellen Gruppen sich mit der “Selbstrechtfertigung der DDR als antifaschistischer Staat” identifizierten, dieses Ideal einklagten und “noch im Sommer 1989 mehrheitlich das Idealbild eines demokratischen Sozialismus vertraten” (S. 51f), mußten sie aufgrund dieser “Wunschvorstellungen selbst” im Verlauf der “Wende” in eine Krise geraten. Doch während Jander zumeist auf die bloß faktische Erklärung abhebt, daß die DDR-Opposition im allgemeinen und die IUG im besonderen mit ihren “utopischen Wunschvorstellungen” eines demokratischen Sozialismus etwas anderes anstrebten als das Gros der Bevölkerung, gibt er auch eine substanzielle, seine eigene Ideologie erhellende Erklärung, die in seinem Buch als genereller Maßstab für die Bewertung oppositionellen Handelns in der DDR angelegt wird: “Außerdem hat das utopische Denken in den oppositionellen Gruppen vor der Wende Konzeptionen hervorgebracht, die nur mehr oder weniger auf die Selbstkonstitution einer demokratischen Gesellschaft gerichtet waren. Die verschiedenen Handlungentwürfe beinhalteten in der Utopie tendenziell die Vorstellung einer Homogenität von Staat; Gesellschaft und Individuum mit dem Ziel einer reformierten DDR. Diese Vorstellungen gerieten in Konflikt mit den in der Wende entstehenden neuen Funktionsprinzipien einer demokratischen Republik” (S. 52 – Hervorhebung B.G.). Was Jander unter der bei der DDR-Opposition unterstellten Homogenität versteht, erklärt er nicht, unterstellt sie nur. Dafür teilt er den Leser/innen mit, daß auch die “realsozialistischen Machthaber” eine solche Homogenität proklamierten, womit es “per definitionem ‘Opposition’” unter den stalinistischen Regimes nicht geben konnte (S.23). Wie richtig das Wiederkäuen solch einfacher Argumentationsweisen der SED-Oberen auch sein mag: Mit solcher Art Unterstellungen von Identitäten zwischen den Herrschenden und der Opposition, die z.B. die diskursive Dimension sozialer Gleichheit von der Dimension der politischen Konstitution weder unterscheiden will, noch -vermutlich- unterscheiden kann, wird die DDR-Opposition stets in die Nähe des Regimes gerückt, um ihr die Demokratiefähigkeit abzusprechen. Damit andererseits auch niemand Zweifel hat, welche Art Demokratie Jander als demokratische Republik schlechthin unterstellt, läßt er seine Leserinnen und Leser jedenfalls wissen, daß es “unwahrscheinlich” scheint, “daß oppositionelle Gruppen, die ihre Dissidenz zur herrschenden Politik der SED vornehmlich aus einer Berufung auf eine Utopie Sozialismus herleiten, am Konstitutionsprozeß einer demokratischen Gesellschaft wesentlichen Anteil haben konnten. Die in der Utopie erwartete unmittelbare Teilhabe jeden Bürgers an den Regierungsgeschäften blockierte den Prozeß der Selbstinstitutionalisierung der Gruppen ebenso wie die Förderung des Aufbaus entsprechender Institutionen der Gesellschaft (S. 53 – Hervorhebung B.G.). Obgleich Jander an verschiedenen Stellen seines Buches darauf hinweist, daß die Sozialismus-Vorstellungen, die in der DDR-Opposition als “Ideal” vorschwebten zwar unterschiedliche Nuancen aufwiesen, aber immer Optionen eines demokratischen Sozialismus beinhalteten, hält er die argumentative Auflösung solcher Unterstellungen, die den nach seiner Darstellung grundsätzlichen Gegensatz demokratisch-sozialistischer Positionen zum Konstitutionsprozeß einer demokratischen Republik schlechthin logisch-begrifflich erklären, in seinem Buch an keiner Stelle für notwendig. Wie in der eben vorgestellten Textstelle wimmelt es anstelle von Argumenten nur von den Ideologemen einer Demokratie an sich, die doch immer nur die bürgerlich-kapitalistische der Bundesrepublik meint.
Im Stile eben dieses primitiven Antisozialismus erfolgt die Gesamtabrechnung mit der DDR-Opposition. Bereits im Vorwort macht Jander deutlich, daß diese Auseinandersetzung auch mit einer Abrechnung seiner eigenen politischen Vergangenheit verbunden ist. Er, der einst selbst ”romantisch, existenzialistisch und sozialistisch” dachte und auf eine “demokratisch-sozialistische Traumrepublik” gehofft hatte, fand “langsam ein prinzipiell bejahendes Verhältnis zur politischen Demokratie der Bundesrepublik” (S. 11ff). Diese Entwicklung hatte einen erheblichen Schub dadurch erfahren, daß seine Freunde in der DDR, denen er die Rolle zugedacht hatte durch den Sturz des Stalinismus auch den Antisozialismus in der Bundesrepublik zurückzudrängen, ihn enttäuschten und nicht “Ministerpräsidenten, Gewerkschaftsvorsitzende, Universitätspräsidenten, Fernsehdirektoren” wurden oder “was sonst noch an lukrativen und einflußreichen Positionen” vorhanden war, besetzten (S.11f). Da er den alternativen Sozialismus seiner Freunde im Osten offenbar ohne diese Posten gar nicht denken konnte, kann man sich vorstellen, wie enttäuscht Jander erst sein mußte, als er bei der Untersuchung über die IUG gesagt bekam, daß man gar nicht die Absicht hatte zum neuen Gewerkschaftskader zu werden (S.14). Er selbst kam zu der Erkenntnis, daß nur eine Opposition den Stalinismus in Osteuropa überwinden konnte, die die Schaffung eines ”pluralistischen Systems” betrieb (S. 23). Und unter einem pluralistischen System vermag Jander allerdings nichts anderes zu verstehen, als das heutige westlich-kapitalistische. Dies an Hand des Scheiterns der Vision von einem demokratischen Sozialismus der DDR-Opposition nachzuweisen, ist sein Buch geschrieben.
Daß die akribische Sammlung der Fakten und Ereignisse, die akkurate Erbsenzählerei bei der Entwicklung der Details der IUG durch den Autors zugleich dort in grobe Geschichtsfälschung umschlagen muß, wo es um gesellschaftliche und historische Zusammenhänge geht, kann nicht wundern, weil die substanzielle Auseinandersetzung mittels solch platter Unterstellungen erfolgt, wie sie oben dargestellt wurden. Sie entsprechen denn auch durchaus dem Argumentationsniveau des DDR-Staatsbürgerkundeunterrichts: weil im Westen der Klassenfeind ist und Tante Frieda aus dem Westen kommt, muß Tante Frieda als Klassenfeind behandelt werden. Deutlich wird, daß Janders Annahmen hinsichtlich des demokratischen Sozialismus nicht etwa die Darlegung konkreter, also wirklicher Widersprüchlichkeiten der DDR-Opposition beinhalten, sondern lediglich zur Vermutung Anlaß geben, er widerlege nur seine eigenen ehemaligen “romantischen, existenzialistischen und sozialistischen” Anschauungen.
Fortsetzung folgt
1 siehe auch Teil 1 dieses Artikels: Martin Jander, Formierung und Krise der DDR-Opposition. Die “Initiative für unabhängige Gewerkschaften” – Dissidenten zwischen Demokratie und Romantik, Akademie Verlag, Berlin 1996, 269 Seiten, 98,00 DM
2 Vgl. etwa: Jürgen Kädtler/ Gisela Kottwitz, Betriebsräte zwischen Wende und Ende in der DDR, in: Auferstehen aus Ruinen. Arbeitswelt und Gewerkschaften in der früheren DDR, Marburg 1991, S. 158. Beide Autor/innen haben mit Jander in einem gemeinsamen wissenschaftlichen Projekt die “Wende” in den DDR-Betrieben untersucht. In diesem zitierten Buch hatte auch Jander einen Artikel über eine Betriebsratsgründung veröffentlicht.
3 Einzige Ausnahme bleibt Jander’s ausführliche Darstellung mangelnder Unterstützung der IUG aus dem Westen, vor allem die fehlende Unterstützung der DGB-Gewerkschaften (S. 152-156).
4 Diesen -von mir bisher nicht erwähnten- Streit beider Gruppen hat Jander auf den Seiten 110 bis 112 dargestellt.
5 Mit dieser von den Initiator/innen ursprünglich gewählten Abkürzung, die aber von den hinzukommenden Betriebsleuten abgelehnt wurde, die sich für “IUG” entschieden, bezeichnet Jander durchgängig diese Initiative. Seit Dezember 1989 hat sich dann letztere Abkürzung bei “Freund und Feind” eingebürgert. An dieser unbedeutenden Kleinigkeit wird die Ferne des Autors zu seinem Gegenstand markant illustriert. Es ist die gleiche Distanz, die westdeutsche Agitatoren noch heute “der STASI” statt “die STASI” sagen läßt.
6 Diese Formulierung wählt auch Jander durchaus an den konkreten Stellen, die die Abläufe der Diskussion schildern (vgl. S. 146).
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