Soll man Kindern die Arbeit verbieten oder ihnen ein Recht auf Arbeit zubilligen?
von Steve Sello
aus telegraph 9/1996 ( #91)
Red: Bei der gegenwärtig von den bundesdeutschen Medien betriebenen Kinderschänderhysterie geht es natürlich darum, mit Sex and Crime von Sozialabbau und Tarifkämpfen abzulenken. Deshalb stellt in diesen Organen der veröffentlichten Meinung auch niemand die ganz einleuchtenden Fragen, wer denn an der Kinderprostitution verdient und aus welchem Grunde mit der sexuellen und anderweitigen Ausbeutung Geld gemacht werden kann. Von den Rechten der Kinder ganz abgesehen. Steve Sello (16) ist zusammen mit den K.R.A.T.Z.A.-Leuten in Nikaragua gewesen und schreibt über das, was er unter den dortigen, weit krasseren Verhältnissen erfahren hat.
Kinderarbeit ist wieder ein häufig diskutiertes Thema. Weltweit sind ca. 200 Millionen Kinder zur Arbeit gezwungen und die meisten von ihnen sind illegal tätig. Die Arbeitsbedingungen sind oftmals miserabel und schaden der Gesundheit. Und obwohl manchmal das Gegenteil behauptet wird, gibt es auch in Deutschland Kinderarbeit. Es geht um die Ursachen von Kinderarbeit und die verschiedenen Sichtweisen auf den Umgang mit diesem Problem. Da sind einmal die Gewerkschaften und Kinderschützer, die das Arbeiten verbieten wollen. Das „Internationale Tribunal gegen Kinderarbeit“ verurteilt alle, die Kinderarbeit unterstützen. Und es gibt auch die Kinderbewegung in Lateinamerika, die bessere Arbeitsbedingungen fordert. Das Anliegen von allen genannten Initiativen ist der Schutz vor Ausbeutung und eine Verbesserung der schlechten rechtlichen und sozialen Situation der Kinder.
Bei der Frage nach den Ursachen sind sich fast alle einig. Die Armut ist es, die die Kinder zwingt zum Lebensunterhalt der Familie beizutragen. Die in Folge der Arbeitslosigkeit der Eltern in wirtschaftliche Notlage geratenen Familien sind darauf angewiesen, daß ihre Kinder die Familie ernähren. Sie werden eingestellt, da sie billiger und flexibler sind und sich gegen miserable Arbeitsbedingungen kaum wehren können. Wenn die Kinder schuften gehen, sinken die Lohne, und die Erwachsenen haben noch geringere Chancen auf Arbeitsplätze. Dieser Prozeß bedeutet eine weitere Verarmung. Der Schulbesuch wird eingeschränkt oder unmöglich. Und durch die fehlende Bildung können die Kinder kaum diesem Kreislauf entkommen. „Wir arbeiten auf der Straße, in den Häusern und auf dem Land, weil unsere Eltern keine Arbeit haben und manchmal nicht arbeiten wollen, weil wir unsere Arbeit als ein Recht begreifen und weil wir jemand sein wollen in der Welt und weil es uns gefallt“, formuliert die Kinderbewegung Nicaraguas ihre Situation. Ihre daraus folgenden Anliegen sind, „daß es weniger Elend in unserem Land gibt, daß unsere Eltern Arbeit haben und daß unsere Ernährung garantiert ist.“
Es ist klar, daß die Kinder, die anstatt der Erwachsenen den Lebensunterhalt verdienen, das tun müssen, was sich bietet. So sind sie oft gezwungen für lächerliche Lohne unter denkbar schlechten Bedingungen ihrer Tätigkeit nachzukommen, die nicht selten zu körperlichen und seelischen Folgeschäden führen. Teilweise werden in asiatischen Ländern die Kinder von ihren Eltern an Unternehmer und in die Prostitution verkauft. Wenn nun Leute ein Kinderarbeitsverbot fordern, dann geschieht das, um den oben beschriebenen Kreislauf zu unterbrechen. Nur durch ein Verbot sei gewährleistet, die Arbeitsbedingungen zu kontrollieren und zu garantieren, daß die Erwachsenen wieder Arbeit bekommen. Es stelle außerdem den uneingeschränkten Schulbesuch sicher.
Begriffen wird das Verbot dieser Arbeit als eine soziale Errungenschaft, die zum Schutz vor Ausbeutung eingeführt wurde. Im Rahmen der weltweiten Deregulierungspolitik, welche von Senkung der Kosten der Arbeit spricht, soll dieser soziale Standard – wie so viele andere – ausgehöhlt werden. Die Bundesregierung und Unternehmerverbände wollen die – vom Internationalen Währungsfonds und von der EU diktierte – Politik vor allem durch Lohnkürzungen sowie zu Lasten der Ausgaben für Bildung und Gesundheit durchsetzen. So sind nicht nur die Länder der „Dritten Welt“ sondern auch Deutschland, wo in letzter Zeit die Zunahme von Kinderarbeit beobachtet wurde und die anderen europäischen Staaten betroffen. Ein Kinderarbeitsverbot will auch diesem Prozeß Einhalt gebieten. In diesem Zusammenhang ist interessant, daß Arbeitsminister Norbert Blüm, der sich mehrmals öffentlich für eine weltweite Achtung der Kinderarbeit aussprach, einen Gesetzesentwurf einreichte, durch den Beschäftigung von Kindern zwischen 13 und 15 Jahren (über bereits bestehende Ausnahmeregelung hinaus) weiter legalisiert werden soll. Blüm beruft sich dabei auf die EU-Richtlinie 94/33/EG, wonach Kinderarbeit ab 13 Jahren erlaubt ist. Das allerdings widerspricht dem von Deutschland 1973 unterzeichnetem Übereinkommen 138 der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO), in dem es heißt: „Das Mindestalter (für die Zulassung zur Beschäftigung oder Arbeit) darf nicht unter dem Alter, in dem die Schulpflicht endet, und auf keinen Fall unter 15 Jahren liegen.“
„Trotzdem sollten Boykott- und Verbotsaufrufe nicht unterschiedslos erfolgen“, gibt Dr. Petra Boxler von terre des hommes zu bedenken. „Nicht selten bekämpfen solche Maßnahmen eher die arbeitenden Kinder als die Kinderarbeit.“ Oft seien die Kinder dann gezwungen auf andere Einkommensquellen mit noch mehr Ausbeutung auszuweichen. Hinzu kommt, daß sie ihre Arbeit dann illegal, d. h. mit noch weniger Schutz, verrichten müssen.
Immer wieder fordern die Kinder Nicaraguas ihre Rechte ein. Zum Teil sind es grundlegende Menschenrechte, die ihnen da nicht zugestanden werden. So fehlt es an kostenloser Gesundheitsfürsorge und Bildung, einer Sicherung der Grundbedürfnisse u.v.m. Besonders stark vermissen sie die Würdigung bzw. Anerkennung ihrer Arbeit und einen Schutz vor Gewalt, der sie bei der Arbeit von Seiten der Polizei und der Bevölkerung ausgeliefert sind. Aber auch andere Regeln, die in einem Sozialstaat wie Deutschland noch selbstverständlich sind, sind ihnen wichtig. Sie wünschen sich Raum für Erholung, ein Weinachtsgeld und verlangen von der Regierung, daß Schulen und Krankenhäuser gebaut werden. „In Arbeitsverhältnissen ohne Ausbeutungscharakter müssen die Arbeitszeiten besser geregelt und der Arbeitsschutz verbessert werden, so daß parallel zur Arbeit eine Schule besucht werden kann. Es müssen Schul- und Bildungsmaßnahmen angeboten werden, die die Arbeit von Kindern unterstützend begleiten.“ Es ist außerdem unbedingt notwendig den Kindern einen gerechten Lohn zu zahlen. Bei gleichem Lohn würden wieder die „leistungsfähigeren“ Erwachsenen eingestellt.
Da sie gezwungen sind arbeiten zu gehen, kämpfen sie also darum, daß dies unter den besten möglichen Bedingungen geschieht. Darin benötigen sie dringend Unterstützung, denn die Regierungen und Unternehmer ihrer Länder werden kaum freiwillig solchen kostspieligen Änderungen zustimmen.
In einer eigenartig distanzierten Art schrieben lateinamerikanische Kinder in einer Zeitung über sich selbst: „Aber trotz der bestehenden Probleme haben sie wie alle Kinder Träume und Hoffnungen für ihr Leben. Etwa Lesen und Schreiben und einen praktischen Beruf lernen, Erfolg im Sport haben, die Schule besuchen, ein Künstler sein, Geld zu haben.“ Hier wird deutlich, daß eine Abschaffung der Kinderarbeit erforderlich ist und daß die Kinder von der existentiellen Notwendigkeit der Arbeit befreit werden müssen, um solche Träume zu ermöglichen. Nur müssen sich dahingehende Maßnahmen gegen die Unternehmer, die Ausbeutung betreiben, und nicht gegen die Kinder richten. Die Ausbeuter müssen entrechtet und wirtschaftliche Strukturanpassungsprogramme von IWF und Weltbank müssen so umgestaltet werden, daß sie nicht zu Lasten der sozial Schwachen und Kinder gehen. Mit einem Kinderarbeitsverbot kann man auf die Regierungen, die soziale Regelungen nur widerwillig hinnehmen, Druck ausüben.
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