Kleines Land mit „Großem“ Staat

Eine wirtschaftlich-soziale Skizze Kroatiens.

von Goran Ivanovic
aus telegraph 9/1996 ( #91)

Während der kroatische Präsident Franjo Tudjman versucht, mit Wirtschaftsprognosen seinem Staatsvolk das Blaue vom Himmel herunterzuholen (Ankündigungen eines 10%-igen Produktionszuwachses im Jahr 1996), sieht es in Kroatien in Wirklichkeit alles andere als rosig aus. Obwohl für Januar 1996 die Industrieproduktion noch eine „positive Null“ gegenüber Ende 1995 einhalten konnte, verbucht sie im Vergleich zu allen Indizien der vergangenen Kriegsjahre einen Verfall. Nichtauszahlung der Löhne ist ein chronisches Problem. Nach Angaben des Finanzministeriums hatten im Februar 1996 insgesamt 59.000 Personen 6 Monate oder länger keinen Lohn erhalten! Sogar bei 133.887 ArbeiterInnen wurden die Löhne mit 1-2 Monaten Verspätung ausgezahlt. Wenn man die Familienmitglieder hinzurechnet, stellt sich heraus, daß jeder Zehnte monatelang ohne regelmäßiges Einkommen auskommen mußte.

Nachkriegsarbeitslosigkeit

In den letzten 5 Jahren sind in Kroatien bei einer Bevölkerung von insgesamt 4.5 Millionen (Vorkriegsstatistik) fast eine halbe Million Menschen arbeitslos geworden. Im Jahr 1995 wuchs die Arbeitslosigkeit um 9.4%. Bei dem fortschreitenden Arbeitsplatzverlust werden monatlich 5.000 ArbeiterInnen entlassen. Man kann sich ausrechnen, daß im ersten Quartal 1996 jeden Tag 536 Menschen ihre Arbeit verloren, während im gleichen Zeitraum nur 234 einen Job fanden. Die Behörden versuchen diese neue Welle der Arbeitslosigkeit mit der Entmobilisierung der kroatischen Armee zu rechtfertigen. Man muß bedenken, daß vor einigen Jahren viele Arbeiter freiwillig zur Armee gegangen waren, um eine Perspektive jenseits der zusammenfallenden Betriebe zu suchen. Ein Monatssold von 1.000 DM ist kein Geld, wofür man leichtsinnig das Leben aufs Spiel setzt – außer vielleicht unter kroatischen Verhältnissen, wo der Mindestlohn den ganzen Krieg hindurch bei umgerechnet 200 DM lag, während der einfachste Warenkorb für eine vierköpfige Familie oftmals zweimal soviel kostete. Mit der Entmobilisierung vieler Armeeinheiten treten nun diese „verdeckten Arbeitslosen“ zu Tage.

Die Produktion schrumpft

Offiziellen Ziffern zufolge gibt es in Kroatien 240.000 Arbeitslose, hinzu kommen etwas mehr als 30.000 entmobilisierte Soldaten, für die die Regierung besondere Vergünstigungen bei der Wiedereingliederung vorgesehen hat. Fragt sich nur, wo die Leute eingestellt werden können. Die Metallurgie befindet sich in einer besonders tiefen Krise, um den Maschinen- und Schiffbau ist es nicht besser bestellt, auch die Textilindustrie ist in einer schwierigen Lage. Der restlichen Wirtschaft geht es nicht viel besser. Die letzte Revalvierung der kroatischen Währung (Kuna), statt der gewünschten stimulativen Abwertung, wird auch die noch übriggebliebenen stark exportorientierten Konzerne in die Zahlungsunfähigkeit treiben. Diese haben zu wenig einheimische Währung in den Banken, um die erwirtschafteten Devisen umtauschen zu können. Die Ausfuhr ist um mehr als 20% gefallen, während der Einfuhr von Konsumgütern und Erstazteilen gleich geblieben ist. Die Einfuhr von Ausrüstung und Anlagen, die für Erneuerung und eventuelles Wirtschaftswachstum notwendig sind, stagnierte. Inlandskredite werden kaum helfen, die Wirtschaft anzukurbeln, da der durchschnittliche Zinssatz immer über der wucherischen 30%-Marke liegt, was keine Produktion aushalten kann.

Der Staat hat das Geld

Sehr auffällig sind in Kroatien die enormen staatlichen und öffentlichen Ausgaben, die fast zwei Drittel des Bruttonationalprodukts ausmachen und inoffiziell auf 15 Milliarden DM geschätzt werden. Diese können nur mit vollwertigem Geld, Steuern, Umlagen und Abgaben von der Wirtschaft und den Arbeitenden abgebaut werden. Bei der verbreiteten Zahlungsunfähigkeit muß die Kette der Nichtzahlungen irgendwo reißen, wobei der Staat der erste ist, der ausstehende Rechnungen nicht begleicht. Der Premierminister ist von einer „harten“ Währungspolitik nicht abzubringen, die politische Entscheidung für eine Neuaufteilung der Mittel, für einen kroatischen „New Deal“ also, ist für ihn nicht drin. Die heilbringende „Devisenernte“ der Touristensaison an der Adria wird wohl ausbleiben. Auch werden ausländische Investitionen nicht in stärkerem Maße nach Kroatien fließen, bis die entsprechende Gesetzgebung nicht nach internationalen Normen geregelt ist.

Wendehälse und Kriegsgewinnler

Mehr als bemerkbar ist in Kroatien die existentielle Verunsicherung aller, die von ihrer Arbeit leben; die allgemeine Verarmung umfaßt nicht nur IndustriearbeiterInnen, sondern auch immer mehr ÄrztInnen, LehrerInnen und andere Staatsbedienstete. Die angekündigte Umwandlung des „gesellschaftlich-sozialistischen“ Eigentums zu Privateigentum hat zu einer neuen Verstaatlichung geführt. Eine neue Schicht reicher Apparatschiki ist entstanden, die zusammen mit schlauen Maklern und Kriegsgewinnlern eine zahlenmäßig kleine Klasse von Neureichen bildet. Die Mittelschicht wurde ausradiert und ging in der Mehrheit verarmter BürgerInnen mit ständig sinkender Kaufkraft auf, was an das Wohlstandsgefälle manch eines südamerikanischen Landes erinnert. Die krisenhafte Wirtschaftslage hat zu einer neuen Welle kroatischer Wirtschaftsmigration geführt: insbesondere junge und gebildete Leute verlassen das Land in Richtung Übersee, was die Regierung mit typischer Arroganz hartnäckig dementiert.

Demoralisierte Arbeiterschaft

Besonders ignorant ist die Beziehung der Regierung zu den Gewerkschaften und den Rechten der ArbeiterInnen überhaupt. Proteste der ArbeiterInnen werden in den weitgehend gleichgeschalteten Medien marginalisiert. Die Lethargie der durchschschnittlichen ArbeiterInnen drückt sich in der Überlegung aus, daß es besser ist, überhaupt eine Arbeit zu haben, als gute Arbeitsbedingungen oder einen angemessenen Lohn zu haben. Die Gewerkschaften sind machtlos und bestehen sogar auf Arbeitszeitverlängerung.

In den Verhandlungen mit der Regierung haben die Gewerkschaften einen Mindestlohn von 1.100 Kuna (ca. 300 DM) durchgesetzt, obwohl noch nicht alle Kollektivverträge unterschrieben sind. Die einzige Methode, die Auszahlung der Löhne zu erreichen, ist zu streiken. Bisher waren die Streiks immer regional begrenzt. Die Gewerkschaften im öffentlichen Dienst sind etwas stärker, weil dort die ArbeiterInnen im Gegensatz zu den „abwicklungsgefährdeten“ Betrieben sichere Arbeitsplätze haben. Ziemlich erfolgreiche Streiks wurden von den HochschuldozentInnen und LehrerInnen der Sekundarstufe durchgeführt, aber viele andere, wie die EisenbahnerInnen, blieben bei der Androhung von Streiks. Die Konzerne nutzen die Schwäche der Arbeiterorganisationen aus und schrecken vor Massenentlassungen bei der Sanierung von Betrieben nicht zurück. Es ist keine Seltenheit, daß Betriebe mehrmals den Bankrott erklären: jedes Mal werden die Arbeitenden für den Bankrott verantwortlich gemacht, was sie mit neuen Entlassungen bezahlen, bis nur eine Mindestbelegschaft bleibt. Gleichzeitig bleiben die Garnituren in den Chefetagen gegenüber dem früheren Stand oft unverändert.

Die „Geduld“ der ArbeiterInnen ist nur mit der Angst vor dem allmächtigen Arbeitgeber bzw. Staat zu erklären. Die Regierung hat sich bemüht, die stärkste Gewerkschaftszentrale SSSH (Bund der Unabhängigen Gewerkschaften Kroatiens) zu zerschlagen. Diese hat nach eigenen Angaben fast eine halbe Million Mitglieder und Sympathisanten und hat bisher als einzige Gewerkschaft wesentliche Erfolge bei der Vertretung der Interessen der Arbeitenden erzielt. Es ist zu einem Wechsel an der Spitze der Gewerkschaft gekommen; nun wird die empfindliche Frage des größtenteils von der früheren „sozialistischen“ Gewerkschaft geerbten Gewerkschaftseigentums behandelt.

Die Erfahrungen der Gewerkschaften in den westeuropäischen und anderen Industrieländern sind in Kroatien kaum anwendbar, da die kroatische Regierung die gewöhnlichen Spielregeln nicht anerkennt: das neue Arbeitsgesetz hat sie mit verschiedenen drakonischen Elementen gespickt und den eigenen Interessen entsprechend zurechtgeschrieben.

Trotz Kroatiens wirtschaftlichem, verkehrstechnischem und sonstigem Potential haben es seine PolitikerInnen an Europa vorbei in eine Sackgasse geführt. Dieses „kleine Land für einen großen Urlaub“ (Werbeslogan der kroatischen Tourismusbranche) ist nicht so klein, wie es die Herrschenden mit ihrem Eigeninteresse klein gemacht haben.

(von der Redaktion etwas gekürzt und bearbeitet)

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