Mediales

Mythen in Tüten zum X.mal

von Knobi
aus telegraph 9/1996 ( #91 )

Wie verwirrend muß das Leben denn noch werden? Die Einen proklamieren das Zeitalter der Technik mit immer größeren (& idiotensicheren) Schnickschnack und auf der anderen Seiten ziehen immer mehr die Mythen um Personen und Dinge die Menschen in ihren Bann – also Vergangenheitsbewältigung mit der Rolle rückwärts. Nicht daß dies irgendwie einer Bewertung unterliegen sollte, aber mir scheint, daß diese ach so schnelle Zeit das Tempolimit überschritten hat.

Vor über 30 Jahren machte das Verschwinden von Che Guevara Schlagzeilen und ließ die Gerüchteküche brodeln. Selbst Biographen waren bis dato nur auf Spekulationen angewiesen. Jetzt ist das Geheimnis gelüftet: P. I. Taibo II / F. Escobar / F. Guerra; Das Jahr, in dem wir nirgends waren – Ernesto Che Guevara und die afrikanische Guerilla (Edition ID-Archiv / 253 S. / 29,80). Zum ersten Mal wird hier ein unveröffentlichtes Tagebuch-Manuskript des Che über den Guerillakampf im (damaligen) Kongo veröffentlicht. Ergänzt mit Interviews der Zeitzeugen und Kampfgenossen ist dieses Buch ein Dokument über das Scheitern einer exportierten Revolution. Den Mythos Che Guevara wird es nicht berühren, aber ein Stück weit den Mythos Revolution, zumindest was die Theorie betrifft.

Selbst Der Spiegel (vom 16.9.96) bemächtigte sich des Mythos Che Guevara für eine neuerliche Serie über den Revolutionsheld, allerdings ohne die bisher neuen Fakten groß zu berücksichtigen. Anscheinend mögen selbst Bürgerliche nicht an Feind- und/oder Freundesbilder rütteln – solange sie heute keine Gefahr mehr bilden können.

Zur Buchmesse in Frankfurt/M. ist ein Spiegel special (164 S. / 8,50 DM) erschienen, der weniger mit interessanten Rezensionen aufwartet, als vielmehr mit einem Schmankerl für PC-FreundInnen mit CD-Rom-Laufwerk. Das Heft enthält eine CD-Rom mit knapp einer Million lieferbarer Buchtitel aus Deutschland, Amerika, Holland und Spanien und einigen ganz gelungenen redaktionellen Beiträgen, wie über Poeten und Drogen oder über das Schreibwerkzeug diverser SchriftstellerInnen mit Fotos von Herlinde Koelbl.

Nach einer längeren Pause ist die anarchosyndikalistische Zeitung direkte aktion (16 S. / Zeitungsformat / 2,50 DM) wieder erschienen mit Berichten über die Chaostage ’96, Social Beat, einem Nachruf auf den Anarchisten Albert Melzer uvm.

Die Auswertung der Buchmesse ist natürlich noch nicht erfolgt, aber über eine literarische Neuerscheinung habe ich mich besonders gefreut: Alejandro Jodorowsky; Wo ein Vogel am schönsten singt (Insel Verlag, Ffm / 463 S. / 48,–DM). Jodorowsky wurde bekannt und berüchtigt in (West-) Deutschland in den 70er und 80er Jahren mit exzentrischen Filmen. Als Sohn russischer Einwanderer in Chile geboren, lebte er in Paris, wo er mit R. Topor und F. Arrabal das „Panische Theater“ gründete, er schrieb für die bekanntesten Comiczeichner die Storys und vieles mehr. Der Roman ist die phantastische Geschichte seiner Vorfahren, die als Ostjuden quer durch Europa getrieben, sich Anfang dieses Jahrhunderts in Lateinamerika wiederfinden. Und jeder dieser Ahnen ein Freak für sich: tarotkundige Löwenbändiger, verrückte Heilige, die von Generation zu Generation einen kaukasischen Rabbi in sich als Familiengeist beherbergen und dergleichen mehr. Ein Meisterwerk surrealistischer Erzählkunst in atemberaubender Geschwindigkeit durch Zeit und Raum. Brutal, skurril und leidenschaftlich – und keine einzige Zeile ist langweilig, ordinär oder moralisch. Jodorowsky – ein Kosmopolit zwischen allen Stühlen. Ich bin jedenfalls auf meine Kosten gekommen und würde mich auf eine Fortsetzung seiner eigenen Biographie freuen.

Wer geballte Informationen über Lesefutter haben möchte, sollte sich das neue AurorA-Bücher-Info kommen lassen. Gibts kostenlos bei: AurorA * Knobelsdorfstr. 8 * 14059 Berlin.

Außerdem kommen z. Zt. zahlreiche Veröffentlichungen zu dem Philosophen Max Stirner (1806-1856), von allen ignoriert oder gehaßt, aber dennoch anscheinend nicht ganz wirkungslos: „Ich hab Mein´ Sach´ auf Nichts gestellt“ (Kramer Verlag Berlin / ca. 168 S. / 24,–DM) ist eine Anthologie verschiedener Autoren zu und über Max Stirner, die es so bisher noch nie gab. Und: Bernd A. Laska; Ein Dauerhafter Dissident – 150 Jahre Stirners „Einziger“. Eine kurze Wirkungsgeschichte (LSR Vlg. Nürnberg / Postfach 3002 / 90014 Nürnberg / 165 S. / 30,–DM). Dieser Band erschien als „Stirner-Studien Bd. 2“. Laska, der wohl beste Stirner-Kenner in Deutschland setzt sich hier, mitunter auch sehr kritisch, mit dem Anti-Philosophen und seiner Wirkung, auseinander.

P.s.: Anne, meine Liebste, liest ja eigentlich noch mehr als ich und sie hat gesagt, ich sollte doch auf alle Fälle mal Angelika Schrobsdorff empfehlen, speziell den Titel: „Du bist nicht so wie andere Mütter“ (dtv / 556 S. / 19,90 DM). Dieser autobiographische Roman über eine glückliche jüdische Kindheit in Berlin, bis die Nazis kommen und die Familie in die Flucht und ins Exil treibt, ist, neben den interessanten Schilderungen der Berliner Kultur unter anderem eine Liebeserklärung an die Mutter der Schriftstellerin.

Z.Zt. wandert das Buch von Hand zu Hand und die Freundinnen sind begeistert. Und im Moment ist sie gefesselt, von dem zu jung gestorbenen Autor Bruce Chatwin; Der Traum des Ruhelosen (Hanser Verlag / 250 S. / 38,–DM). Das Buch umfaßt Texte, die bisher noch nie in Buchform erschienen sind und um die Themen Fernweh und Heimatlosigkeit, Exil und Exotik, Besitz und Verzicht kreisen. Bruce Chatwin gehörte zu jenen ruhelosen Reisenden, die uns einbetonierten, selbst in Zeiten den Massenferntourismus auch eine Ahnung von geistiger Weite vermittelt haben. Was gibts schöneres.

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