Die Probleme des MfS mit jugendlichen IM
von Thomas Auerbach
aus telegraph 4/1996
Als im Jahr 1963 die Beatles und die Rolling Stones an die Spitzen der Hitparaden rückten und auch in den Straßen der DDR plötzlich hie und da Pilzköpfe auftauchten, erließ der Minister für Staatssicherheit, Erich Mielke, erstmals sogenannte Arbeitshinweise für die Bekämpfung der politisch-ideologischen Diversion und Untergrundtätigkeit unter jugendlichen Personenkreisen in der DDR. Dort ging er besonders auf die Bearbeitung jugendlicher „Meuten, Rowdygruppen, Klubs, Banden und sonstiger negativer Gruppierungen und Konzentrationen“ ein. In diesem Zusammenhang forderte Mielke, daß die inoffizielle Tätigkeit mehr auf die Arbeit mit Jugendlichen unter 25 Jahren zu „orientieren“ sei. Dazu sollten besonders Studenten, Haftentlassene, Neuzuziehende, Rückkehrer aus der BRD und Jugendliche aus Rowdygruppen angeworben werden. Die Forderungen Mielkes ließen sich schwer in die Praxis umsetzen. So vermerkt ein Bericht über den Stand der Durchsetzung der genannten Arbeitshinweise, daß das IM-Netz für die Arbeit unter Jugendlichen zu überaltert sei und es kaum geeignete IM im jugendlichen Alter gebe.
Anwerbung Jugendlicher zunächst nicht unumstitten
Zuständig für die zentrale Koordination bei der Bearbeitung Jugendlicher war ab 1964 die Hauptabteilung (HA) XX/2. Besonders deren Berichte und Analysen dokumentierten in der Folgezeit die Schwierigkeiten des MfS mit jugendlichen IM. Mielkes Dienstanweisung (DA) Nr. 4/66 schrieb die Federführung der HA XX/2 bei der Bearbeitung Jugendlicher fest und ging unter anderem erneut auf das IM-Problem ein. Da auch Jugendliche unter 18 Jahren staatsfeindliche und kriminelle Handlungen begingen, sei es nötig Personen zu werben, die guten Kontakt zu diesen Jugendlichen haben oder herstellen können. Hierzu seien auch kirchlich gebundene Jugendliche zu gewinnen. Von IM unter 18 Jahren war hier noch nicht die Rede. Die vorsichtigen Formulierungen des stellvertretenden Ministers Generelmajor Schröder in der 1. Durchführungsbestimmung zur DA 4/66 von 1968 lassen vermuten, daß damals im MfS der Einsatz von IM unter 18 Jahren nicht unumstritten war. So schrieb Schröder zunächst, daß die Werbung von IM unter Berücksichtigung des Mindestalters von 18 Jahren zu erfolgen habe, um dann wenig später fortzufahren: „Bei Notwendigkeit, Jugendliche unter 18 Jahren zur Lösung operativer Aufgaben heranzuziehen, ist vom Standpunkt der vielseitigen Formen der Zusammenarbeit mit patriotischen Kräften heranzugehen. Dabei ist der Reifegrad des Jugendlichen zu beachten und ein enges Zusammenwirken mit den Eltern, Lehrern, dem Lehrkörper und anderen Erziehungsberechtigten zu gewährleisten.“ Ein solches Vorgehen war wohl kaum mit den strengen Regeln der Konspiration zu vereinbaren. Schröder versuchte denn auch, dem Problem auf andere Weise beizukommen, indem er beispielsweise anordnete, daß besonders weibliche Personen aus dem Umgangskreis auffälliger Jugendlicher zu werben seien, um diese unter operativer Kontrolle zu halten. Als das MfS nach dem Einmarsch der Truppen des Warschauer Paktes in die CSSR, am 21. August 1968, verstärkt Widerstand unter Jugendlichen in der DDR registrierte, sah sich Mielke in einem Schreiben an die Leiter der operativen Diensteinheiten erneut genötigt, auf das Problem einzugehen. Er forderte die Werbung weiterer IM zur Bearbeitung und Überwachung von jugendlichen Personenkreisen, die während der „Konterrevolution in der CSSR“ negativ aufgefallen waren.
Jugendliche IM waren oft unzuverlässig
Inwieweit sich diese Forderungen in die Praxis umsetzen ließen, geht aus einer „zusammenfassenden Einschätzung zur politisch-operativen Lage unter jugendlichen Personenkreisen“ der zuständigen HA XX/2 vom 23. Januar 1969 hervor. Dort heißt es, daß man die besten Erfahrungen mit jugendlichen IM gemacht habe, die aus „positiven Elternhäusern“ stammen und eine „positive Grundeinstellung“ haben. Im Gegensatz zu „negativen und labilen Jugendlichen“ zeigten solche IM eine bessere Disziplin, höhere Eigeninitiative und ein größeres Einschätzungsvermögen. Andererseits hätten Jugendliche aus negativen Personenkreisen die günstigsten Voraussetzungen zur Aufklärung staatsfeindlicher Handlungen. Hier wurde erstmals ein Widerspruch benannt, den das MfS bis 1989 nicht lösen konnte und der die Arbeit mit jugendlichen IM erheblich behinderte. Das MfS war bei der Überwachung Jugendlicher auf IM angewiesen, die „unzuverlässig“ waren und sich dem Zugriff des MfS immer wieder entzogen. So mußte die HA XX/2 1968 die Zusammenarbeit mit 6 IM einstellen, weil ihnen nicht die „für die operative Arbeit erforderliche Ehrlichkeit, Zuverlässigkeit und Beständigkeit“ anerzogen werden konnte. Es handelte sich um IM, die zur Bearbeitung jugendlicher Personenkreise unter „kriminell angefallenen Jugendlichen“ geworben worden waren. Weiterhin stellte die HA XX/2 fest, daß die Arbeit mit „Kontaktpersonen“ (KP) unter 18 Jahren problematisch sei. Häufig auftretende Schwierigkeiten seien die Gefahr der Dekonspiration, mangelndes objektives Einschätzungsvermögen, abenteuerliche Vorstellungen von der Arbeit des MfS und schneller Verlust des Interesses an einer Zusammenarbeit mit dem MfS. Trotzdem wäre aufgrund der bisherigen Erfahrungen der Einsatz solcher KP (Red: wohl Kontaktpersonen) unbedingt erforderlich. Der Umgang mit ihnen wurde in den Bezirksverwaltungen damals verschieden gehandhabt. In der Bezirksverwaltung (BV) Rostock beispielsweise mußte eine Kontaktierung von Jugendlichen unter 18 Jahren jeweils vom Leiter der BV angeordnet werden. Andere BV waren weniger heikel. Die bereits genannte Einschätzung der HA XX/2 von 1969 kam zu dem Schluß, daß trotz einiger Fortschritte noch erhebliche Lücken im IM-System unter Jugendlichen bestünden, unter anderem besonders unter der „religiösen Jugend.“ Auffällig an diesem wie an anderen Berichten und Analysen aus jenen Jahren ist, daß der Begriff IM für Personen unter 18 Jahren vermieden wurde und daß die verschiedenen BV beim Umgang mit diesem Personenkreis gewissermaßen noch „experimentierten“. Diese Unsicherheit war sicherlich nicht in moralischen Skrupeln der MfS-Mitarbeiter begründet, sondern leitete sich eher aus taktischen Erwägungen aufgrund der genannten Erfahrungen mit KP unter 18 Jahren her. Folgerichtig empfahl die HA XX/2 in ihrer Einschätzung die Erarbeitung einer Untersuchung über die „effektivsten Methoden zur inoffiziellen Absicherung jugendlicher Personenkreise bis zum 18. Lebensjahr.“
Sowjetische Genossen sollen helfen
Bei einer Beratung mit „sowjetischen Tschekisten“ im April 1976 berichtete der Leiter der HA XX, Generalmajor Kienberg, über die Lage unter Jugendlichen in der DDR. Ein Problem, so führte Kienberg dort unter anderem aus, sei die inoffizielle Arbeit mit Jugendlichen unter 18 Jahren. Die bisherigen Erfahrungen des MfS ließen dazu noch keine vollständige Einschätzung zu. Das MfS habe Erfahrungen bei der Herstellung „von operativen Kontakten zu Jugendlichen unter 18 Jahren ohne schriftliche Verpflichtung“ und „mit Kenntnis und Einverständnis von Erziehungsträgern, besonders der Eltern,“ gemacht. Diese operative Tätigkeit müsse jedoch ständig weiterentwickelt werden, da Jugendliche in dem Alter gegenüber negativen Einflüssen besonders anfällig seien. Es bestehe großes Interesse daran, die Erfahrungen der sowjetischen Genossen auf diesem Gebiet kennenzulernen. Die Ausführungen Kienbergs belegen, daß das MfS nach wie vor auf Probleme bei der Werbung jugendlicher IM stieß.
Wachsende Schwierigkeiten
Eine Analyse der HA XX zur Lage unter jugendlichen Personenkreisen aus dem Jahr 1980 schilderte in geradezu dramatischer Weise die wachsenden Schwierigkeiten: Trotz erheblicher Anstrengungen aller Bezirksverwaltungen (BV), die Qualität und Quantität der inoffiziellen Basis unter Jugendlichen zu erhöhen, seien die gestellten Ziele nicht erreicht worden. Zu verzeichnen sei vielmehr eine hohe „Abschreibungsquote“ bei jugendlichen IM infolge bewußter Dekonspiration, Desinteresse, mangelhafter Treffdisziplin, unbefriedigender Arbeitsergebnisse, Perspektivlosigkeit in der Zusammenarbeit und dem Einfluß feindlich-negativer Personen auf die jugendlichen IM. Die operativen Mitarbeiter, vermerkte die Analyse weiter, würden ungenügend auf die psychischen Besonderheiten der jugendlichen IM eingehen. Es werde immer schwieriger, in negative jugendliche Kreise einzudringen, weil sich die Zielgruppen verstärkt durch „Tests“ und „Mutproben“ absicherten. Erfolgversprechender, als IM heranzuschleusen, sei es, ausgewählte Jugendliche aus solchen Gruppen „herauszubrechen“ und zu werben. Des weiteren gebe es positive Erfahrungen beim Einsatz weiblicher IM zwischen 17 und 19 Jahren in negativen Konzentrationen Jugendlicher.
Man verpfeift keinen Kameraden
Obwohl sich im MfS seit langem die Erkenntnis durchgesetzt hatte, daß unter Druck geworbene IM unzuverlässig sind und es sinnvoller sei, eine Zusammenarbeit auf der Basis der „Freiwilligkeit“ anzustreben, versuchte man Anfang der achtziger Jahre verstärkt, den Mangel an jugendlichen IM mit brachialen Methoden zu beheben. Aufgrund einer gewissen Ratlosigkeit gegenüber weitaus radikaleren Formen des Jugendprotestes als in den siebziger Jahren, praktizierte das MfS jetzt besonders gegen jugendliche Punkgruppen die Methode des „Herausbrechens“ einzelner Gruppenmitglieder, um sie auf der „Basis der Wiedergutmachung“ für begangene Straftaten als IM zu werben. Die Erfolge dabei waren, trotz des Eisatzes auch „materieller Anreize“, nur gering. So betrug beispielsweise der Anteil Jugendlicher am Gesamtbestand von IM in den Bezirksverwaltungen 1982 nur 10%. Der Anteil der von Jugendlichen begangenen Straftaten an der Gesamtzahl begangener Straftaten betrug im gleichen Jahr bei der allgemeinen Kriminalität 47,49 %, bei (politischen) Staatsverbrechen 25,86% und bei Grenzdelikten 75%. Eine Analyse der HA XX für das Jahr 1984 registrierte, daß im Berichtszeitraum keine qualitative und quantitative Verbesserung des jugendlichen IM-Bestandes erreicht werden konnte. Der IM-Bestand an Jugendlichen unter 18 Jahren sei zurückgegangen. An dieser Feststellung wird nebenbei deutlich, daß das MfS jetzt auch IM unter 18 Jahren verpflichtete. Die Bereitschaft labiler Jugendlicher, einen Kontakt mit dem MfS einzugehen, sei durch die ständige gegnerische Beeinflussung rückläufig, bemerkte die Analyse weiter. In der Mehrzahl der Fälle, bei denen eine Werbung mißlungen sei, habe eine politisch-negative Meinung schon im Alter zwischen 16 und 18 Jahren vorgelegen. Nach wie vor seien unter Jugendlichen falsche Ehrbegriffe vom „Verpfeifen von Kameraden“ weit verbreitet. So wurden beispielsweise von den 133 jugendlichen IM der BV Berlin im Jahr 1988 allein 42 IM von ihren Führungsoffizieren als unzuverlässig eingeschätzt.
Brutale Rachehandlungen gegen Verräter
Besondere Schwierigkeiten hatte das MfS beim Einsatz von IM zur Aufklärung von Skinheadgruppen. In einer Einschätzung der HA XX von 1988 ist folgendes nachzulesen: „Die Abscheu der Bürger der DDR gegen neofaschistische Erscheinungen ist als Motivation für die Gewinnung von Jugendlichen zu aktivem Handeln als IM in breiterem Maße zu nutzen. Dabei ist zu beachten, daß von den Organisatoren unter derartigen Jugendlichen die Angst vor brutalen Rachehandlungen gegenüber vermeintlichen Verrätern verbreitet und dadurch die Gewinnung geeigneter Jugendlicher als IM bzw. ihre Einschleusung in derartige Gruppen erschwert und mit zusätzlichem Risiko verbunden ist.“ Dazu vermerkte der Leiter der HA XX/2 Oberst Kuschel in einem handschriftlichen Redemanuskript vom Sommer 1989: „Die Skins oder Faschos sind die extremsten antikommunistischen Elemente, die wir je unter unserer Jugend hatten. Die Formen der Auseinandersetzungen unter den Skins und deren ‚Riten‘ gehen bis zum Androhen der ‚Liquidierung‘ von ‚Verrätern‘ (MfS-Spitzel-Psychose) nach dem Vorbild faschistischer Femeorganisationen.“
Das Dilemma
Das Manuskript schilderte in drastischer Offenheit die Vorgehensweise, aber auch die enormen Probleme bei der Werbung und Erziehung von IM unter 25 Jahren. Äußerst schwierig, heißt es dort, sei die Gewinnung von IM unter negativ-dekadenten Jugendlichen wie Punks Skins, Faschos und Gruftis. Mit zuverlässigen, „guten Kadern“ (FDJ-Mitgliedern) sei ein Eindringen in diese Kreise fast ausgeschlossen, weil die „ewig außerhalb blieben“. Zwar seien dem MfS beispielsweise Skins aus MfS-Familien als IM-Kandidaten angeboten worden, doch man könne es nicht verantworten, einen Jungen aus gutem Elternhaus in diese Gruppen zu schicken, denn beim „Gammeln und Sturzsaufen“ würde dort jeder verdorben. Ein Jugendlicher mit „verfestigter negativ-dekadenter Einstellung“ sei aber aus folgenden Gründen kaum werbbar: Antikommunistische Einstellung, Haß auf das MfS, Verhaltensstörungen bedingt durch seit frühster Kindheit verwurzelte soziale Abweichungen, asoziale Lebensweisen, vor allem Fehlhaltungen zu Arbeit und Beruf. Das letztere Problem mache es dem MfS besonders schwer, denn auch als IM müsse man arbeiten und verläßlich sein. Daraus schlußfolgerte der Leiter der HA XX/2: „Wir stehen vor folgendem Dilemma: Fordern wir auf diesem Gebiet bei IM-Kandidaten eine klare Haltung, finden wir kaum geeignete Werbungskandidaten. Dem Zusammenschluß Gleichgesinnter in solchen Gruppen liegt häufig [eine] ähnliche gebrochene Persönlichkeitsentwicklung zugrunde. Machen wir Kompromisse auf diesem und anderem Gebiet, müssen wir das Risiko tragen bis zur schließlichen Ausreiseantragstellung oder Inhaftierung wegen Kriminalität. Das Wort ‚zuverlässig‘ paßt überhaupt nicht zu solchen Typen (Kandidaten).“
Der gute Junge mit der Bomberjacke
In seinem Redemanuskript nannte der Leiter der HA XX/2 dafür auch Beispiele. So hatte das MfS einen Jugendlichen unter dem Decknamen „Per Beering“ unter Nutzung seines Geltungsdrangs angeworben. Ihm wurde von seinem Führungsoffizier ein gutes, zuverlässiges Verhältnis zum MfS bescheinigt. Man mußte aber feststellen, daß der „gute Junge“, trotz „Bomberjacke für 500,-Mark“, nicht an die Gruppe herankam, auf die er angesetzt war. Effektiver arbeitete IM „Rene“ als Mitglied einer Skinheadgruppe. Er war nach der Haftentlassung „auf der Basis von Wiedergutmachung“ geworben worden und hatte ein Interesse daran, nicht gleich wieder „einzufahren“. Leider konnte er von seinem Hang zum Prügeln nicht ablassen und mußte nach kurzer Zeit wieder inhaftiert werden. Damit war er für das MfS ebenso wertlos wie der „gute Junge“ mit der Bomberjacke.
Vaterstelle vertreten
Geradezu zynisch klang in diesem Zusammenhang die Feststellung, daß die Mitarbeiter des MfS an diesen Jugendlichen Vaterstelle zu vertreten hätten. Die Führungsoffiziere wären oft die einzigen, die die Probleme dieser Jugendlichen anhörten und Hilfe gäben. Das Manuskript endete mit der Feststellung: „Hohe Anforderungen ergeben sich daraus an die politische und menschliche Reife der operativen Mitarbeiter auf diesem Gebiet. Wir brauchen nicht den Typ des laxen Kumpels oder guten Onkels, sondern den Typ des verständnisvollen Partners oder die gute Vaterfigur, wo der konsequente Genosse (prinzipienfester Tschekist) immer dahinter gespürt wird. Abgesehen von der Menschenverachtung, die aus einer solchen Instrumentalisierung junger Menschen sprach, kamen die zitierten Ausführungen des Leiters der HA XX/2 fast einer Bankrotterklärung gleich. Ob das MfS 1989 tatsächlich nicht mehr in der Lage war, seine IM als wichtigstes Instrument der Informatonsbeschaffung, Beeinflussung und Zersetzung wirkungsvoll unter Gruppen nonkonformer Jugendlicher einzusetzen, bedarf weiterer Forschung.
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