Haben wir die letzten großen Kämpfe der Gewerkschaften gesehen?
von Robert Kurz, Nachdruck aus einem Artikel fuer die Brasilianische Zeitung FOLHA, Januar 1996, aus telegraph 4/1996
Das alt gewordene Herz des Klassenkampfs schlug noch einmal höher: Paris schien einen Mai ’68 im Dezember zu erleben. Der Mythos des großen Streiks wurde wiederbelebt, und nirgendwo anders als in Frankreich konnte die Erinnerung an die historischen Massenkämpfe noch einmal eine derart reale Kraft entfesseln. Es wurde ja wirklich zeitweise ein ganzes großes Industrieland lahmgelegt, „alle Räder standen still“, und mitten in der Routine eines stumpfen Alltags und in der sozialen Wüste der totalen Konkurrenz brachen fast schon vergessene Gefühle und Handlungsmuster auf, wie sie sonst nur noch bei Naturkatastrophen zu finden sind: Solidarität, die Empfindung der Gemeinschaftlichkeit, Kompetenzen der organisatorischen Improvisation, Spontaneität und die Begeisterung des Kampfes gegen eine stumme und verhängnisvolle Kraft. Denn die autistische Regierung Juppé wird als eine soziale Naturkatastrophe erlebt, deren Fähigkeit zur sozialen Kommunikation nicht größer ist als die eines Erdbebens oder einer Feuersbrunst – eine Eigenschaft freilich, die sie mit den meisten gegenwärtigen Regierungen in der Welt teilt, die mehr und mehr im Namen der falschen „Naturgesetze des Marktes“ den gesellschaftlichen Diskurs abgebrochen haben.
Es ist bekannt und entspricht den Traditionen der großen nationalen Revolution, daß in Frankreich die Geister der Revolte gegen den Staat leichter als anderswo erwachen. Während in Deutschland, wie ein alter Witz sagt, selbst die ultra-radikalen Revolutionäre vor der Erstürmung des Bahnhofs eine Karte kaufen, gehen in Frankreich sogar Normalbürger und biedere Familienväter im Stil von jugendlichen Straßenkämpfern „auf die Barrikaden“. Und dennoch ist es eine Unwahrheit, wenn einige ergraute Marxisten, die in den letzten Jahren selber stumm geworden waren und nichts dazugelernt haben, jetzt am Beispiel Frankreichs noch einmal die Morgenluft des alten Klassenkampfs zu wittern glauben und auf eine Wiederholung des Pariser Mai von 1968 hoffen. Denn trotz aller Besonderheiten der nationalen Geschichte und des nationalen Bewußtseins können sich auch die Franzosen der neuen globalen Konstellation von Ökonomie und Politik nicht entziehen.
Eine Revolte, die keinen historischen Horizont der gesellschaftlichen Veränderung mehr hat und die sich kein offensives Ziel mehr setzen kann, ist nicht nur zum Scheitern verurteilt; sie wird auch keine tiefe Spur in der Geschichte hinterlassen. Wie es in dieser Hinsicht um den Pariser Dezember bestellt ist, kann leicht gezeigt werden: das Verhältnis von Konservativen und Progressiven, von Rechten und Linken, von Regierung und sozialer Opposition hat sich geradezu auf den Kopf gestellt. Der große Begriff der sozialen Reform ist nicht mehr progressiv, sondern konservativ besetzt. Er steht nicht mehr für soziale Verbesserungen, sondern für die Rückkehr zum brutalisierten Manchester-Kapitalismus des 19. Jahrhunderts. Nachdem sie den Begriff der sozialen Reform in sein Gegenteil verkehrt und mit antisozialen Inhalten besudelt hat, kann die Regierung den Gewerkschaften und sozialen Verbänden mit einem beispiellosen historischen Zynismus vorwerfen, diese seien „unfähig zur Reform“. So verhält es sich heute nicht nur in Frankreich, sondern überall in der Welt. Die Linken erscheinen als konservativ, die Gewerkschaften streiken für die Erhaltung alter Besitzstände, und die scheinbar wiedererweckten Gefühle der Solidarität und der Begeisterung beziehen sich merkwürdigerweise auf die Hoffnung, „daß alles so weitergehen soll wie bisher“.
Was ist das für eine Revolte, die nur noch den status quo einer vergreisten Gesellschaftsordnung ohne geschichtlichen Horizont verteidigt? Gewiß, in der großen Streikbewegung des Dezember hat die Mehrheit der Franzosen ihre eigene Angst vor dem Verlust der Zukunft wiedererkannt. Obwohl es kein wirklicher Generalstreik war, sondern in der Hauptsache ein Kampf für die sozialen Privilegien von Staatsbeamten, waren die Sympathien der Bevölkerung auf der Seite der Streikenden. In dieser Hinsicht ist die Rechnung der Regierung nicht aufgegangen. Der Effekt eines „indirekten Generalstreiks“, verursacht vor allem durch den Streik bei allen öffentlichen Verkehrsmitteln, hat trotz Chaos, Zusammenbruch des normalen Alltags und schwerer Beeinträchtigung des Lebens nicht den Volkszorn gegen die Streikenden geweckt, sondern im Gegenteil die allgemeine Solidarisierung. Die Beschäftigten des öffentlichen Dienstes haben stellvertretend für die anderen französischen Lohnarbeiter gehandelt. Trotzdem war die Solidarität in Wahrheit keine ungeteilte, und in einer entscheidenden Hinsicht hat sie sich selbst dementiert. Denn wenn „alles so weitergehen soll wie bisher“, dann impliziert diese Haltung, daß die Millionen von Arbeitslosen, Obdachlosen und „neuen Armen“, die es auch in Frankreich gibt, letzten Endes aus der Solidarität ausgegrenzt bleiben. Es geht dabei sicher nicht um die unmittelbaren gewerkschaftlichen Forderungen, sondern um die Frage, ob eine große Streikbewegung wie diese in der Perspektive einer sozialen Emanzipation erscheinen kann, die über den Anlaß des direkten Konflikts hinausgeht und langfristig auch die vom System bereits ausgestoßenen Menschen erreicht. Eine solche Perspektive hatten die Streiks des Pariser Dezember aber nicht im geringsten. Gegenüber den bereits „Herausgefallenen“ sind die Gewerkschaften ebenso stumm, wie die Regierung Juppé ihnen gegenüber stumm ist.
Diese implizite Begrenzung der Solidarität, über die niemand gerne spricht, ist aber gleichzeitig die Schwäche der gewerkschaftlichen Legitimation. Dabei wird eine eigenartige Dialektik sichtbar. Für sich genommen haben die Gewerkschaften nie etwas anderes vertreten als die partikularen Interessen von einzelnen Branchen und Berufsgruppen. Aber durch die Konzepte des Sozialismus gewannen diese immanenten Interessen eine Dimension der Transzendenz, die ihnen die Würde des Universellen und der historischen Notwendigkeit verlieh. Nur getragen von dieser Transzendenz, die jeden einzelnen Konflikt in das Licht eines übergeordneten, über den Tag hinaus reichenden Anspruchs tauchte, konnten die Gewerkschaften überhaupt die Konkurrenz unter den Lohnarbeitern vorübergehend aufheben, das Handicap der ungleichen Machtverteilung zwischen ihren Organisationen und der Regierung bzw. dem Management teilweise ausgleichen und nennenswerte Erfolge innerhalb des Marktsystems erzielen.
Dem Apparat der Gewerkschaften waren die transzendenten und angeblich „utopischen“ Ansprüche aber immer ein Dorn im Auge. Viele Funktionäre haben vielleicht geglaubt, nach dem Untergang der sozialistischen Ideen und durch die endgültige Akzeptanz der Marktwirtschaft wäre es leichter, pragmatisch zu verhandeln und „ohne ideologische Scheuklappen“ etwas herauszuholen. Das genaue Gegenteil ist der Fall. In Frankreich war es gerade der sozialistische Präsident Mitterand, der eine knallharte monetaristische Politik der Austerität durchpeitschte; Chirac und Juppé haben diese Linie nur fortgesetzt. Durch den Verlust der ungeliebten sozialistischen Transzendenz wurde den Gewerkschaften in Wahrheit der letzte Rest ihrer Kraft aus den Knochen gesaugt. Ihre Macht schmilzt zusammen und sie kommen aus der strategischen Defensive nicht mehr heraus. Die Konkurrenz wird immer schneller individualisiert, die Mitglieder verlieren den Glauben an die Organisation und laufen scharenweise davon.
So ist es jetzt paradoxerweise die Regierung, die im Namen eines universellen Anspruchs und mit dem Pathos der historischen Notwendigkeit handelt, auch wenn es nichts als der negative Anspruch ist, die Menschen den blinden Gesetzmäßigkeiten eines verrückten Systems zu unterwerfen. Die Gewerkschaften dagegen haben zusammen mit der grundsätzlichen Kritik der Marktwirtschaft ihren eigenen universellen Anspruch aufgegeben, sie sind gewissermaßen historisch verstummt. Auch in dieser Hinsicht haben sich also die Fronten verkehrt. Der lange Atem der Geschichte scheint auf die Regierenden übergegangen zu sein. Selbst wenn die französischen Gewerkschaften im gegenwärtigen Konflikt noch einmal vorübergehende Erfolge erringen sollten, so haben sie doch strategisch schon verloren.
Der Pariser Dezember ordnet sich daher, weit davon entfernt, ein neuer Mai ’68 zu sein, in die lange Reihe der gewerkschaftlichen Rückzugsgefechte seit den 80er Jahren ein. Viele dieser Konflikte hatten etwas Tragisches an sich wie z.B. der soziale Todeskampf der traditionsreichen englischen Bergarbeiter gegen die Regierung von Margaret Thatcher. Aber die Niederlagen sind determiniert, denn es handelt sich um das verzweifelte Aufbäumen einer aussterbenden Gattung. Daß die Franzosen den Schlußpunkt setzen mit dem vielleicht letzten traditionellen Massenstreik der gewerkschaftlichen Geschichte, ist ihr gutes Recht, denn sie haben ja auch zweihundert Jahre zuvor den Anfang gemacht.
Aber auch die Gegenseite kann ihres Sieges auf die Dauer nicht froh werden. Die Lüge eines falschen, historisch entwerteten Begriffs der „Reform“ wird sich an ihren Urhebern rächen. Die Regierungen kämpfen ja gar nicht für eigene Konzepte, denn sie haben die Kompetenz für die Zukunft an die „zweite Natur“ des Marktes abgegeben; sie sind nicht die Subjekte der Entwicklung, sondern nur die letzten Verwalter des gesellschaftlichen Verhängnisses der Moderne. Die sogenannten Reformen der Juppés überall in der Welt sind ebensowenig „politische Programme“ wie die Wettervorhersage oder die Beschreibung des biologischen Verhaltens von Insekten. Die soziale Situation schreit, nicht nur in Frankreich, nach einer Alternative jenseits von Marktwirtschaft und staatlichem Sozialismus. Wenn die Gewerkschaften ihre Rolle als historische Verlierer nicht bis zum bitteren Ende weiterspielen wollen, brauchen sie eine neue transzendierende Idee, eine neue programmatische Kompetenz und einen neuen Horizont der gesellschaftlichen Veränderung, um die historische Initiative zurückzugewinnen. Dafür müssen sie sich selber verändern, mit anderen sozialen Basis-Bewegungen zusammengehen und neue Konzepte der sozialen Selbstbestimmung auch außerhalb der Lohnarbeit und außerhalb der sozialstaatlichen Transfers entwickeln.
Es waren in der vergangenen Ära des Sozialismus immer die Intellektuellen, die neue gesellschaftliche Ideen hervorbrachten. Aber auch in dieser Hinsicht hat sich die Welt ins Gegenteil verkehrt: war der Pariser Mai nicht zuletzt eine Revolte der Intellektuellen gewesen, so ist der Pariser Dezember intellektuell verwaist. Die Intellektuellen des Mai ’68, Leute wie André Glucksmann oder Bernhard-Henri Lévy, haben die soziale Frage längst vergessen. Sie sind zu Hofnarren geworden, die nur noch den „Eros des Westens“ besingen. So hat der Dezember sie überrascht und sie starren ihn wortlos an, stumm wie Juppé. Es zeigt sich jetzt, daß eine Intelligenz ihren Beruf verfehlt und überflüssig ist, die keinen Geist der historischen Opposition mehr besitzt. Erst mit Verzögerung haben sich andere französische Intellektuelle in zwei gegensätzlichen Manifesten zu Wort gemeldet, zugespitzt auf zwei berühmte Namen: Alain Touraine und Pierre Bourdieu. Der Appell der Gruppe um Touraine unterstützt eindeutig den Kern der antisozialen „Reform“ von Juppé, auch wenn die brutale und „unsensible“ Vorgehensweise der Regierung beklagt wird. Aber Touraine macht sich offenbar vor allem Sorgen, daß Frankreich seine Konkurrenzfähigkeit beim „Eintritt in die liberale Welt“ des globalisierten Marktes verlieren könnte. Dieser Pessimismus ist berechtigt, wenn man sich nur noch die Sorgen des Marktes macht und keine Alternative zu den herrschenden Alternativen mehr entwickeln will. Aber dann muß auch Touraine die soziale Frage auf dem Altar des Marktes opfern. Die Formulierungen, die dabei für das soziale Problem noch übrig bleiben, sind jedenfalls keine glaubwürdigen intellektuellen Begriffe mehr. Die große soziale Bewegung des Dezember kann auf diese Weise nur noch als Störfaktor für die kalte „Notwendigkeit“ erscheinen: welch ein Verstummen gegenüber den Massen, die einmal der Gott der Intelligenz waren!
Der Appell der Gruppe um Bourdieu versucht dagegen, sich mit den Streikenden zu vermitteln. Aber das geschieht nicht mit eigenen neuen Ideen und als innere Teilnahme, sondern von außen und hilflos. Nach dem Tod der sozialistischen Hoffnung scheint diesen Linken nur noch die Idee der Nation als letztes Konzept gegen die zerstörerische Flut des Weltmarkts übrigzubleiben. In Frankreich haben wir es dabei mit einer besonderen Paradoxie zu tun, denn in diesem Land ist der aufgeklärte Universalismus der bürgerlichen Revolution gleichzeitig eine Tradition des beschränkten Nationalismus. So hoffen die Intellektuellen um Bourdieu, die Rückwendung zum Nationalen werde im Unterschied zu anderen Ländern nicht den Absturz in die ethnisch-religiöse Barbarei vorbereiten, sondern könne, wie es der Soziologe Edgar Morin formuliert, „eine Rückkehr zur republikanischen Identität“ unter Einschluß eines sozialen Universalismus bedeuten. Touraine hat tausendmal recht, wenn er diese Flucht zurück in die nationalen Ideen von 1789 für ökonomisch naiv und katastrophal hält. Der westliche Universalismus der Moderne ist irreversibel auf die subjektlose Bewegung des Weltmarkts übergegangen, und das nationale Konzept ist auch in Frankreich nur noch reaktionär. Hinter den Illusionen der pseudo-jakobinischen Intellektuellen steht schon der finstere Rechtsradikalismus eines Le Pen.
Der Pariser Dezember hat schlagartig sichtbar gemacht, daß die Produzenten der Ideen schon seit Jahren streiken, ohne daß man diesen Streik bemerkt hat. Denn die bloße intellektuelle Wiederholung der Logik, die sowieso schon herrscht, ist ebensowenig wie die Flucht in die Vergangenheit eine Idee, nicht einmal ein Gedanke, sondern nur ein Reflex. Seit 1989 produzieren die meisten Intellektuellen nicht kritische Reflexionen, sondern ideenlose Reflexe: sie haben die Geschichte verlernt. Nicht allein in Frankreich haben wir es mit einer Gesellschaft der Stummen zu tun, die sich nicht mehr kritisch verständigen, sondern nur noch instinktiv auf die abstrakten und gespenstischen Leuchtzeichen des geschichtslosen Marktes reagieren. Was immer wir noch an Wiederholungen erleben mögen: Der Pariser Dezember 1995 war das letzte Wort der alten sozialen Bewegung, er war eine Revolte des Verstummens.
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