Nicht nur heiße Luft

Der diesjährige Ostermarsch gegen den Truppenübungsplatz in der Wittstock-Ruppiner Heide konnte den Stand der Bewegung halten

von Wolfgang Rüddenklau
aus telegraph 4/1996

Bereits im letzten „telegraph“ gab es einen längeren Artikel über den ehemaligen sowjetischen Truppenübungsplatz in der Wittstock-Ruppiner Heide, den die Bundeswehr zu gerne als Übungsfeld für künftige Auslandseinsätze benutzen würde. Dagegen stehen die Bauern der Umgebung, die keine neue Enteignung durch Militärs dulden wollen. Aber auch die sonstige weitgehend eigentumslose Bevölkerung hat einfach die Schnauze voll von Kriegslärm und gelegentlichen kleinen Militärunfällen, die zerstörte Trommelfelle oder auch nur ein danebengefallenes Bömbchen zur Folge haben. Mit von der Partie bei der Bürgerinitiative Freie Heide sind von Anfang an die gewaltlosen Anarchisten von der Berliner Graswurzelgruppe, aber auch die örtliche Prominenz, vom Pfarrer über den Landrat bis zum SPD-Ortsgruppenleit… (nee, heißt wohl anders). Diesmal ließ sich sogar kein Geringerer als der Brandenburger Umweltminister Platzek herab, zu den versammelten Massen zu sprechen. Er sprach übrigens unter anderem über den Verfall von Sitte und Moral. Da mußte ich herzlich lachen, weil ich an die heroischen Zeiten 1989, 1990 dachte, als er mit der Grünen Liga gegen die Gründung einer Grünen Partei rebellierte, um dann als Frühstücksminister in die Regierung Modrow einzusteigen. Ohne das hier weiter zu vertiefen, könnte man vielleicht sagen, daß Matthias Platzek seither noch einige Male die Seiten gewechselt hat – immer im Interesse der Sache, wie er betont (und sein Meister, Manfred Stolpe, wird ihm da gewiß zustimmen).

Die Medien hatten angekündigt, daß die alte bundesdeutsche Friedensbewegung aus Angst vor noch geringerer Beteiligung als in den früheren Jahren eine eigene Berliner Kundgebung aufgegeben habe und stattdessen auf die Beteiligung am Ostermarsch der Freien Heide orientierte. Ich fand am Stellplatz in der Nähe des Berliner Alexanderplatzes neben vier vorgesehenen Bussen noch 60 Leute in noch vorgerückterem Alter als mich. Die zum großen Teil weißhaarigen Kämpen aus den Zeiten der Großdemonstrationen der bundesdeutschen Friedensbewegung versuchten gerade ihren Talisman, eine merkwürdige menschengroße Taube aus Pappmache, in die Gepäckablage des einen Busses zu verstauen, der schließlich für uns alle ausreichte.

Aber ich will hier keinen langweiligen Tagesbericht machen, sondern nur ein paar Stichworte liefern. Über die Rede der berühmte Theologin Dorothee Sölle vor der Kirche von Fretzdorf kann ich beispielsweise nicht vernommen werden, weil ich zu dieser Zeit in der Dorfkneipe eine urige Bockwurst mit Kartoffelsalat speiste. Erschienen waren bei strahlendem Wetter etwa 3.000 Leute (das ist die echte Zahl, nicht die des Veranstalters und nicht die des Polizeiberichts). Unter Transparenten zog der lange Zug durch Feld und Wald zum Festplatz inmitten des Truppenübungsplatzes und dort gab es das übliche Gemisch aus mehr oder weniger erträglichen Liedermachern und allgemeinen und besonderen Informationen über die Freie Heide. Der örtliche Handel war mit Imbißbuden vertreten, aber vom Kaffeebedarf der Massen bei weitem überfordert. So gab es wie zur guten alten DDR-Zeit kilometerlange Schlangen von diszipliniert anstehenden Leute, sogenannten „sozialistische Wartegemeinschaften“, wie man das dazumal nannte. Ich selbst nahm meine Zuflucht zu einem wohltuend zurückhaltend abseits geparkten Wohnmobil der Partei des Demokratischen Sozialismus, wo es ganz umsonst und ohne Warten Kaffee gab. Bezahlt hatte ich schon vorher, indem ich auf der Hinfahrt im Bus eine mehrseitige Propagandabroschüre der PDS-Bundestagsfraktion von A-Z durchlesen mußte. Das kommt davon, wenn man vergißt, geeignete Reiselektüre einzustecken.

Der Clou der Veranstaltung war eindeutig die Auslosung einer seit zwei Monaten laufenden Lotterie zugunsten der Prozeßkosten der Freien Heide. Die Gewinner konnten Ferientage in einem der umliegenden Bauernhöfe oder auch nur Freiabende in einer der örtlichen Imbißbuden gewinnen. Hauptgewinn war die Teilnahme an einer Ballonfahrt, die gleich nach dem Ende der Veranstaltung den Abschlußhöhepunkt des Ostermarsches in der Freien Heide darstellte (siehe Titelseite). Ich selbst hatte mein Los verschenkt, weil ich ein sehr gebrochenes Verhältnis zum Flugwesen habe und kaum eine härtere Strafe für mich ausdenkbar wäre als der Flug in einem Heißluftballon.

Ein bedauerlicher Fehlschlag ist eine „endlich fertiggestellte“ Broschüre „zum Antimilitaristischen Widerstand in der Freien Heide“, die es für fünf Mark zu kaufen gab. Das Heft ist derartig langweilig gemacht und schlecht redigiert, daß der Effekt höchstens ein abschreckender ist. Eigentlich wirklich ausgezeichnet ist beispielsweise eine dort abgedruckte Rede von Wolf-Dieter Narr. Nur, daß sie wortwörtlich mit sämtlichen Ausdrucksfehlern und eben für eine Rede typischen Redundanzen abgeschrieben wurde. Dazu kommen eine Unmenge nicht getilgter Rechtschreibfehler und nachträglich eingefügte Zwischenüberschriften, über deren Wert man streiten könnte. Zum Schluß hat sich irgendein Idiot über den Text hergemacht, um ihn, wie das in der westdeutschen Linken so schön heißt, zu „zwangsfeminisieren“. Also, wenn man die Imagination hat, aus einem solcherart verunstalteten Text im Kopf einer Rede eines alten Kämpen der westdeutschen Bürgerbewegung zu rekonstruieren, dann sollte man den Text dringend lesen. Durch jahrzehntelange Übung beim Lesen von schlecht redigierten Infoblättern kann ich das und war begeistert – von Wolf-Dieter Narr, aber nicht von der Broschüre. Was man von diesen alten Menschenrechtskämpfern lernen kann, ist Realismus und langer Atem. Bei der heutigen Demonstrationskultur im Dauerlauf geht den Leuten halt allzu schnell die Puste aus.

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