Der kurze Sommer einer gesamteuropäischen Friedensordnung?
von Dr. Manfred Sapper,
aus telegraph 4/1996 / Nachdruck aus: „Friedensblätter“ 1/96,
In den Beziehungen zwischen Rußland und der NATO macht sich wachsende Entfremdung breit. In Rußland, so der Moskauer Analytiker Dmitrij Trenin, „nähert sich das Bild von der NATO unter dem Einfluß der Debatten über die Osterweiterung aber auch der massierten Gewaltanwendung in Bosnien dem Bild jener Allianz, das in der UdSSR in den Jahren des Kalten Krieges existiert hatte.
Obwohl es noch verfrüht wäre, von einer Welle des Antiamerikanismus in Rußland zu reden, kehren der amerikanische Imperialismus und der NATO-Militarismus langsam auf ihre Plätze zurück, die sie in den Vorstellungen nicht nur der Leute und Strukturen gehabt hatten, die traditionell für die Außen- und Verteidigungspolitik verantwortlich waren, sondern auch in der gesamten Gesellschaft.“
Mit anderen Vorzeichen ist im Westen ähnliches zu beobachten. Mit jeder weiteren Woche des Krieges in Tschetschenien, der von jenem Teil der Moskauer politischen Elite vom Zaun gebrochen wurde, der aus machtstrategischem Kalkül an einer Restauration und Remilitarisierung der Innen- und Außenpolitik interessiert ist, wächst die Zahl derer, die die Reformen in Rußland für gescheitert erklären und einer Rückkehr zur militärischen Machtpolitik und zum Containment gegen Rußland das Wort reden. Beschlüsse wie der jüngst von der Staatsduma gefaßte, die Auflösung der UdSSR zu widerrufen, wirken nicht vertrauensfördernd. Im Baltikum und in Ostmitteleuropa wächst die Sorge um die eigene Unabhängigkeit und Sicherheit. Das wiederum gibt dem Drang dieser Staaten in die NATO neuen Auftrieb und stärkt in Bonn, Brüssel oder Washington die keineswegs geschlossenen Reihen der Verfechter einer raschen NATO-Ausdehnung.
In Rußland herrscht wie bei keinem zweiten Thema Konsens: Die gesamte Elite aus Politik, wissenschaftichen Instituten und Medien lehnt die Osterweiterung der NATO als politisch falsch und schädlich ab. Abweichende Stimmen sind an einer Hand abzuzählen. Gleichzeitig interessiert sich die russische Bevölkerung nicht für die NATO. Angesichts der Verarmung breiter Schichten oder über Monate nicht gezahlter Löhne hat sie andere Sorgen. Auf seiten der politischen Elite speist sich die Ablehnung der Osterweiterung aus drei Quellen: Erstens spiegelt sich in ihr die innenpolitische Entwicklung in Rußland seit 1993 wider; zweitens konzentrieren sich in ihr die psychologischen Schwierigkeiten und Widersprüche, das sowjetische Großmachtbewußtsein umzuformen und in Europa und der Welt das Maß an Einfluß und internationaler Akzeptanz zu gewinnen, das der russischen Selbstwahrnehmung entspricht. Drittens reflektiert die Ablehnung eigene außen- und sicherheitspolitische Interessen, die durch die NATO-Osterweiterung als gefährdet angesehen werden. Das war nicht immer so.
Der Wandel der russischen Position
Nach dem Zusammenbruch der UdSSR und dem Ende des Ost-West-Konfliktes schienen die Interessen zwischen Rußland und dem Westen identisch. Die Einbindung in westliche Institutionen sollte die Demokratisierung und den Übergang zur marktregulierten Wirtschaft unumkehrbar machen. Nach dem Wegfall der ideologischen Konfrontation gewann die sicherheitspolitische Kooperation auch mit der NATO eine neue Qualität. Erklärtes Ziel war, gemeinsam eine „neue Friedensordnung“ in Europa zu bauen und an einer kooperativen „neuen Weltordnung“ mitzuwirken. Da erstaunte es kaum, daß Präsident Jelzin im August 1993 in Warschau verlautbaren ließ, der Entschluß des souveränen Polen, Mitglied der NATO zu werden, sei im Interesse der gesamteuropäischen Integration und widerspreche nicht russischen Interessen. Andere Auffassungen von Verteidigungsminister Gratschow schienen ein Beleg für die nicht austarierten außenpolitischen Entscheidungsprozesse zu sein. Doch in dem Maße, in dem die innere Modernisierung Rußlands ins Stocken geriet und die überhöhten Erwartungen eines ökonomischen Aufschwungs durch die Westorientierung enttäuscht wurden, gewann der innenpolitische Machtkampf an Schärfe. Die Opposition von links und rechts instrumentalisierte erfolgreich die Lage der Auslandsrussen in den ehemaligen Sowjetrepubliken oder den Jugoslawienkrieg, um der Regierung den Verrat an „russischen nationalen Interessen“ vorzuwerfen. Auch die Anlehnung an den Westen diskreditiere sie als bloße Unterwerfung.
Schon bald veränderte sich die offizielle Rhetorik des Präsidenten und der Regierung. Seitdem schwankt die russische Außen- und Sicherheitspolitik zwischen einer verbal scharfen Abgrenzung vom Westen – und der mehr oder weniger deutlichen Fortsetzung des kooperativen Kurses mit dem Westen, was in der russischen Öffnung gegenüber dem NATO-Kooperationrat und der Unterzeichnung des Abkommens über die Partnerschaft für den Frieden niederschlägt. Zwei Jahre nach Warschau und nur wenige Wochen, nachdem der populäre Ex-General Lebed im Stile Schirinowskis gepoltert hatte, eine Osterweiterung der NATO führe zum Dritten Weltkrieg, weil sie darauf ziele, die Kontrolle über die russischen Rohstoffe zu erlangen, äußerte sich Jelzin ähnlich. Am Rande einer Sondersitzung der Staatsduma zum Krieg in Bosnien meinte er, die Osterweiterung sei geeignet, „das Feuer des Krieges in Europa zu entflammen.“ Dieser deutliche Ton traf die innenpolitische Stimmung. Und es würde niemanden überraschen, wenn nach dem Wahlsieg der KP im Dezember und im laufenden Präsidentschaftswahlkampf nun anders akzentuierte Töne angeschlagen werden. Die Übernahme konkurrierender Positionen und die Bildung von Bündnissen mit bislang unversöhnlichen Gegnern sind integrale Bestandteile des labilen innenpolitischen Gleichgewichts in Rußland. Hier dient die Osterweiterung der NATO zur Integration und zur Mobilisierung innerhalb der politischen Elite.
Wende zum Denken des 19. Jahrhunderts
Der Zusammenhang zwischen dem Jugoslawienkrieg und der Osterweiterung der NATO ist kein Zufall. Neben der innenpolitischen Entwicklung ist das gekränkte Selbstbewußtsein Rußlands als Großmacht der zweite Schlüssel, um den breiten Konsens gegen die NATO-Osterweiterung zu verstehen. Hier wie da fühlt sich Rußland vom Westen, insbesondere von den USA, ausgegrenzt. Rußland ist nicht bereit, wie Deutschland die Rolle eines Juniorpartners der USA zu spielen. Als größte konventionelle Militärmacht in Europa und zweitgrößte Nuklearmacht der Welt verlangt Rußland beim Aufbau der zukünftigen Sicherheitsordnung Europas ein diesem Status angemessenes Mitspracherecht. Dies sieht Rußland nicht gewährleistet. Daher die Proteste gegen die NATO-Bombardements in Bosnien im Mai 1995, durch die sich die russische Führung bestätigt sah, weil Moskau trotz der Mitgliedschaft in der Bosnien-Kontaktgruppe vorher nicht konsultiert worden war. Daher auch das zentrale Argument gegen die Osterweiterung, sie ziele darauf, Europa in neue Einfluß- und Interessensphären zu teilen und in der Folge Rußland zu isolieren und aus Europa zu drängen. Dieses Argument fällt auf einen fruchtbaren Boden, seit eine spezifische Sicht auf das eigene Land und die Welt im heutigen Rußland mehrheitsfähig geworden ist, die früher nur die sogenannten „Derschawniki“1 vertraten. Die Rede ist von der Rückkehr des Großmachtdenkens in Militärpotentialen, Einflußgebieten, Pufferzonen oder Sicherheitsgürteln. Die Einsichten der Perestrojka, daß zunächst die schwerwiegenden Strukturdefizite der Wirtschaft und Gesellschaft überwunden werden müssen und daß hier militärisches Großmachtsdenken kontraproduktiv ist, sind aus dem Denken der herrschenden Elite weitgehend verschwunden. Es handelt sich um eine Wende des außen- und sicherheitspolitischen Diskurses zu den Kategorien des geopolitischen Denkens des 19. Jahrhunderts. In dieser Sicht waren die vergangenen Jahre nicht mehr vom Abstoßen untragbarer ökonomischer Belastungen gekennzeichnet, sondern von Positionsverlusten und Erniedrigungen geprägt: Die UdSSR habe sich aus Ostmitteleuropa zurückgezogen, den Warschauer Pakt aufgelöst, der deutschen Vereinigung im Rahmen der NATO zugestimmt, doch nur der Westen habe davon profitiert. Nach dieser Perzeption bedeutet die Osterweiterung der NATO nun, daß Rußland durch eine Veränderung des strategischen Umfeldes weiter geschwächt wird. Die Rede ist von „sicherheitspolitischen Vakua“ in Ostmitteleuropa, die von „Rußland feindlich gesonnenen Kräften“ gefüllt würden. In den Worten des Stellvertretenden Verteidigungsministers Andreij Kokoschin: „Viele Menschen in Rußland glauben, daß die Pläne zur NATO-Osterweiterung vom Ansporn getrieben werden, dem Feind des Kalten Krieges den letzten Schlag zu versetzen.“ Diese Argumente haben zwei Schwächen. Erstens verkennen sie, daß der eigentliche Antrieb der NATO-Osterweiterung von den ostmitteleuropäischen Staaten ausgeht und zu einem nicht unerheblichen Teil vom Interesse motiviert ist, grundsätzlich in westliche Institutionen eingebunden zu werden. Und zweitens klingt der Rückgriff auf geopolitische Kategorien auf Russisch nicht weniger anachronistisch und hohl, als wenn auf Deutsch oder auf Englisch von den Verfechtern der Erweiterung die „Notwendigkeit des Stabilitätsexportes“ oder die Beseitigung eines „Machtvakuums“ bemüht wird, um die Ausdehnung der NATO nach Osten zu begründen.
Westliche Beschwichtigungen
Die sicherheitspolitischen Bedenken Rußlands gegen die NATO-Osterweiterung sind nicht leicht zu entkräften. Das ist Ausdruck des Dilemmas, das der Ausdehnung der westlichen Militärallianz anhaftet: die Ostmitteleuropäer einzubinden, ohne gleichzeitig russische Interessen zu verletzen. Es scheint, als sei die erst mit der Perestrojka überwundende Spirale der wechselseitig sich hochschaukelnden Bedrohungsperzeptionen bereits wieder in Gang gesetzt. Aus der Entstehungsgeschichte des Ost-West-Konfliktes nach dem Zweiten Weltkrieg ist zu lernen, wie Perzeptionen und Fehlperzeptionen dem Konflikt eine derartige Eigendynamik verschafft haben, daß die wechselseitigen Intentionen und politischen Realitäten in den Hintergrund gedrängt wurden. Diese Gefahr besteht durch die Osterweiterung der NATO aufs neue. Der Aufbau einer gesamteuropäischen Friedensordnung droht zu scheitern, bevor er richtig begonnen hat. Verantwortlich sind wieder wechselseitige Fehlperzeptionen. Je konkretere Formen die NATO-Osterweiterung annimmt, desto unglaubwürdiger klingen in Moskau die kontinuierlichen Beschwichtigungen aus westlichen Regierungskreisen, diese sei nicht gegen Rußland gerichtet. Solange die NATO eine kollektive Verteidigungsallianz ist, muß sie erklären, gegen wen und was sie sich zu verteidigen gedenkt. Doch da selbst unter westlichen Militärs Konsens darüber herrscht, daß auf absehbare Zeit keine erstzunehmende militärische Bedrohung durch Rußland existiert, sind selbst nach den sicherheitspolitischen Kategorien der NATO die Prämissen falsch, auf denen die gesamte Erweiterungsdebatte beruht. Da erstaunt es nicht, daß die mögliche Integration Polens oder der anderen ostmitteleuropäischen Staaten einschließlich der drei baltischen, von denen Litauen bereits einen offiziellen Aufnahmeantrag bei der NATO gestellt hat, in Rußland als eine signifikante Veränderung des militärpolitischen Gleichgewichts der Kräfte wahrgenommen wird, die den eigenen Sicherheitsinteressen zuwiderläuft. Tatsächlich könnten dann in Ostmitteleuropa zusätzliche Truppen stationiert und nukleare Garantien ausgedehnt werden. Dies wäre mehr als eine Annäherung an die Grenzen der GUS, denn das vollzöge sich in unmittelbarer Nachbarschaft der russischen Exklave Kaliningrads. Es erstaunt kaum, daß russische Militärs und die herrschende politische Elite dies als eine bedrohliche militärische Entwicklung wahrnehmen. Als wiederhole sich die Geschichte doch, haben russische Derschawniki bereits die Gegenmaßnahmen parat, die wie Zitate längst überwunden geglaubter Zeiten klingen. Sie drohen mit der Abkehr von der Rüstungskontrolle. Der „Vertrag über die konventionellen Streitkräfte in Europa“ (KSE-Vertrag) steht ebenso zur Disposition, wie es immer unwahrscheinlicher würde, daß der START-II-Vertrag, der die USA und Rußland binden soll, ihre strategischen Atomwaffenpotentiale auf jeweils 3.500 Waffen zu reduzieren, noch von der Duma ratifiert werden wird. Der Russische Generalstab lanciert bereits über die Moskauer Tagespresse, daß die Osterweiterung mit einer Verstärkung der nuklearen Abschreckung auf der Baltischen Flotte und in der Exklave Kalingrad beantwortet würde und Tschechien und Polen Zielgebiete taktischer Nuklearwaffen würden.
Stabilität ist nicht durch die NATO zu erreichen.
Nichts würde den Vertretern der militärisch-autoritären Restauration, die momentan in Moskau versuchen, ihre verlorenen Positionen zurückzugewinnen, mehr in die Hände spielen, als wenn diese Szenarien Realität werden könnten. Die Wiederbelebung des morbiden Militärapparates und des militärisch-industriellen Komplexes wären so garantiert. Die falschen Prämissen in der Debatte um die NATO-Osterweiterung sind das eine. Die fehlende Stringenz in der Argumentation das andere. Denn wer wirklich über „Stabilitätsexport“ nachdenken will, kommt nicht umhin zuzugeben, daß Stabilität in Europa nicht dadurch zu erzielen ist, daß vier oder sechs ostmitteleuropäische Staaten in eine Militärallianz integriert werden, während die Nachbarn außen vorbleiben. Vor allem aber ist eine nachhaltige politische und wirtschaftliche Stabilisierung Ostmitteleuropas nicht durch die NATO zu erreichen. Frieden, Stabilität und Sicherheit in Europa sind nur dadurch abzubauen, daß die Demokratisierung voranschreitet und das Wohlstandsgefälle zwischen West- und Ostmitteleuropa abgebaut wird. Hier ist die Europäische Union gefordert, denn Europa ist größer als die EU, und der Aufbau einer europäischen Friedensordnung ist wichtiger als die Besitzstandswahrung abgeschirmter Agrarmärkte und die Funktionsfähigkeit von Strukturfonds.
1 Derschawniki sind Menschen, die den militärisch und polizeilich nach außen und innen hoch gerüsteten „starken Staat“ in einer paternalistischen Ausprägung anstreben.
Anmerkung der Red.: Am 07.05.1996 hält Prof. Dr. Alexander A. Sergounin (Universität Nishnij Nowgorod) einen Vortrag: „Die Wahrnehmung der Nato in Rußland: Altlast kommunistischer Propaganda oder Folge aktueller Politik“. Die Veranstaltung findet im Rahmen einer Tagung in der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften in Berlin-Mitte, Jägerstr. 22-23 um 9.00Uhr statt. Die Anmeldung kann über das Berliner Informationszentrum für transatlantische Sicherheit, Tel.: 030 / 4410218, Fax 030 / 4410221 erfolgen.
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