So wie die SED gegenüber den protestantischen Christen in der DDR religionspolitisch zwischen Kooperation und Konfrontation alternierte, so manövrierte die evangelische Amtskirche zwischen Selbstbehauptung und opportunistischer Anpassung. Wie sieht in diesem Lichte der Befund einer Christenverfolgung in der DDR tatsächlich aus? Der folgende Essay untersucht diese Problematik auch mit Blick auf Repressionserfahrungen deutscher Protestanten im 20. Jahrhundert.
Von Karsten Krampitz
Der unvergessene Peter Ensikat fragte einst: „Hat es die DDR überhaupt gegeben?“ – Gegenfrage: Ja, welche denn? Für die einen war die SED-Diktatur der Unrechtsstaat schlechthin; ein Homunculus sovieticus oder wenigstens ein autoritärer Fürsorgestaat. Andere meinen sich an die „größte Errungenschaft der deutschen Arbeiterbewegung“ zu erinnern, die für den Frieden stand und Arbeiterkindern soziale Aufstiegschancen bot. Hinter vorgehaltener Hand meinen aber selbst solche: „Gewiss, es war nicht alles gut.“
Die Deutungshoheit zur DDR-Geschichte verspricht einen ordentlichen Stellungsvorteil im Ringen um die kulturelle Hegemonie. Von daher geht es in der Debatte nie allein um die Vergangenheit. So auch in der seit einiger Zeit aufgeworfenen Frage nach der „Christenverfolgung in der DDR“. Von einer solchen spricht Christian Dietrich, bis vor kurzem noch der Landesbeauftragte zur Aufarbeitung der SED-Diktatur im Freistaat Thüringen. Dietrich beklagt die zu geringe Beachtung des Themas durch die rot-rot-grüne Landesregierung. Der frühere evangelische Pfarrer wurde im Lutherjahr nicht müde, diesen Begriff in den politischen Diskurs einzuführen. Auf seiner Internetseite schrieb Dietrich, dass die „Gottlosigkeit“ der kommunistischen Herrschaft bis heute kein Thema für die Nachfolgepartei der SED wäre.„Eine Partei, die Religionsverfolgung zum Kern ihrer Identität gemacht hatte (Christen konnten nicht Mitglied der Partei sein) und mit dieser Tradition nicht offensiv bricht, ist eine Gefährdung für unsere Demokratie.“ Dass es sogar Pfarrer in der SED gegeben hat, sei nur am Rand bemerkt. Offenbar sind dem Ex-Landesbeauftragten ein wenig die Nuancen abhandengekommen. Denn ausgerechnet die Thüringer Kirche erfreute sich immer bester Beziehungen zur Obrigkeit …
Thüringen war das Stammland der „Deutsche Christen“ – jener Glaubensbewegung, die als „SA Jesu Christi“ und Antipode zur Bekennenden Kirche einen arischen Jesus proklamiert und „Rassenreinheit“ als Bedingung für die Kirchenmitgliedschaft gefordert hatte. In der Zusammenbruchsgesellschaft der Nachkriegszeit erklärten die Thüringer Kirchenoberen beizeiten ihre Loyalität zu den neuen Machthabern. So war denn auch die mangelhafte Entnazifizierung resp. Selbstreinigung in der Thüringer Kirche für die SED-Propaganda nie ein Thema. Ein Walter Grundmann, ehedem akademischer Direktor des Eisenacher Instituts zur „Entjudung“ von Kirche und Theologie, konnte Mitte der Fünfzigerjahre beinahe problemlos zum Leiter des Katechetischen Seminars aufsteigen. Will heißen: Im Thüringer Protestantismus zeigte sich während der SED-Diktatur ein ausgewiesener Klerikalfaschist an zentraler Stelle für die Bildungsarbeit verantwortlich. Ein Mann, der sich nicht zu schade war, über viele Jahre hinweg Kircheninterna an das Ministerium für Staatssicherheit weiterzugeben. Die Nazis aber waren immer die anderen. Als am 17. Juni 1953 die Arbeiter gegen die SED protestierten, war es Thüringens Bischof Moritz Mitzenheim, der von einer „faschistischen Provokation“ sprach. – Kurzum: Pfarrer Dietrich hat auf diesem Gebiet in der Tat noch einiges „aufzuarbeiten“. Im sowjetischen Machtbereich war die SED die einzige kommunistische Partei, die es bei ihrem Machtantritt mit einer evangelischen Mehrheitskirche zu tun bekam. Von daher ist die Geschichte der DDR ohne die widersprüchliche Geschichte des deutschen Protestantismus nicht wirklich zu verstehen; auch und erst recht in Thüringen.
Die Formel von der „Kirche im Sozialismus“ ist hier entstanden; im Jahr 1968 hatte der greise Bischof Mitzenheim erstmals davon geredet, als in der DDR eine neue Verfassung in Kraft trat, die die Rechte der Kirche nicht mehr festschrieb, was die vorherige noch getan hatte. Im selben Jahr als die Niederschlagung des Prager Frühlings erfolgte und Ulbricht in Leipzig die Universitätskirche sprengen ließ. Die SED verlieh dem Bischof den Vaterländischen Verdienstorden und den Orden Stern der Völkerfreundschaft. Erst 1970 ging Mitzenheim in den Ruhestand. Sein Nachfolger, der 1933 in die NSDAP und in die SA eingetretene Ingo Braecklein, dessen IM-Akten mehr als 3.000 Seiten ergeben, erhielt von der Stasi schon mal als Dankeschön ein teures Teeservice aus Meißner Porzellan oder eine Brecht-Ausgabe.
Braeckleins Nachfolger im Bischofsamt, Werner Leich, wurde später sogar zum Vorsitzenden des DDR-Kirchenbundes gewählt. Als solcher erklärte er 1986 gegenüber einem Journalisten der Hamburger Wochenzeitung Zeit: „Die Kirche ist als Gesprächspartner akzeptiert, und der Staat kann sich darauf verlassen, dass die Kirche nicht in die Opposition geht.“ Auf die Frage nach der Friedensbewegung sagte der damals ranghöchste DDR-Bischof: „Es gibt keine organisierten Friedensgruppen. Die jungen Menschen arbeiten mit in der Jungen Gemeinde.“
Doch im Ernst: In keinem anderen Land des sowjetischen Machtgefüges – mit Ausnahme Polens – hatte die Kirche einen solchen gesellschaftlichen Einfluss gehabt. Wolfgang Rüddenklau, Anarchist, Pastorensohn, zentrale Figur der Umweltbibliothek in der Ostberliner Zionskirchgemeinde und Mitbegründer des telegraphs, erinnerte sich vor einiger Zeit: „Es gab in den 1980er Jahren zunehmend Freiräume, die unter anderem daher kamen, dass die evangelische Kirche mit der SED einen Vertrag gemacht hat, der innerkirchliche Druckerlaubnis, Veranstaltungsfreiheit und dergleichen sicherte – sozusagen die einzige unabhängige Institution innerhalb dieses Staates und selbst für Ostblockverhältnisse eigentlich einmalig.“
Dass ausgerechnet Honecker für eine solche Übereinkunft mit der Kirche sorgte, wunderte schon damals: War doch unter seiner Federführung als FDJ-Chef in den Jahren 1952/53 der systematische Kampf gegen die evangelische Jugend- und Studentenarbeit geführt worden. 3.000 christliche Schüler und 2.000 Studenten waren relegiert worden, hatten ihren Schul- oder Studienplatz verloren. Etwa siebzig Theologen und Jugendleiter waren verhaftet worden. Zu Schauprozessen war es gekommen. Doch Anfang Juni 1953 waren Grotewohl und Ulbricht nach Moskau zitiert worden, wo sie zum Kurswechsel verpflichtet wurden, sodass die DDR-Regierung die meisten antikirchlichen Maßnahmen noch vor dem 17. Juni zurücknahm.
Wie sahen das die Christen damals? Kirche sein in der DDR bedeute, „unsere Situation anzunehmen und dabei frei zu bleiben“, so der Magdeburger Bischof Werner Krusche im Jahr 1977. Krusche betonte, die evangelische Kirche in seinem Land sei keine verfolgte Kirche, nur eben eine Kirche, deren Handlungsspielraum eingeschränkt ist. Eben dieser Spielraum sei aber immer noch groß genug, „dass wir alle Mühe haben, ihn einigermaßen auszufüllen“. Diese Aussage war keiner tagespolitischen Haltung entsprungen. Es handelte sich um eine theologische Position, mit der sich Krusche über viele Jahre hinweg als führender Theologe in der DDR profiliert hatte. Krusche hat das Wort „Christenverfolgung“ nie benutzt. Auch in den Kirchengemeinden wurde davon nie geredet.
Tatsächlich hat sich die SED an alle kirchenpolitischen Absprachen gehalten, hat nie versucht, die Kirche von unten aufzurollen wie ehedem die Nazis. Zudem hat die DDR bis zum Schluss Staatsleistungen an die Kirche gezahlt (1989: 18 Millionen DDR-Mark). Albrecht Schönherr, Rainer Eppelmann, Friedrich Schorlemmer usw., sie alle standen damit de facto auf der Gehaltsliste des SED-Staats. Warum das? Eine Diktatur subventioniert die Opposition? – Vielleicht war aber auch die tatsächliche Geschichte von Staat und Kirche in der DDR ein wenig komplizierter und widersprüchlicher als es uns heute die staatliche Erinnerungspolitik weismachen will. Keine Frage: Christen wurden benachteiligt, vor allem in ihren Bildungs- und beruflichen Aufstiegschancen, aber sie wurden eben nicht verfolgt.
Die jahrzehntelange Auseinandersetzung zwischen SED und Kirche war nicht nur machtpolitisch bedingt. Sie ergab sich zwangsläufig aus der Fixierung der SED auf die Religionsfrage. Auf diesem Gebiet verfolgte die Partei zwei unterschiedliche Politikstrategien: Kooperation und Konfrontation.
Der SED-Staat betrieb eine Politik, die zum einen das Ziel hatte, die Kirche in der Gesellschaft zurückzudrängen und als politischen Risikofaktor unter Kontrolle zu bringen. Parallel dazu aber verfolgten Partei, Staatssicherheit, Räte der Bezirke etc. den Versuch einer Bündnispolitik wie bei den Blockparteien. Die Mitglieder der Kirche sollten zur aktiven Mitarbeit in der sozialistischen Gesellschaft gewonnen werden. Dieses Dilemma – Kampf gegen den Glauben bei gleichzeitiger Werbung um die Glaubenden – hat die Kirchenpolitik der SED gekennzeichnet.
Die Partei proklamierte für sich selbst den absoluten Wahrheitsanspruch, der mit dem Anspruch der Religion, auf die letzten Fragen des Menschen Antwort geben zu können, konkurrierte. Bemerkenswert daran ist, dass die SED-Ideologie quasi selbst religiöse Züge trug. Versteht man unter Säkularisierung die Befreiung der Gesellschaft von der Religion, so hat es eine solche in der DDR quasi nicht gegeben.
Tatsächlich hat es hierzulande im 20. Jahrhundert eine Christenverfolgung gegeben – nur nicht in der DDR: Die evangelische Gemeinde, die sich im Ghetto Theresienstadt im Untergrund zusammengefunden hatte, umfasste zeitweilig bis zu 3.000 Protestanten jüdischer Herkunft. Die Rassegesetze der Nazis hatten sie zu „Nichtariern“ erklärt. „Wir waren Menschen, die aus ihrem Leben gerissen waren, in Hunger und Elend gestoßen“, schrieb der Gründer der Gemeinde, Arthur Goldstein, 1945 nach seiner Befreiung. „Wir waren Deutsche, wir hatten ein Vaterland gehabt. Aber unser Vaterland hatte uns ausgestoßen, uns fried- und rechtlos, ‚vogelfrei‘ gemacht. Das Vaterland war zum Feinde, zur ‚Ferne‘ geworden.“
Die Gruppe derer, die selbst oder deren Vorfahren vom Judentum zum Christentum konvertiert waren, die als Ehepartner mit Menschen jüdischer Herkunft verbunden waren, belief sich in Deutschland im Jahr 1933 auf rund 400.000 Personen. Die gesellschaftliche Ächtung dieser Menschen ging mit einer heute schwer fassbaren sozialen Verelendung einher. Wie viele „nichtarische“ Christen in den Vernichtungslagern umgekommen sind, kann heute nicht gesagt werden. Fest steht, dass diese Menschen für die Nazis gar nicht ermittelbar gewesen wären, ohne die Hilfe der Kirchen, die den Nazis allerorten – auch in Thüringen – Einblick in die Kirchenbücher gewährten. Die richtige „Rasse“ galt mehr als das Taufsakrament. Der Historiker Manfred Gailus spricht in diesem Kontext von einer „Christenverfolgung in der Kirche“.
Karsten Krampitz ist Schriftsteller und Historiker. 2015 wurde er an der HU Berlin mit einer Arbeit zum Verhältnis von Staat und Kirche in der DDR promoviert. Letzte Buchveröffentlichung: „Jedermann sei untertan“. Deutscher Protestantismus im 20. Jahrhundert – Irrwege und Umwege. Alibri Verlag Aschaffenburg, 2017.