Editorial

DEN PESSIMISMUS ORGANISIEREN!

Wer sich umsieht, dem wird mulmig. Die gute Stimmung ist verflogen. Das „Ende der Geschichte“ liegt lange zurück. Selbst die standhaftesten Apologeten von Fukuyamas These des Verschwindens der weltpolitischen Widersprüche nach dem Zusammenbruch des „Realsozialismus“ anerkennen inzwischen die zentrifugalen Kräfte des obsiegenden Weltkapitalismus. Die Geschichte fängt gerade erst richtig an. Der real existierende Kapitalismus zeigt, was in ihm steckt: Im globalisierten Kapitalismus kämpfen Supermächte und „Globalplayer“ vermehrt gegeneinander um Extravorteile. Die „nationale Karte“ erlebt inmitten anhaltender Globalisierung eine beträchtliche Aufwertung. In der Neuaufteilung und Verteidigung von Einflusssphären ist militärische Gewalt als deren Mittel längst rehabilitiert. An den Peripherien toben nicht allein Stellvertreterkriege, sondern die Schwergewichte engagieren sich militärisch inzwischen auch direkt selbst nach Maßgabe ihrer machtpolitischen Interessen. Solchen Interessen folgen auch ihre häufig scheiternden Regime-Change-Strategien, der internationale Waffenhandel und die Handelspolitik. Die Folgen eskalieren: Millionen Menschen werden durch Kriege zur Flucht gezwungen, Hunger- und Elendsregionen, „gescheiterte Staaten“ und allgemeine politische Instabilitäten bekommen mehr und mehr den Status eines „Normalzustands“.
Der Trend geht in Richtung sich beschleunigender Aufrüstung und Modernisierung auch des Nuklearpotentials bei Aushöhlung der Begrenzungsverträge aus den 70er und 80er Jahren des letzten Jahrhunderts. Jetzt zeichnen sich sogar Handelskriege der Weltwirtschaftszentren ab. In der EU verschärft sich mit dem „Brexit“ und der osteuropäischen Obstruktion die Krise. Die Wirtschaftsmacht China erscheint als Schreckgespenst am Horizont. Der Konflikt des Westens mit Russland trägt mittlerweile Züge des Kalten Krieges.
Das Wissen um die zeitgenössische Anatomie des real existierenden Kapitalismus schärft den Blick auf die ungeheuren Destruktivkräfte, welche in ihm stecken. Das Schlimme: Auch angesichts der ungeheuerlichsten Obszönitäten und grausamsten Zerstörungen werden die Menschen immer erfolgreicher daran gewöhnt, dies als unabänderliche Gegebenheiten hinzunehmen. Es gäbe schließlich nichts Besseres und die Aufgabe des Tages sei die Verbesserung des Unvollkommenen. Eine Kritik der systemischen Invarianten des Kapitalismus ist außer Mode. Wer dies trotzdem tut, landet sofort in der Schublade der Apologeten des „Kommunismus“. Und den habe man ja erlebt. Diese monströse Phantasielosigkeit ist nicht allein Ausdruck intellektueller Armut, sondern die antrainierte Abwehr des Denkens und Handelns in Alternativen zu Kapitalismus und Stalinismus: Es ist in Beton gegossene Ideologie einer sich als ideologiefrei gerierenden „sozialen Marktwirtschaft“, in der immer mehr Menschen der Spaß vergeht.
Auf welche Weise in den Staaten des entwickelten Kapitalismus mit den auf sie zurückwirkenden Folgen ihrer Politik umgegangen wird, zeigt schon der Blick auf Europa: Völkisch-nationalistische Strömungen erleben überall eine Renaissance, begleitet vom Aufwind rechtsradikaler und neofaschistischer Formationen. Dies alles geschieht vor dem Hintergrund des Anwachsens der Armut selbst in den reichen Wirtschaftszonen und einer zunehmenden Kluft zwischen Arm und Reich auch in konjunktureller Prosperitätsphase. Der öffentliche Sektor verwahrlost weiter, der „soziale Frieden“ beginnt brüchig zu werden und mit der Unzufriedenheit wächst die Fremdenfeindlichkeit und der Rassismus.
Die internationale Klammer des Kampfes gegen den islamistischen Terror degenerierte in Deutschland zu einer Konjunktur antiislamischer Stimmungen auf dem Fundament einer Mischung völkischer, christlich-religiöser und populistischer Agitation. Durch Pegida wurde eine Entwicklung in der BRD forciert, die auch zu Veränderungen in der Ausrichtung der AfD führte. Nun gibt es auch den Bürgerprotest gegen die „illegale Masseneinwanderung“ und den Ruf zur Wiederherstellung des deutschen Rechtsstaats, um sie zu beenden. Man darf zu Recht vermuten, dass die Initiatoren der „Erklärung 2018“ nicht allein der „illegalen“ Masseneinwanderung entgegentreten wollen, selbst wenn sie erklären, das Asylrecht nicht antasten zu mögen. Letztendlich geht es doch gegen dieses und sowieso gegen die „Armutsflüchtlinge“. Die von ihnen geschmähte Bundesregierung bemüht sich selbst nach Kräften, auch die schutzbedürftigen Kriegsflüchtlinge mit türkischer und anderer Hilfe von Deutschland fernzuhalten und applaudiert vermutlich klammheimlich den brutalen Methoden insbesondere des chauvinistischen Ungarn im Vollzug der Schließung der „Balkanroute“. Noch ließe sich sagen: Solange nur einige Intellektuelle mit ihrem sicheren Instinkt für vermeintliche Bedrohungen ihrer Besitzstände unter dem Label der Verteidigung des deutschen Rechtsstaats auf Flüchtlinge losgehen und sich mit solchen Erklärungen ihrer selbst vergewissern, könnte man das als Teil des „Normalzustands“ gelassen zur Kenntnis nehmen. Doch die weit über hunderttausend Unterstützer dieser Erklärung zeigen, dass der Protest aus allen Bevölkerungsschichten kommt und ernst zu nehmen ist. Selbst wenn man unterstellt, dass immer noch die Bevölkerungsmehrheit diesen Furor gegen die Ärmsten und Schwächsten der Armen und Verfolgten nicht teilt, so äußert dies eine immer mehr abnehmende Minderheit dieser Mehrheit auch öffentlich. So die Initiatoren der „Antwort 2018“ im Berliner Schriftstellerverband, die mit dem Satz „Die Menschenrechte enden an keiner Grenze dieser Welt“ jener „Erklärung 2018“ entgegentreten. Deren Unterstützer sind weit weniger vernehmbar und dürften trotz ihrer auch schon veritablen Zahl weit weniger „populär“ herauskommen, als die Grenzschützer um Lengsfeld, Sarrazin und die „Junge Freiheit“.
Das alles lässt nichts Gutes ahnen. Umso mehr ist zu bedauern, dass öffentlich geäußerte Kritiken, kritische Diskussionsbeiträge, oder Versuche, eine kritische Selbstreflexion anzuregen, in linken, linksradikalen, anarchistischen und postautonomen Zusammenhängen längst nicht mehr gefragt sind. Die, die es denoch tun, werden häufig entweder konsequent ignoriert oder als Nestbeschmutzer angegriffen. Dringend wichtige Auseinandersetzungen werden so behindert.

Doch was hört man aus Frankreich? „Alle Gründe für eine Revolution sind da. Doch es sind nicht die Gründe, die eine Revolution machen, sondern die Körper. Und die Körper sitzen vor den Bildschirmen.“1
So beginnt ein Manifest des Unsichtbaren Komitees. Doch ist es wirklich so? Wird hier nicht eher das in der Linken verbreitete Bild einer manipulierten Mehrheitsbevölkerung, die mit „Brot und Spiele“ im Zaum gehalten wird, aufgewärmt. In Ansätzen mag es stimmen, aber es geht am Kern vorbei.
Erleben wir zurzeit nicht eher eine „Schnauze voll – Mentalität“, nur in eine Richtung wie wir sie nicht wollen: antiemanzipatorisch, rückwärtsgewandt.
Das Unsichtbare Komitee führt weiter aus: „Die kapitalistische Herrschaft hat die Welt derart verheert, dass ihr Weiterbestehen jede Zukunft mit Sicherheit zerstört. Die Welt hat sich fragmentiert, ist von Brüchen durchzogen. Es gibt keine Einheit mehr – keine nationale, keine der Arbeit, des Rechts, der Ökonomie oder des Ichs – und alle Versuche, eine solche gewaltsam wiederherzustellen, wie es Donald Trump, der Front National oder die AfD mit ihrem Programm der nationalen Identität versprechen, sind dazu verurteilt, das Gegenteil hervorzubringen: eine umso tiefere, irreparable Spaltung der Gesellschaft. …“2

Doch ist die Spaltung nicht längst vollzogen? In Österreich, Niederlande, Frankreich, Belgien, Polen, Ungarn, Slowakei, USA, Dänemark, Schweden, Deutschland – überall ist die Rechte erstarkt und sitzt teilweise in den Regierungen. Überall wird die Spaltung der Gesellschaft tiefer. Die kapitalistischen Staaten schlittern in die Krise. Umringt von den von ihnen vom Zaun gebrochenen Krisenherden. Immer mehr ihrer Bewohner wenden sich von den etablierten Parteien ab, denen sie Jahrzehnte vertrauten und sich nun nicht mehr von ihnen vertreten fühlen. Es scheint als ginge das Modell eines westlichen Parlamentarismus langsam dem Ende entgegen. Die Parteien repräsentieren nur noch einen Teil der Bevölkerung. Eigentlich das, was wir uns immer wünschten. Aber es geht in die falsche Richtung. Und die linken Parteien? Sie üben keine radikale Kritik mehr an den kapitalistischen Verhältnissen, sondern halten sich als Koalitionspartner für bürgerliche Parteien zur Verfügung. Dort wo sie an Regierungen beteiligt sind, gibt es keine sichtbare Veränderung, die an der Basis ankommt. Mit Klein-Klein ist heute kein sozialistischer Blumentopf mehr zu gewinnen. Die linken Parteien und die mit ihnen sympathisierenden Bewegungslinken verkörpern die Mentalität, im Parlament zu arbeiten ist besser als gar nichts, und gar die realitätsfernen Träume, in einer Regierung etwas bewirken zu können ohne die Verhältnisse zu ändern. Nachvollziehbarer die Intentionen lokaler Aktivisten. Andrej Holm erzählt in seinem aktuellen Buch „Kommen. Gehen. Bleiben.“ ausführlich davon. „Demokratisierung, Mitgestaltung oder sogar Selbstverwaltung von gesellschaftlichen Segmenten ist im Moment aus meiner Sicht in lokalpolitischen Auseinandersetzungen am wahrscheinlichsten und am realistischsten zu erreichen.“3 Die Neue Rechte ist in dieser Zeit der Krise so erfolgreich, weil die Linke ihnen teilweise ihre besten Themen überlässt (Medienkritik, Religionskritik, Globalisierungskritik, Frieden, Völkerverständigung, Arbeiterfreundlichkeit …). Die Rechte pervertiert sie, lenkt sie auf ihre nationale Agitation um und bemüht sich, weitestgehend alte „Fehler“ (Antisemitismus) zu vermeiden. Damit bindet sie erfolgreich, vom Kleinbürger bis zum Faschisten, immer größere Teile der Bevölkerung.
Gab es da nicht mal jemanden, der wusste was zu tun ist! Marx sein Name, Karl Marx. Wir feiern in diesem Jahr seinen 200. Geburtstag. Was bleibt. Was ist. Was wird?
Marx sprach vom „Kampf zwischen dem Gesamt-Kapitalisten, d. h. der Klasse der Kapitalisten, und dem Gesamt-Arbeiter oder der Arbeiterklasse…“. In den westlichen Industrieländern können ca. 10% der Beschäftigten als klassisches Industrieproletariat wie zu Marxschen Zeiten bezeichnet werden. Viele der Lohnabhängigen bezeichnen sich nicht mehr so. Ein Bewusstsein ist im Moment nicht vorhanden, ein Bewusstsein davon, dass es im Sinne eines modernen Klassenbegriffs egal ist ob Reinigungskraft, Gerüstbauer, Lagerarbeiter oder Kulturarbeiter, prekäre Selbstständige, Pflegepersonal – sie verbindet mehr als sie trennt.
Und erst recht fehlt das Bewusstsein, dass die Arbeiterklasse, die „unsere“ Produkte produzieren, in Südosteuropa, Asien und Afrika leben und arbeiten. Mit der Ausgliederung der Arbeit sparen die Konzerne nicht nur eine Unmenge an Lohnkosten, sondern es wurden damit auch Arbeitskämpfe vermieden; der Hauch dieser, der blieb, ist ein Witz.
Schon Karl Marx setzte auf die Internationale. Doch davon sind wir weiter entfernt als je.

Was findet sich diesmal im telegraph?

Besonders freuen wir uns darüber Jörg Kronauer als telegraph-Autor begrüßen zu dürfen. In seinem Beitrag beschreibt er, wie die deutschen Netzwerke nach Ost- und Südosteuropa wohl nicht zufällig ein deutliches Erstarken ultrarechter, teilweise faschistischer, Strukturen mit sich gebracht haben.
Zur Krise der zeitgenössischen linken Strömungen und zum Niedergang der Autonomen Bewegung äußern sich Marek Winter und Peter Nowak.
Thomas Klein unternimmt den gewagten Versuch, eine Rekonstruktion linker Streitdiskurse um den Konflikt Israel-Palästina vorzunehmen.
Hauke Benner entwirft sein Bild von der Oktoberrevolution 1917 und Wladislaw Hedeler informiert über den geschichtspolitischen Umgang mit diesem Jahrhundertereignis und seinen Folgen im zeitgenössischen Russland. Im Herbst 2016 saßen mehrere DDR-Antifa-AktivistInnen aus den 1980er/1990er Jahren zusammen und sprachen über aufgezwungene Selbstverteidigung und subjektives Militanzverständniss in Zeiten des Umbruchs. Christin Jänicke und Benjamin Paul-Siewert, als die Herausgeber*Innen des Buches „30 Jahre Antifa in Ostdeutschland“ veröffentlichen dieses Gespräch, leicht gekürzt und exklusiv, im telegraph. Die Rezension zum Buch kommt von unserem ehemaligen telegraph-Redakteur Michael Wuttke. Ergänzend zum Schwerpunkt Spanischer Krieg 1936-1939 (im telegraph Extra 2017) gibt es zwei Beiträge von Gerhard Hanloser und Hans Scherner. Streiflichter zur vietnamesisch-deutschen Beziehungsgeschichte vor dem Hintergrund von Teilung und (Wieder)vereinigung beider Länder vermittelt Angelika Nguyen und und Dan Thy Nguyen. Eine zornige Wortmeldung zur These von der „Christenverfolgung in der DDR“ kommt von Karsten Krampitz.

Leider mussten wir den Verkaufspreis des telegraphs geringfügig anheben. Eine Doppelnummer kostet jetzt 10,- Euro und eine Einfachnummer 5,- Euro.

1 Unsichtbares Komitee: „Jetzt“, Nautilus-Verlag, 2017.
2 Ebenda.
3 Andrej Holm im Gespräch mit Samuel Stuhlpfarrer: „Kommen. Gehen. Bleiben.“, mandelbaum verlag, 2017.